Karl Barth
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KURZE ERKLÄRUNG
DES RÖMERBRIEFES
Zweite, unveränderte Auflage
CHR. KAISER VERLAG MÜNCHEN
19 5 9
©
1956 Chr. Kaiser Verlag München
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdruckes, der photo¬
mechanischen Wiedergabe und der Übersetzung Vorbehalten. Printed
in Germany Umschlag und Einband von Rudolf Nieß.
Satz und Druck : Buchdruckerei Albert Sighart, Fürstenfeldbruck.
VORWORT
Diese „Kurze Erklärung des Römerbriefs“ ist ein klei¬
nerer und jüngerer (unterdessen freilich auch schon älter
gewordener) Bruder des „Römerbriefs“ von 1918 und
1921. Sie ist entstanden als Manuskript zu einer im
Winter 1940/41 in Basel gehaltenen Volkshochschul- Vor¬
lesung. Man wird ihr die eigentümliche Spannung, in der
auch wir hier in jenen Jahren gelebt haben, kaum an¬
merken. Das in seiner Art immerhin Einmalige mag er¬
wähnt sein, daß ich einige dieser Vorlesungen (ich meine,
es waren die über Röm. 8) in der etwas verwitterten Uni¬
form eines Mannes vom „Bewaffneten Hilfsdienst“ ge¬
halten habe. Im übrigen war ich, wie einst 1933 in Bonn,
ziemlich entschlossen, nun erst recht bei der Stange zu
bleiben: „als wäre nichts geschehen“. Das Manuskript
existierte seither in verschiedenen Vervielfältigungen. Dem
Ansinnen, es in Druck zu geben, habe ich bis jetzt wider¬
standen, bis der Ruf danach so dringlich an mich kam,
daß ich meine Bedenken zurückstellte. Hier ist also das
Gewünschte.
Es ist wirklich eine kurze Erklärung des Römerbriefs.
Die Notwendigkeit von Ergänzungen aus anderen Kom¬
mentaren wird sich dem Leser an vielen Stellen aufdrän¬
gen. Wer Ausführlicheres zum Römerbrief von mir lesen
möchte, wird entweder nach wie vor zu jenem älteren
Buch oder aber zu meinen späteren Schriften, besonders
zur „Kirchlichen Dogmatik“ greifen müssen. Es ist ja
selbstverständlich, daß dieser Text auch sonst in mir
weiter gearbeitet hat. Man findet in den Fußnoten wenig¬
stens bei einigen größeren Abschnitten Verweise auf meine
anderweitig fortgesetzten Versuche, ihm besser gerecht zu
werden, wobei man Manches von dem hier Vorgebrachten
auch schon wieder überholt sehen wird. Am Römerbrief
lernt man eben nicht aus. In diesem Sinn „wartet“ er noch
immer (wie ich es in der Vorrede von 1918 etwas hoch¬
gemut ausgedrückt hatte) — bestimmt auch auf mich!
Uber das Verhältnis dieses Buches zu dem bzw. zu den
beiden älteren wäre in sprachlicher, methodischer und
sachlicher Hinsicht Vieles zu sagen. Daß es sich hier nicht
etwa um einen Auszug aus der Darstellung von damals
handelt, sieht man auf den ersten Blick. Ich nehme an,
daß ich von diesem und jenem Rezensenten Einiges dazu
zu hören bekommen werde. Die Anmerkungen, die ich
selbst dazu machen könnte, sollen ihnen und den anderen
Lesern erspart sein. Meine Absicht war beide Male —
und soll es, wenn ich je wieder etwas zum Römerbrief
sagen sollte, auch in Zukunft bleiben: den Paulus selbst
zur Sprache zu bringen. Um den vorbehaltenden Zusatz:
„So wie ich ihn verstehe“, kommt kein Ausleger hinweg
und so auch ich nicht. Meine Hoffnung war und ist: daß
Paulus stark genug ist, sich auch durch das Medium immer
noch und immer wieder unzureichender Auslegungen hin¬
durch Gehör zu verschaffen.
Noch bleibt hier anzumerken, daß ich die des Griechi¬
schen nicht kundigen Hörer jener Vorlesung damals auf¬
forderte, meinen Ausführungen an Hand einer modernen
Übersetzung (Weizsäcker, Schiatter, Züricher Bibel, Menge)
zu folgen. Mir fehlt leider die Zeit, den Lesern dieses
Buches den Text, so wie ich ihn heute in seinem Zusam¬
menhang ins Deutsche übertragen würde, in einer zugleich
treuen und lesbaren Gestalt vorzulegen. So muß ich auch
sie bitten, bei der Lektüre eine jener anderen Übersetzun¬
gen — allenfalls auch meine eigenen von 1918 und 1921,
die ich hier nicht reproduzieren wollte — neben sich zu
legen.
Basel, im Februar 1956
INHALT
Einführung und Übersicht .
9
1,1—17
Das apostolische Amt und das Evangelium
16
1,18—3, 20
Das Evangelium als Gottes Verurteilung des
Menschen .
27
3, 21—4, 25
Das Evangelium als göttliche Gerechtsprcchung
der Glaubenden .
49
5, 1—21
Das Evangelium als Versöhnung des Menschen
mit Gott .
65
6, 1—23
Das Evangelium als des Menschen Heiligung .
77
7, 1—25
Das Evangelium als des Menschen Befreiung .
89
8, 1—39
Das Evangelium als die Aufrichtung des Ge¬
setzes Gottes .
107
9,1—11,36
Das Evangelium unter den Juden ....
134
12,1—15, 13
Das Evangelium unter den Christen .
180
15, 14—16, 27
Der Apostel und die Gemeinde ....
213
Einführung und Übersicht
Der Römerbrief ist tatsächlich ein Brief, genauer gesagt
ein Sendschreiben an die christliche Gemeinde in Rom, in
griechischer Spradie verfaßt von dem uns aus der
Apostelgeschichte und aus einer Reihe anderer solcher
Sendschreiben bekannten Apostel Paulus. Es bestehen
Gründe, anzunehmen, daß er ihn im Jahre 58 n. Chr.
in Korinth geschrieben oder vielmehr (Kap. 16, 22) einem
gewissen Tertius diktiert hat und daß er von dort durch
die in Kap. 16, 1 erwähnte Gemeindeschwester Phöbe nach
Rom gebracht worden ist. Er stammt also aus einer spä¬
teren Zeit als die beiden Thessalonicherbriefe, als der Ga¬
laterbrief und als die beiden Korintherbriefe, denen er im
Neuen Testament vorangestellt ist, ist dagegen älter als
alle übrigen im Neuen Testament unter dem Namen des
Paulus enthaltenen Schriften.
Wir wissen nicht, von wem, wann und unter welchen
Umständen die christliche Gemeinde in Rom gegründet wor¬
den ist. Nach Kap. 1, 6 ist anzunehmen, daß sie in ihrer
Mehrzahl aus ehemaligen Heiden bestand, von denen übri¬
gens nach der Grußliste im 16. Kapitel nicht wenige ur¬
sprünglich im Osten des römischen Reiches zu Hause wa¬
ren. Aus dem ganzen Inhalt des Briefes ergibt sich, daß
das Alte Testament (ein Neues gab es ja noch nicht!) in
dieser Gemeinde fleißig gelesen wurde und daß dessen
rechte Auslegung für sie ein ernstes Problem bildete. Das
kann mit Fragen Zusammenhängen, die ihr durch die Exi¬
stenz der jüdischen Synagoge in Rom nahegelegt waren,
vielleicht auch mit solchen Fragen, die damals überall, wo
es christliche Gemeinden gab, durch eine gewisse Richtung
9
unter den ehemals jüdischen Christen aufgeworfen waren.
Wenn der Apostel in Kap. 1, 8 von den römischen Christen
sagt, daß ihr Glaube in der ganzen Welt eine bekannte
Sache sei, und wenn er in Vers lOf. so eindringlich sagt,
wie gern er sie längst besucht hätte, so ist das ein Hinweis
auf die Wichtigkeit, die dieser Gemeinde einfach darin zu¬
kam, weil sie in der Reichs- und Welthauptstadt ihren Ort
und damit bereits etwas von jener Schlüsselstellung hatte,
die die Kirche von Rom in den folgenden Jahrhunderten
gewonnen und bis heute behalten hat. Wenn Petrus, wie
die katholische Tradition, unterstützt auch von einigen
protestantischen Forschern, behauptet, später in Rom ge¬
wesen ist und dort hingerichtet wurde, so haben wir es in
unserem Paulusbrief jedenfalls mit einem noch älteren
Dokument der Geschichte der dortigen Kirche zu tun. Es
mag aber auch das notiert sein, daß Paulus in seinen spä¬
teren Briefen, die von Rom selber aus geschrieben sind (z. B.
im Philipperbrief), mindestens sehr zurückhaltend über sei¬
ne dortige christliche Umgebung geschrieben hat und daß
von der Anwesenheit des Petrus in Rom auch da noch
keine Spur wahrzunehmen ist. Eine ziemlich scharfe, aber
nicht näher erklärte Warnung vor Verführern, die das
innere Leben der römischen Gemeinde bedrohten, findet
sich übrigens schon am Ende unseres Briefes (Kap. 16,
17—20).
Wozu hat Paulus diesen Brief geschrieben? Wir erfah¬
ren aus Kap. 15, 25 f., daß er sich auf der Reise von Maze¬
donien und Griechenland nach Jerusalem befindet, um die
im 2. Korintherbrief ausführlich besprochene Kollekte zur
Unterstützung der dortigen Urgemeinde abzuliefern. Indem
er seine Aufgabe im Osten des Reiches für getan hält
(Kap. 15, 19. 23), will er nachher über Rom nach Spanien
reisen, um dort sein Missionswerk fortzusetzen. Paulus
war dem Ruf nach ein wohlbekannter Mann in der ganzen
damaligen Christenheit, aber, wie er selbst (2. Kor. 6, 8)
10
einmal geschrieben hat: „unter Ehre und Schande, durch
gute Gerüchte und böse Gerüchte<c. Er hatte viele Gegner,
nicht nur unter Juden und Heiden, sondern auch in der
christlichen Gemeinde selber. Er war mit dem, was er sagte,
und wohl besonders auch in der Art, wie er es sagte, bzw.
schrieb oder diktierte, nicht nur nicht leicht zu haben,
sondern für manche gute und weniger gute Christen ein
richtiger Anstoß. Und er hat auch zweifellos mit vollem
Bewußtsein überall da selbst angegriffen, wo er es — und
das war nicht selten — für nötig hielt. Um was und wie er
sich wehren mußte, sehen wir z. B. gewaltig im Galater¬
brief. Und wie man umgekehrt ihn kritisierte, wenn es ganz
freundlich geschah, kann man in 2. Petr. 3, 15 f. vielleicht
etwas lächelnd, nachlesen. Indem nun dieser viel bestrittene
und streitende Mann nach Rom zu reisen beabsichtigte,
hielt er es für nötig und richtig, sich den dortigen Christen
bekannt zu machen. Sie sollen durch ihn selbst erfahren
— nicht, wer und wie er persönlich ist, wohl aber, was
sein Amt und seine Botschaft ist. Sie sollen ihn kennen
lernen in seiner Darstellung des Evangeliums in der be¬
stimmten Zuspitzung auf die sie selbst — und nicht nur
sie — damals offenbar bewegende Frage der rechten Aus¬
legung des Alten Testamentes. Es war das große Thema
auch seines eigenen Lebens: des Lebens des Mannes, der
jüdischer Schriftgelehrter gewesen und christlicher Missio¬
nar geworden war — das Thema, um das auch die Kämpfe
kreisten, die er in der Kirche erregte und zu bestehen
hatte — insofern zweifellos gerade das redite Thema, um
sich selbst, und nun doch nicht sich selbst, sondern seine
Sache solchen bekannt zu machen, die ihn bis dahin nur
von weitem und auf Grund der über ihn umlaufenden
Berichte und Gerüchte kannten. Seine Erwartung beim
Schreiben dieses Briefes ist offenbar die, daß eine ausführ¬
liche Äußerung zu diesem Thema seine beste Einführung
bei der römischen Gemeinde sein werde: die Einführung,
11
die er zur Verwirklichung seiner weiteren Absichten im
Westen des Reiches nötig hatte. Wir wissen nicht, inwiefern
seine Erwartung in Erfüllung gegangen ist. Paulus ist ja
dann ganz anders als vorgesehen nach Rom gekommen,
nämlich als Gefangener. Aber jene Absicht war der Anlaß
des Römerbriefes.
Und damit ist nun auch schon das Entscheidende gesagt
über seinen Inhalt. Man hat ihn oft mit einem Katechis¬
mus oder gar mit einer Dogmatik verglichen, und er ist
denn auch tatsächlich von dem ersten Dogmatiker der
evangelischen Kirche, Ph. Melanchthon, als Leitfaden für
ein solches Werk benützt worden. Das Richtige an diesem
Eindruck besteht darin, daß der Römerbrief tatsächlich
mehr als alle anderen Schriften des Neuen Testamentes
Lehre enthält, zusammenhängende Darstellung des christ¬
lichen Glaubens entwickelt. Man muß aber beachten, daß er
von einem Katechismus oder von einer Dogmatik dadurch
unterschieden ist, daß er jenes (wenn auch — besonders am
Ende des Briefes — nicht absolut festgehaltene, aber im
Ganzen doch sehr bestimmt hervortretende) besondere Ziel
hat, das Luther in seiner Vorrede zu diesem Brief mit
großer Treffsicherheit so angegeben hat: „Darum es auch
scheinet, als habe S. Paulus in dieser Epistel wollen einmal
in der Kürze verfassen die ganze christliche und evangeli¬
sche Lehre und einen Eingang bereiten in das ganze Alte
Testament. Denn ohne Zweifel, wer diese Epistel wohl im
Herzen hat, der hat des Alten Testamentes Licht und Kraft
bei sich; darum lasse sie ein jeglicher Christ ihm gemein
und stetig in Übung sein.“ Dieses Ziel bringt es nun aber
mit sich, daß die Entfaltung der christlichen Lehre, zu der
es in unserem Brief allerdings kommt, jene äußere Voll¬
ständigkeit doch nicht hat, die einem Katechismus oder
einer Dogmatik eigentümlich sein müßten. Aber wie dem
auch sei, der Inhalt des Römerbriefes ist, in kürzesten
Zügen Umrissen, der folgende: Paulus erklärt sich in der
12
Einleitung Kap. 1, 1 — 17 über sein Amt und über das von
ihm verkündigte Evangelium als solches: Es handelt sich
im Evangelium, das schon im Alten Testament verkündigt
ist und das darum (Kap. 1,16) zunächst die Juden angeht,
um den als Nachkommen Davids geborenen, von den Toten
auferstandenen Gottessohn Jesus Christus. Dieser selbst
hat ihn, den Paulus, als seinen Boten an alle Heidenvölker
ausgesendet. So kommt es dazu, daß auch die ehemaligen
Heiden in Rom im Bereich seines Auftrags sind. Die Ein¬
leitung endigt mit der Feststellung, daß im Evangelium
die Eröffnung des göttlichen Gerichtsurteils über die ganze
Welt stattfindet, daß aber eben in dem Glauben, der dieses
Gerichtsurteil annimmt und es sich gefallen läßt, auch
jedes Menschen Errettung und Leben besteht. Kap. 1, 18
bis 3, 20 bilden einen weiteren deutlichen Zusammenhang.
Immer in Erinnerung an das, was schon das Alte Testament
bezeugt hat, wird aufgewiesen, daß im Evangelium, in der
Botschaft von Jesus Christus also, tatsächlich ein göttliches
Gerichtsurteil, und zwar ein negatives Gerichtsurteil über
alle Menschen: eine Verurteilung der Heiden und Juden
in gleicher Weise, ausgesprochen ist. Aber dieser Aspekt
verändert sidi nun laut dessen, was in dem darauffolgen¬
den großen Hauptteil des Briefes in Kap. 3, 21 — 8, 39
ausgeführt wird, wenn wir — wieder unter Anleitung
des Alten Testamentes — beachten, daß eben das Gerichts¬
urteil Gottes, durch das alle verdammt sind, weil es in
Jesus Christus gesprochen, weil es in seinem Tode voll¬
zogen ist, alle diejenigen frei spricht, allen denjenigen recht
gibt, die an ihn glauben, so daß das Evangelium als Er¬
öffnung dieses Gerichtsurteils, wenn es im Glauben ge¬
hört und aufgenommen wird, tatsächlich Evangelium, nicht
schlimme, sondern gute Botschaft ist: die Botschaft von
der Versöhnung zwischen Gott und Mensch und von einem
neuen Leben des Menschen in der Gerechtigkeit, in der
Freiheit, unter der Herrschaft des Geistes. Was dieses Evan-
13
gelium da bedeutet, wo es zuerst hätte Glauben finden
müssen und wo es nun gerade keinen Glauben gefunden
hat, unter den Juden der Synagoge nämlich, die sein ent¬
scheidendes Zeugnis, eben das Alte Testament, in Händen
haben und doch offenbar bis jetzt nicht vernommen haben,
das wird dann in Kap. 9 — 11 entwickelt. Und dem entspricht
endlich Kap. 12, 1 — 15, 13 in Form einer Reihe von an¬
deutenden Mahnungen der Hinweis darauf, was das Evan¬
gelium da praktisch zu bedeuten hat, wo es Glauben ge¬
funden hat, in der Kirche Jesu Christi also, als die ja auch
die Gemeinde von Rom anzusprechen ist. Der Schluß des
Ganzen (Kap. 15, 14 — 16, 27) bringt die erwähnten persön¬
lichen Mitteilungen, eine Reihe von Grüßen an einzelne
Personen und von solchen, Kap. 16, 17 — 18, jene etwas
unvermittelt auftauchende Warnung vor Verführern und
Kap. 16, 25 — 27 einen feierlichen Lobpreis des Gottes, der
sich im Evangelium offenbart hat. — Das sind die großen
Linien des Römerbriefes, die wir in diesen Vorlesungen
etwas genauer auszuziehen die Aufgabe haben.
Um der Vollständigkeit willen noch folgende Anmerkung:
Daß der Apostel Paulus tatsächlich der Verfasser des Rö¬
merbriefes ist, daß wir es also nicht etwa mit einer jener
Unterschiebungen zu tun haben, die in jenen Jahrhunder¬
ten in allen Ehren literarischer Brauch waren, das ist im
Ernst nur von einigen wenigen Forschern des 19. Jahr¬
hunderts bezweifelt worden und kann auch nicht gut be¬
zweifelt werden, wenn man nicht gleich alle Paulusbriefe
als solche in das 2. Jahrhundert gehörige Nachbildungen
ansehen will. Das geht aber schon darum nicht an, weil die
geistige Welt dieser späteren Zeit nach dem, was wir von
ihr wissen, notorisch eine ganz andere gewesen ist, als die,
die in den Paulusbriefen und so auch im Römberbrief
sichtbar wird. Ein gewisser Zweifel besteht hinsichtlich des
Schlusses des Briefes von Kap. 15, 1 ab, sofern es wahr¬
scheinlich ist, daß es um das Jahr 200 lateinische Über-
14
Setzungen des Briefes gegeben haben muß, die mit Kap. 14,
23 aufhörten, in denen dieser Schluß also gefehlt hat.
Auch der berühmte Irrlehrer Marcion, der freilich mit
dem Text des Neuen Testamentes auch sonst mehr als
frei umgegangen ist, behauptete, den Brief nur in dieser
verkürzten Form zu kennen. Man sieht aber ohne weiteres,
daß die Behandlung des Themas von Kapitel 14 in Kapi¬
tel 1 5 ihre unmittelbare Fortsetzung hat und wird darum der
hier allerdings bestehenden Frage kein entscheidendes Ge¬
wicht beimessen können. Dagegen bestehen ernsthafte Grün¬
de zu der Annahme, daß jener Lobpreis Gottes in Kap. 16,
25 — 27 nicht zum ursprünglichen Bestand des Briefes gehört
haben, sondern ihm später hinzugefügt worden sein könnte.
Eine andere Frage ist die, ob nicht speziell das 16. Kapitel
unseres Briefes mit seinen vielen Grüßen an die Paulus
persönlich bekannten Leute sich besser erklären läßt, wenn
man annimmt, daß es zwar von Paulus stammt, aber ur¬
sprünglich einen Teil eines von ihm an die Gemeinde von
Ephesus gerichteten Briefes gebildet hat. Die Gründe für
und gegen diese Hypothese halten sich ungefähr die Waage.
Es ist und bleibt durchaus möglich, daß auch dieses Kapitel
zum ursprünglichen Bestand des Römerbriefs gehört hat.
Wir befinden uns in guter Gesellschaft, wenn wir auch
diese Frage zwar hören aber offen lassen und wenn wir
uns nun an den Text halten, wie er uns durch die weit
überwiegenden Stimmen der Überlieferung tatsächlich ge¬
boten und wie er in der christlichen Kirche tatsächlich im¬
mer gelesen worden ist.
15
1, 1—17
Das apostolische Amt und das Evangelium
Die Einleitung zum Ganzen, die wir in diesen Versen
vor uns haben, gliedert sich deutlich: Vers 1 — 7 der Gruß
des Apostels an seine römischen Leser, Vers 8 — 15 die
Erklärung über seinen Wunsch, bald selber nach Rom zu
kommen, Vers 1 6 — 1 8 die programmatische Bestimmung des
Evangeliums als die Eröffnung des göttlichen Gerichtsur¬
teils, das dem, der es im Glauben annimmt, zum Heil und
zum Leben wird.
Die Verse 1 — 7 enthalten den Gruß des Verfassers in
der damals üblichen Form: Er nennt sich selber, er nennt
seine Adressaten, er wünscht ihnen in direkter Anrede das
Beste, was er ihnen wünschen kann. Aber in dieser üblichen
Form hat Paulus bereits sehr gehaltvoll von der ihn be¬
wegenden Sache geredet. Die Sache ist eine Person (v. 1):
nicht die seinige, auch nicht etwa die des einzelnen Lesers
oder Hörers des Briefes, sondern über seiner Person und
den in der römischen Gemeinde vereinigten Personen die
Person Jesu Christi. Sein Knecht, wörtlich: sein Sklave, ist
Paulus, d. h. ihm gehört er und nur als der ihm Gehörige
und nicht in eigener Person und auf Grund eigenen Rech¬
tes will er reden. Er wurde der diesem Herrn Gehörige,
indem er von ihm berufen, aus seiner bisherigen Umge¬
bung, aber auch aus seinem bisherigen eigenen inneren
und äußeren Lebensstand herausgerufen und insofern aus¬
gesondert wurde, um Apostel zu sein. Er empfing von die¬
sem Herrn die Gnade des Apostelamtes (v. 5), d.h. des
Amtes eines von ihm bevollmächtigten Gesandten, das Amt,
16
dessen Auftrag die Verkündigung des Evangeliums, der
guten Botschaft, ist. So ist Paulus von allem in der Welt
getrennt, ganz an das Evangelium gebunden, für das Evan¬
gelium ausgesondert und das durch Jesus Christus, durch
denselben, von dem er in Vers 3 f. sofort sagen wird, daß er
auch der Inhalt des Evangeliums selber ist. Ihm liegt aber
zunächst an der Feststellung (v. 2), daß diese gute Bot¬
schaft identisch ist mit dem, was schon durch die Propheten
in den heiligen Schriften (gemeint ist: Israels, also des
Alten Testamentes) ausgesprochen ist. Sie haben es zuvor
ausgesprochen. Sie haben es angezeigt, bevor es da war,
um nun durch den Mund des Apostels seinen Lauf durch
die ganze Welt zu nehmen. Als seine mit ihm genau über¬
einstimmenden Voranzeigen sind also diese heiligen Schrif¬
ten zu lesen. Das Evangelium hat aber (v. 3 — 4) einen
einzigen Inhalt — alles scheinbar andere ist nur immer
wieder dieser eine Einhalt: der Sohn Gottes, der nach dem
Fleische, d. h. als Mensch aus dem Geschlechte Davids
stammt, der dem David verheißene Sohn und Thronerbe
ist. Nach dem Heiligen Geist durch seine Auferstehung
von den Toten aber, d. h. durch seine Kraft als Sohn Gottes
ist er als solcher eingesetzt, d. h. erwiesen, offenbart, wört¬
lich: von anderen Menschen abgegrenzt und unterschieden.
Dieser, Jesus Christus, ist der Herr des Paulus. Und eben
von ihm hat Paulus (v. 5) die Gnade seines Auftrags
empfangen, der dahin lautet, alle Heidenvölker zum Ge¬
horsam gegen den König Israels zu rufen, weil dieser als
solcher der Sohn Gottes ist, der über allen Menschen ist —
zu dem Gehorsam, der im Glauben besteht: damit durch
ihren Gehorsam sein Name (der Name Jesus Christus als
der Name des Gottessohnes und Davidssohnes) die Ehre
bekomme, die ihm gebührt. Zu diesen Heidenvölkern ge¬
hören ursprünglich — es sind aber, wie Paulus selbst „be¬
rufen in Jesu Christi“, an ihrem Ort ebenfalls Heraus¬
gerufene (v. 6) — auch seine Leser: „alle, die Geliebten
17
Gottes, die Berufenen, die Heiligen in Rom“ (v. 7). Jede
dieser Bezeichnungen meint genau so wie das, was Pau¬
lus von sich selbst gesagt hatte, nicht irgend eine religiös
moralische Qualität der so Bezeichneten, sondern das Werk
Jesu Christi, das für sie und an ihnen geschehen ist: durch
ihn sind sie Geliebte Gottes, durch ihn berufen, durch ihn
heilig, genau so in dem Sinne, wie Paulus durch ihn
Apostel ist. So ist Jesus Christus, seine Person, wirklich
die Einheit, in der der Apostel und die Gemeinde zum vorn¬
herein und ohne sich von Angesicht zu kennen, schlechter¬
dings beeinander sind. In dieser Einheit grüßt der Apostel
die Gemeinde mit dem Segenswunsch. Wo Griechen und
Römer jener Zeit „Freude“ und „Wohlergehen“ wünschten,
da wünscht der Apostel „Gnade“ und „Friede“. Die Worte
werden uns noch mehr begegnen, wir begnügen uns hier
mit der Feststellung, daß sie gewissermaßen von oben und
von unten das bezeichnen, was die Kirche zur Kirche, die
Christen zu Christen macht: die göttliche Zuwendung zum
Menschen, die Ordnung des Menschenlebens auf Grund
dieser Zuwendung. In Jesus Christus ist beides Ereignis,
aber auch immer neu zu erwarten und also zu erbitten
von dem, aus dem beides quillt: von Gott, unserem Vater,
den wir durch unseren Herrn Jesus Christus als solchen
erkennen — von unserem Herrn Jesus Christus, der als
solcher der Weg zu Gott, unserem Vater, ist. Je weniger
man die beiden Glieder dieser Formel trennt, je deutlicher
man sieht, daß eines nur durch das andere zu erklären ist,
um so besser versteht man sie.
In Vers 8 — 15 erläutert Paulus seinen Wunsch, mit der
römischen Christengemeinde auch persönlich zusammen¬
zutreffen. Er beginnt (v. 8) wie in den meisten seiner Briefe
damit, daß er Gott dankt für die Existenz der Gemeinde.
Es gibt vielleicht keinen stärkeren Ausdruck für die Eigen¬
art des apostolischen Amtes im Unterschied zu dem Amt
der Priester und Propheten im Alten Testament als dieses
18
Danken als das erste Wort, das dem Apostel seinen Ge¬
meinden gegenüber regelmäßig auf die Lippen kommt. In¬
dem er sich durch und in Jesus Christus an Gott wendet,
darf und muß er schon in der Existenz einer Christen¬
gemeinde als solcher ein Wunder der Güte Gottes preisen.
Denn der Glaube der römischen Christen, den er hier im
besonderen nennt, und von dem er sagt, daß er in der
ganzen Welt bekannt sei, ist sicher nicht etwa ihr ernster,
ihr tiefer, ihr lebendiger Glaube, sondern schlicht ihr Glaube
als solcher: die Tatsache, daß Jesus Christus auch in Rom
— und das ist für die ganze Welt bedeutsam — seine Be¬
rufenen, seine Heiligen hat. Indem Paulus sich, in diesem
Sinn an sie denkend, an Gott wendet, ist es selbstverständ¬
lich und kann er (v. 9) Gott dafür zum Zeugen anrufen,
daß er für sie betet, daß sie ihm also in diesem strengsten
Sinn des Wortes am Herzen liegen. Und eben diese seine
Fürbitte wird dann (v. 10) wieder selbstverständlich zu
der Bitte, es möchte nach Gottes Willen möglich werden,
daß er selbst einmal zu ihnen komme. Er möchte sie
(v. 11) sehen: dazu nämlich, um sie durch Weiter¬
reichung der ihm selbst verliehenen Geistesgabe zu be¬
stärken. Die Geistesgabe, von der die Rede ist, ist schlicht
das ihm nach Vers 5 zur Verkündigung aufgetragene
Evangelium. Andere haben andere Gaben. Paulus hat in
1. Kor. 12 von der Verschiedenheit der Gaben des Geistes
geredet und wird auch in unserem Brief in Kap. 12, 6 f .
darauf zu reden kommen. Diese Gabe, die Verkündigung
des Evangeliums, ist die ihm verliehene Gabe des Apostel¬
amtes. Er hat sie in allen seinen Briefen, er hat ihre Bedeu¬
tung nicht nur für die Begründung der Kirche (also für die
Mission im engeren Sinn des Wortes), sondern audi für
deren Stärkung und also für ihren Aufbau und ihre Er¬
haltung geltend gemacht. Aber das apostolische Amt macht
seinen Träger nicht selbstgenügsam und darum fügt Pau¬
lus in der Fortsetzung (v. 11 — 12) hinzu: sie zu bestärken
19
ist für ihn gleichbedeutend damit, daß er mit ihnen ge¬
tröstet und ermahnt zu werden hofft durch den gegen¬
seitigen Austausch zwischen ihnen und seinem Glauben.
Es ist ihm ernst damit, daß Jesus Christus zwischen ihm
und der übrigen Kirche steht, daß er selbst, Paulus, also
nicht monarchisch über der Kirche, sondern selbst in der
Kirche lebt, ebenso empfangend wie gebend. So betet er
wohl auch für sich selber, indem er für die römische Ge¬
meinde und wenn er darum betet, daß er sie persönlich
sehen möchte. Der Ausführung seines Wunsches standen
bis jetzt (v. 13) Hindernisse entgegen: Paulus meint nach
Vers 10 und nach seinem sonstigen Verständnis solcher
Situationen bestimmt, daß es nicht der Wille Gottes war,
wenn er bis jetzt nicht ausgeführt werden konnte. Sie
sollen aber wissen, daß der Wunsch und die Absicht von
seiner Seite immer wieder da waren — der dritte Grund,
den er dazu hat, wird jetzt sichtbar — auch unter ihnen,
auch in Rom wie unter den anderen Heidenvölkern „einige
Frucht zu haben“, einiges zu ernten, d. h. auch dort per¬
sönlich als Missionar das Evangelium zu verkündigen
und einige dafür zu gewinnen, einige zu jenem Gehorsam
des Glaubens (v. 5) zu führen. Wenn Paulus von den
Heidenvölkern und ihrer Gewinnung für das Evangelium
redet, so meint er, wie es hier deutlich wird, immer und
ganz grundsätzlich: Einige aus diesen Völkern. In diesen
Einigen sind die ganzen Völker Gegenstand seines Auf¬
trags, Hörer seiner Botschaft. Der paulinische Missions¬
gedanke hat mit großen oder kleinen Zahlen nichts zu
tun: es geht darum, den Funken überall auszustreuen
und in ihm jedesmal den zukünftigen Brand des Ganzen.
Man kann schließlich Vers 14—15 als die Angabe eines
vierten Grundes für seinen Wunsch, nach Rom zu kom¬
men, verstehen. Paulus erklärt nämlich diesen (in v. 15
noch einmal ausdrücklich ausgesprochen) Wunsdi mit
seiner besonderen Berufung zum Weltapostolat, zur Ver-
20
kündigung des Evangeliums unter Hellenen und Barba¬
ren, Gebildeten und Ungebildeten. Hellenen hießen ur¬
sprünglich die Griechen, Barbaren im Mund der Griechen
alle übrigen Völker. In der Zeit unseres Briefes hatten
die Begriffe sich gewandelt: hellenisch war der Inbegriff
der Kultur, barbarisch der Inbegriff ihres Gegenteils ge¬
worden. In ihrer Zusammenstellung im Munde eines Chri¬
sten und ehemaligen Juden bezeichneten die beiden Be¬
griffe die nicht-jüdische, also die heidnische Welt als Ganzes
und in ihrer Differenzierung. Als dieser Welt Apostel ist
Paulus mit dem Evangelium beauftragt, im Unterschied
zu den Aposteln, die nach wie vor in Jerusalem, unter
den Juden dasselbe Amt vertraten. Weil das sein Amt ist,
darum (vierter Grund) wünscht Paulus auch nach Rom
zu kommen: nach Rom als dem Zentrum eben dieser hel¬
lenisch-barbarischen, aus höchster Bildung und gröbster
Unbildung sich zusammensetzenden Heidenwelt. Man wird
aber, auf diese ganze Erklärung in Vers 8 — 15 zurück¬
blickend, gut tun, sich zu erinnern, daß dieser Wunsch
dort seinen eigentlichen Nerv, seine entscheidende Kraft
hat, wo Paulus sich mit den römischen Christen wie mit
den Christen aller anderen Gemeinden jetzt schon — aller
räumlichen Trennung und persönlichen Unbekanntschaft
zum Trotz — beieinander sieht: in der Einheit Jesu Christi,
der zugleich sein, des Apostels, und ihr, der Gemeinde,
Herr ist.
Die letzten Sätze der Einleitung (v. 16 — 17) bringen die
Erklärung darüber, was Paulus versteht unter dem Evan¬
gelium, von dem er in Vers 15 noch einmal gesagt hatte,
daß er willens sei, es auch in Rom zu verkündigen. Es be¬
ginnt in diesen Versen bereits die Darstellung der Sache,
um derentwillen der Brief geschrieben wurde. Aber der
Übergang vom Vorangehenden her vollzieht sich fast un¬
merklich.
21
Was Paulus in Vers 16 zuerst sagt: daß er sich des
Evangeliums nicht schäme , bezieht sich sicher noch darauf,
daß er vorher davon geredet, wie er schon lange gerne
nach Rom gekommen wäre und nun doch bisher nicht
kommen konnte. Niemand soll denken, daß er etwa deshalb
nicht kommen konnte, bzw. wollte, weil er die Probe
scheute, die gerade Rom als der eindrucksvolle Mittel¬
punkt der heidnischen Welt für seine Verkündigung be¬
deuten mußte. Er fürchtet nicht, daß das Evangelium der
in der Weltstadt massierten Kultur und Unkultur etwa
nicht gewachsen sein, daß es an den dort herrschenden
Mächten des Geistes und des Ungeistes, der Humanität und
der Banalität zuschanden werden und damit auch ihn
blamieren könnte. Aber das Vertrauen auf seine eigene
Geistesmacht, Beredsamkeit, Menschenkenntnis oder der¬
gleichen ist nicht der Grund dieser seiner „Unverschämt¬
heit“. Er ist darum „unverschämt“, er fürchtet das ganze
Rom darum nicht, weil — und nun kommt er zu der
Sache, bei der er bis Kap. 15, 13 in großer Strenge bleiben
wird — das Evangelium selbst Kraft , und zwar Kraft
Gottes und also schlechterdings überlegene Kraft ist. Man
bemerke, daß er nicht von seiner Überzeugung oder Er¬
fahrung von dieser Kraft redet. Man bemerke ferner, daß
er nicht sagt, das Evangelium habe solche Kraft (als ob es
sie allenfalls auch nicht haben könnte). Er zeigt vielmehr
— wir müssen uns daran gewöhnen, daß ein Apostel so
redet — an, daß das Evangelium solche Kraft ist. Der Satz
bedeutet: es ist die Allmacht Gottes. Also keine Macht
neben anderen Mächten, keine Macht, die mit anderen auch
nur zu vergleichen wäre, keine Macht mit der eine andere
konkurrieren könnte, sondern die Macht, die über allen
anderen Mächten ist, die ihrer aller Grenze ist, von der
sie alle regiert werden. Das ist das Evangelium. Wie sollte
es da in dem großen und nun doch recht kleinen Rom zu
Schanden werden? Wie sollte da sein Bote verschämt sein
22
können? Wir hörten schon in Vers 4: der Inhalt des Evan¬
geliums ist die Person Jesus Christus. Der alte Abschreiber,
der hier diesen Namen ausdrücklich hinzufügte, hat dar¬
um sachlich nichts verändert. Selbstverständlich hat Paulus
an diesen Inhalt und also an diese Person des Evangeliums
gedacht, wenn er es die Allmacht Gottes genannt hat. Wo
Jesus Christus der Inhalt ist, da nimmt jede Form seine
Art an. Die Art Jesu Christi ist aber die Allmacht Gottes.
So kommt das Evangelium dazu, die Allmacht Gottes zu
sein. Aber was ist die Allmacht Gottes? Paulus hatte ein
sehr bestimmtes Verständnis von dieser Sache: Das ist die
Allmacht Gottes und also die letztlich alleinige Macht in
der Welt, die wirksam ist „zur Errettung für jeden Glau¬
benden, für den Juden zuerst und auch für den Griechen“.
Man betrachtet diese Worte am besten ohne Auflösung
ihres Zusammenhangs. Paulus weiß von einem Werk, das
in Gang gekommen ist und nun unaufhaltsam in Gang
bleiben wird. Dieses Werk besteht in einer Errettung . In
jedem Glaubenden kommt dieses Werk zu seinem Ziel da¬
mit, daß er durch dieses Werk gerettet wird. Und es läuft
der Weg dieses Werkes zuerst zu den Juden und dann
von da aus zu den Griechen , d. h. zu den damals durch
die griechische Sprache und Art beherrschten heidnischen
Völkern in der Umgebung des Mittelmeeres, um im Glau¬
ben der Juden zuerst, dann im Glauben der Griechen damit
zu seinem Ziel zu kommen, daß sie gerettet werden. Also:
die Allmacht Gottes ist diejenige Macht, die in diesem Werk
wirksam ist. Und umgekehrt: was in diesem Werk wirk¬
sam ist, das ist die Allmacht Gottes im strengsten Sinn
des Begriffs. Vieles, was noch kommt, wird verständlicher,
wenn man bedenkt, daß diese Gleichung zum ABC des
Paulus gehört. Er wird nachher in keinem Satz so reden,
als ob es an dieser Gleichung etwas zu rütteln gäbe. Wir
nehmen also zunächst zur Kenntnis: das Evangelium ist
dieses allmächtige Rettungswerk.
23
Und nun erfahren wir in Vers 17 in kürzester Form, was
Paulus vor Augen hat, wenn er das Evangelium als die¬
ses Rettungswerk bezeichnet. Im Evangelium findet eine
Offenbarung statt. Das bedeutet schlicht: die Aufdeckung,
die Enthüllung einer Sache, die sonst verborgen ist und
verborgen bleiben muß. Paulus redet hier wie nachher in
Vers 18 in der Gegenwartsform. Man kann auf die Offen¬
barung im Evangelium nicht zurückblicken wie auf andere
historische Ereignisse. Sie hört nicht auf, im Evangelium
zu geschehen. Man kann das Evangelium nicht hören, ohne
sein Zeitgenosse, ohne selber Zeuge seines Geschehens zu
werden. Es ist aber die im Evangelium sich ereignende
Offenbarung die Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes , d. h.
der rechtlichen, der richterlichen Entscheidung Gottes. Was
sonst verborgen ist und bleibt, im Evangelium aber sicht¬
bar wird, das ist der „Richterstuhl“ (2. Kor. 5, 10), welchen
der Mann einnimmt, den Gott nach Übersehen der Zeiten
der Unwissenheit bestimmt hat, den ganzen Erdkreis, die
Lebendigen und die Toten zu richten in Gerechtigkeit (Act.
10, 42; 17, 30 f.). Dieser Mann, Jesus Christus, ist ja der
Inhalt des Evangeliums. Er wird in ihm offenbar und in
ihm Gottes Richterspruch. Zu seinem Zeitgenossen, zum
Zeugen seiner Offenbarung, wird der Hörer des Evange¬
liums. Und eben er als Verkünder des Richterspruches Got¬
tes ist auch der Vollbringer jenes allmächtigen Rettungs¬
werkes. Das ist die zweite erstaunliche Gleichung in die¬
sen programmatischen Versen: Gottes Richterspruch ist
Gottes Rettungswerk. Der Richter ist der Retter. Auf den
Mann, durdi den Gott sein Urteil offenbart, blickt Paulus
und an das durch ihn ausgesprochene Urteil hält er sich,
indem er im Evangelium die Gotteskraft zur Errettung
erkennt. Die hinzugefügten Worte „ aus Glauben zum Glau -
ben“ sind nicht ganz leicht zu verstehen. Die naheliegend¬
ste Deutung dürfte die sein, daß wir es in ihnen mit einem
im Deutschen freilich nicht wiederzugebenden Wortspiel zu
24
tun haben. Das griechische Wort für „Glaube“ (pistis) be¬
deutet ebenso Treue wie Vertrauen. In der Stelle in Kap.
3, 3 wird es tatsächlich zur Bezeichnung der Treue Gottes
verwendet und man muß damit rechnen, daß es auch an
anderen Stellen nicht vom Glauben des Menschen, son¬
dern von der Treue Gottes reden könnte. Wenn dies auch
hier anzunehmen wäre, wäre alles klar: der durch Jesus
Christus verkündigte Richterspruch stammt aus der Treue,
er ist das Wort der Treue Gottes und zielt auf das Ver¬
trauen, auf den Glauben der jüdischen und griechischen
Menschen, die ihn zu hören bekommen. Von diesem Grund
und von diesem Ziel seiner Offenbarung her gesehen ist
dieser Richterspruch das, als was Paulus ihn beschreibt:
Gottes allmächtiges Rettungswerk. „Der aus Glauben Ge¬
rechte“, von dem das abschließende Zitat aus Hab. 2, 4 sagt,
daß er leben werde, ist der Jude oder Grieche, der das
Evangelium so gehört hat, daß der darin ausgesprochene
Richterspruch Gottes und also Gottes allmächtiges Rettungs¬
werk bei ihm zu seinem Ziel gekommen ist — der Jude
oder Grieche, der damit glaubt, daß er es annimmt und
bekennt, der zu sein, als der er durch das göttliche Urteil
bezeichnet und angesprochen wird. Wer das tut, wer sich
der Rechtsentscheidung Gottes mit Herz und Mund unter¬
wirft, der glaubt, der steht mit diesem seinem Glauben vor
Gott da als einer, der ihm recht ist und eben der wird
leben, d. h. eben der wird der Errettung und durch seine
Errettung des Lebens teilhaftig, das ihm durch die Rechts¬
entscheidung Gottes zugesprochen ist. Es soll aber doch
nicht unerwähnt bleiben, daß es eine griechische Über¬
setzung jenes Habakukwortes gegeben hat, die vielleicht
auch dem Paulus nicht unbekannt war, laut derer es hei¬
ßen würde: „Der Gerechte wird aus meiner (Gottes) Treue
leben“. Und es ist auch das nicht ausgeschlossen, daß Pau¬
lus bei dem Mann, von dem das gesagt wird, ursprünglich
und zuerst nicht an den Hörer und Empfänger des Evan-
25
geliums, sondern an seinen Inhalt, d. h. an den Mann
Jesus Christus gedacht hat: an den durch den treuen Gott
eingesetzten gerechten Richter, dessen Leben, d. h. dessen
Auferstehung von den Toten (v. 4) die schon im Alten
Testament geweissagte Offenbarung ist, die Paulus nun
auslegen will. Ohne Jesus Christus als Hintergrund kann
man das, was hier und in allem Folgenden vordergründ¬
lich vom glaubenden Menschen gesagt wird, auf alle Fälle
nicht verstehen. Seine Gerechtigkeit ist wie die des treuen
Gottes so auch die des auf ihn vertrauenden Menschen.
Und sein aus dem Tode errettetes Leben ist das Leben, das
diesem durch ihn gerechten Menschen zugesagt ist. — Die
Verkündigung dieser Gerechtigkeit und dieses Lebens, die
Verkündigung des Glaubens, die den Menschen dieser Ge¬
rechtigkeit und dieses Lebens teilhaftig macht, ist das apo¬
stolische Amt, in das Paulus eingesetzt ist und in dessen
Verwaltung er im Römerbrief das Wort ergriffen hat.
26
1,18 — 3,20
Das Evangelium als Gottes Verurteilung
des Menschen
Meint Paulus eine zweite oder erste Offenbarung neben
und außer der, von der in Vers 17 die Rede war, wenn
nun auf einmal eine Offenbarung des Zornes Gottes
vom Himmel her über alle Gottlosigkeit (Ehrfurchtslosig-
keit) undUngerechtigkeit (Unbotmäßigkeit) der Menschen,
nämlich der Heiden (v. 18 — 32) und der Juden (Kap. 2, 1
bis 3, 20) zur Sprache kommt? Stellt er sein Amt als Ver¬
künder des Evangeliums zurück, um zunächst in einem ganz
anderen Amt, nämlich in dem eines frommen Auslegers der
menschlichen Situation als solcher, eines christlichen Reli-
gions- und Geschichtsphilosophen zu reden? Man hat das,
was nun folgt, oft so verstanden, als ob dem so wäre. Die
ganze doch sehr lange Stelle in Kap. 1, 18 — 3, 20 würde
dann bedeuten, daß Paulus — wie schlechte Prediger es
allerdings zu tun pflegen — zunächst weit und breit von
etwas ganz anderem als von seinem Text, d. h. von der
vorher klar und deutlich angegebenen Sache reden würde.
Will man ihm das Zutrauen? Irgend eine äußere Anzeige
dafür, daß wir es mit einem solchen Frontwechsel gleich
zu Beginn des Ganzen zu tun hätten, liegt tatsächlich nicht
vor. Man kann aber jedenfalls das in Kap. 2, 1 f. über die
Juden Gesagte unmöglich verstehen, wenn man nicht sieht,
daß hier nicht von einer allgemein-menschlichen Warte,
sondern vom Evangelium her geredet, daß hier das im
Evangelium den Juden verkündigte Urteil ausgesprochen
wird, daß also Paulus hier ganz eindeutig in seinem Amt
27
als Apostel redet. Ist dem aber so, mit welchem Recht soll
dann angenommen werden, daß er es im 1. Kapitel, wo
von den Heiden die Rede ist, anders halte? Auf welche
andere „Offenbarung Gottes vom Himmel her“ konnte er
sich denn auch berufen, wenn er im Folgenden das ent¬
wickeln will, was gegen Schluß dieses Abschnittes und zu
Beginn des Folgenden zusammengefaßt wird in den Wor¬
ten: „Wir haben Juden und Griechen als schuldig erwie¬
sen, daß sie alle unter der Herrschaft der Sünde seien“
(Kap. 3, 9) „. . . damit jeder Mund verschlossen und alle
Welt vor Gott strafwürdig sei“ (Kap. 3, 19). „Es ist hier kein
Unterschied; alle haben gesündigt und ermangeln der Ehre
vor Gott“ (Kap. 3, 23). Sollte das „vom Himmel her“ auf
einen anderen Ursprung dieser Offenbarung hinweisen?
Aber was für ein Ursprung käme da in Betracht, da wir ja
hörten, daß eben das Evangelium die Allmacht Gottes und
also doch wohl der Inbegriff aller Himmelshöhe ist? Und
was Paulus angibt als Inhalt dieser Offenbarung, das hat
doch noch nie jemand gesagt und hat auch noch nie je¬
mand sagen oder auch nur nachsagen können als eben in
Auslegung der Offenbarung, von der Paulus vorher ge¬
redet: in Auslegung des durch den Mann Jesus Christus
gesprochenen göttlichen Gerichtsurteils. Nur der Glaube
an das Evangelium wird jene Sätze, wird diese ganze
Rede vom Zorne Gottes annehmen, wird ihr nicht wider¬
sprechen. Das bedeutet aber: wir befinden uns schon in
diesem Abschnitt nicht in einer Art Vorhalle, sondern tat¬
sächlich bereits mitten in der Sache. Diese Sache, das Ge¬
richtsurteil des treuen Gottes über die ganze Welt, dessen
Offenbarung Jesus Christus heißt, hat eben auch diese
Seite, diese Schattenseite. Sie ist auch die Offenbarung des
Zornes Gottes. Und wenn es vielleicht unseren pädagogi¬
schen Begriffen nicht entspricht, so ist es für die apostoli¬
sche Pädagogik um so bedeutungsvoller, wenn Paulus, be¬
vor er auf die Lichtseite der einen Offenbarung zu spre-
28
chcn kommt, dieses Schwerere vorwegnimmt, den ganzen
Trost des Evangeliums (denn er ist auch hier zur Stelle)
zunächst nicht als solchen kenntlich macht, sondern ver¬
birgt in dem Zeugnis von Gottes Verurteilung des Men¬
schen.
Das merkwürdige „Denn“, mit dem Vers 18 anfängt,
wird verständlich, wenn man beachtet, daß es in einer Reihe
steht mit den zwei anderen „Denn“ in Vers 16 und 17:
„Denn es ist Gottes Kraft“, „Denn die Gerechtigkeit Got¬
tes wird in ihm offenbar“. Damit wurde dort der Satz: „Ich
schäme mich des Evangeliums nicht“ begründet. Auch das
„Denn“ in Vers 18 ist begründet: Ich schäme mich des
Evangeliums den Mächten der Weltstadt Rom gegenüber
darum nicht, weil das Evangelium als das allmächtige Ret¬
tungswerk Gottes jedenfalls auch Gottes Verurteilung des
Menschen ausspricht, weil es ganz klar ist, daß nicht ich
mich des Evangeliums, sondern die in Rom massierte Hei¬
denwelt angesichts des Evangeliums sich ihrer selbst zu
schämen hat. So ist Paulus gewissermaßen von selbst, noch
im Zuge seiner Einleitung, zuerst gerade auf diese Sache
zu reden gekommen. Wenn Gott und der Mensch — auch
der Mensch der Weltstadt Rom — sich begegnen, wie es in
der Verkündigung und im Hören des Evangeliums der
Fall ist, dann kann es nicht anders sein, als daß der Wider¬
spruch zwischen beiden sichtbar wird: der Widerspruch
Gottes gegen den Widerspruch, den der Mensch ihm seiner¬
seits entgegensetzt. Die Haltung des Menschen Gott gegen¬
über wird dann sichtbar als Ehrfurchtslosigkcit — das ist
das Wesen der Gottlosigkeit und als Unbotmäßigkeit, als
Aufruhr — das ist das Wesen aller menschlichen Unge¬
rechtigkeit. Es gibt dann Feuer: das Feuer, von dem das
Unmögliche, was da auf seiten des Menschen passiert, ver¬
zehrt wird. Dieses Feuer ist der Zorn Gottes. Man ver¬
stehe den Zorn Gottes nicht als etwas, was der Liebe Got¬
tes fremd und entgegengesetzt wäre. Man verstehe aber
29
die Liebe Gottes als diese brennende und verzehrende
Liebe. Die Offenbarung des Zornes Gottes, des über den
Menschen um seiner Sünde willen beschlossenen Todes¬
urteils Gottes ist der Akt, in welchem Gott (Kap. 8, 32)
seines eigenen Sohnes nicht verschonte, sondern hat ihn für
uns alle dahingegeben. Der Kreuzestod Jesu Christi ist die
Offenbarung des Zornes Gottes vom Himmel her. Von hier
aus denkt Paulus. Von hier aus haben wir nun auch das
Folgende zu verstehen.
Gestehen wir es gleich zu: Wären uns die Verse 19 — 21 *)
für sich, vielleicht als Fragment eines uns unbekannten
Textzusammenhangs eines unbekannten Verfassers über¬
liefert, so könnte man wohl auf die Vermutung kommen,
als sei hier von der Existenz eines „natürlichen“ d. h. einer
der Offenbarung Gottes in Jesus Christus vorangehenden
und ihr gegenüber selbständigen Gotteserkenntnis der Hei¬
den die Rede. Die Stelle ist immer wieder so gelesen wor¬
den, als wenn sie ein solches Fragment wäre und ist dann
tatsächlich als Beweis einer allgemeinen Lehre von einer
solchen natürlichen Gotteserkenntnis verstanden undimmer
wieder angeführt worden. Man hat freilich auch unter
jener seltsamen Voraussetzung zu viel aus ihr gemacht.
Daß die heidnischen Religionen ein Zeugnis von der dem
Menschendasein notwendigen Gottesbeziehung seien, daß
sie als Ergebnis aus Gottes Offenbarung und des Men¬
schen Sünde zu verstehen seien, steht z. B. nicht in diesen
Versen, in denen die heidnische Religion als solche noch
gar nicht erwähnt wird. Aber schon die Voraussetzung ist
hier falsch. Die Verse sind nun einmal kein Fragment, son¬
dern stehen als Worte des Apostels Paulus in ihrem be¬
stimmten Zusammenhang im Römerbrief und in den pau-
linischen Schriften überhaupt. Angesichts der Feststellung,
auf die der ganze Absdinitt, in dem sie stehen, hinaus-
* Vgl. zu dieser Stelle KD. I, 2 S. 334 f. und II, 1 S. 131 f.
30
läuft und angesichts der damit übereinstimmenden Dar¬
legungen des Paulus über die verborgene, von keinem
Auge gesehene, von keinem Ohrt gehörte, in keines Men¬
schen Herz gekommene Weisheit Gottes, die der natür¬
liche Mensch nicht annimmt, die er nicht erkennen kann,
die nur der Geist Gottes, die der Mensch nur durch diesen
Geist Gottes erkennen kann (1. Kor. 2, 6 — 16), wäre es doch
sehr merkwürdig, wenn Paulus hier auf einmal die Hei¬
den im Vollzug und Besitz wirklicher Gotteserkenntnis
sehen sollte. Würde Paulus mit einer solchen Sache rech¬
nen, warum hätte er sie dann nicht ganz anders fruchtbar
gemacht? Warum redet er dann im ganzen übrigen Römer¬
brief und in allen seinen sonstigen Briefen von der Er¬
kenntnis Gottes so, als gäbe es in Wirklichkeit nur die eine,
nämlich die, die auf die Offenbarung jenes göttlichen Rich¬
terspruches und Rettungswerkes und also auf die Offen¬
barung in Jesus Christus gegründet ist?
Denkt man von diesem Zusammenhang her über die
Stelle nach, dann wird vor allem ersichtlich: Paulus redet
nicht von den Heiden an sich und im allgemeinen, nicht in
der Weise, wie es etwa ein Religionshistoriker oder Reli¬
gionsphilosoph an seiner Stelle getan hätte. So wird er ja
nachher auch von den Juden nicht reden. Er redet von
den Heiden, die jetzt, durch die Auferstehung Jesu Christi
und durch die seither durch die ganze Welt gehende Ver¬
kündigung seines Namens, ob sie es wissen oder nicht, ob
es ihnen recht ist oder nicht, mit dem Evangelium kon¬
frontiert sind. Er sieht die Heiden wie die Juden — das
tut kein Religionshistoriker und kein Religionsphilosph —
im Widerschein jenes Feuers des Zornes Gottes, das das
Feuer seiner Liebe ist. Er redet von etwas, was den Heiden
angeht, was ihm aber keineswegs bekannt, sondern höchst
unbekannt ist, er sagt ihm über ihn selbst — und es
braucht schon einen Apostel dazu, um ihm das zu sagen
— die größte Neuigkeit: dies nämlich, daß Gott sich fak-
31
tisch auch ihm längst, ja immer, von der Erschaffung der
Welt her bezeugt und offenbart hat. Die Welt, die ihn
immer umgab, war immer Gottes Werk und damit immer
Gottes Selbstzeugnis. Objektiv gesprochen haben die Hei¬
den Gott: sein unsichtbares Wesen, seine ewige Kraft und
Gottheit immer erkennen können. Und wieder objektiv ge¬
sprochen: sie haben ihn auch immer erkannt. In allem,
was sie sonst erkannten, war ja, objektiv gesprochen, im¬
mer Gott als der Schöpfer aller Dinge der eigentliche und
wahre Gegenstand ihres Erkennens. Genau in dem Sinn,
wie es ja auch die Juden in ihrem Gesetz objektiv zweifel¬
los mit Gottes Offenbarung zu tun hatten. Wie kommt
Paulus zu diesen Sätzen? Man achte auf das, worauf sie
hinaus wollen: daß Heiden und Juden unentschuldigt, in
vollem Ernst haftbar und verantwortlich für ihren Wider¬
spruch gegen Gott vor diesem dastehen (Kap. 1, 20 und
Kap. 2, 1), das ist es, was im Lichte der Offenbarung
Gottes in Jesus Christus, im Widerschein jenes auf Golga¬
tha entbrannten Zornesfeuers sichtbar ist. In dieser gött¬
lichen Anklage und also in der Offenbarung in Jesus
Christus und also im Evangelium und nur da, nur so,
sieht Paulus nun auch das enthalten und ausgesprochen:
wirklich von Gott Verkommend, also wirklich und ernst¬
lich im Widerspruch gegen Gott und also wirklich und
ernstlich getroffen von Gottes Zorn sind Heiden und Juden,
was sie sind. Sie fehlen gegen ihr eigenes besseres Wissen.
Wie wäre das Evangelium nach Vers 16 die Allmacht
Gottes, wenn die Heiden etwa darauf sich zurückziehen
könnten, daß Gott ihnen fremd sei, daß sie sich in irgend
einem Winkel der Welt befänden, wo Gott nicht Gott und
als solcher nicht offenbar sei, wenn es so etwas gäbe wie
ein in sich ruhendes, gefestigtes, gesichertes und berech¬
tigtes Heidentum, ein Heidentum, dem gegenüber Gottes
Anklage, Zorn und Urteil im Unrecht wäre, weil es sich
auf Unkenntnis des Gesetzes berufen könnte? Das eben ist
32
es, was das Heidentum nicht kann: angesichts des Kreuzes¬
todes Christi unmöglich kann. Und das ist es, was Paulus
in Vers 19 — 21 in seiner Unmöglichkeit hingestellt hat. Das
Gesetz gilt auch für die, die es nicht kennen, einfach dar¬
um, weil es objektiv auch über ihnen steht.
Daß Paulus nicht daran denkt, den Heiden so etwas wie
ein Kompliment zu machen und in ihren Religionen so
etwas wie einen Anknüpfungspunkt aufzusuchen, von dem
aus es zu einem Brückenbau zum Verständnis des Evan¬
geliums kommen könnte, daß er sie vielmehr pur und
einfach zum Glauben an Gottes Richterspruch aufruft, das
zeigt die ganze Fortsetzung in dem an sie gerichteten Teil
dieses Abschnitts. Ihrer objektiven Kenntnis Gottes zum
Trotz haben sie ihm die Ehre und den Dank, die sie ihm
schulden, nicht erwiesen. Sie befinden sich in flagrantem
Widerspruch gerade zu der Wahrheit des Menschen, die
mit der Wahrheit Gottes in Jesus Christus offenbart wor¬
den ist. Sie halten diese Wahrheit aufrührerisch darnieder
(v. 18). Sie vertauschen sie mit der Lüge (v. 25). Ihr
Denken ist — immer an dieser Wahrheit gemessen — im¬
mer in ihrem Lichte! — ein leeres Denken, ihr Herz finster
(v. 21). Indem sie sich als Weise ausgeben, machen und
halten sie sich selber zum Narren (v. 22). Wie und inwie¬
fern das alles? Paulus antwortet nicht etwa zuerst mit
dem Hinweis auf diese und jene heidnischen Laster und
Verirrungen, sondern zuerst mit dem Hinweis gerade auf
das Beste, was die Heiden haben oder zu haben meinen:
nämlich auf ihre Religion, die in einer einzigen großen
Verwechslung zwischen dem Schöpfer und seinem Geschöpf
besteht (v. 23). Wenn es von irgendwoher keine Brücke
zum Evangelium, zur Erkenntnis des lebendigen Gottes
gibt, dann gerade von hier aus! Menschliche Religion als
solche, in ihrem radikalen Unterschied vom Glauben an
Gottes Offenbarung entsteht und besteht eben immer in
dieser Verwechslung: in dem falschen Selbstvertrauen, in
33
welchem der Mensch von sich aus darüber verfügen will,
wer und was Gott ist und dessen Werk nur jene Ver¬
wechslung und also nur der Götzendienst sein kann. Dieses
falsche Selbstvertrauen ist der eigentliche Gegenstand des
Zornes Gottes. Denn in ihm besteht eigentlich der Wider¬
spruch des Menschen gegen Gott. Es ist es, das in Gottes
Verurteilung des Menschen gemeint und von ihr getroffen
wird. Entscheidend und im Grunde sogar nur es. Denn
alles, was Paulus nun (v. 24 — 31) noch nennt an „na¬
türlichen“ und „widernatürlichen“ Sünden, nennt er ja aus¬
drücklich das Ergebnis einer „Dahingabe“ (v. 24, 26, 28),
mit der Gott auf jenen Grundwiderspruch des Menschen,
auf dessen eigentliche, die fromme Sünde, antwortet. In¬
dem der Mensch die fromme Sünde begeht, ist er — und
das ist es, was den Heiden zum Heiden macht — von
Gott sich selbst überlassen, sich selbst preisgegeben und
daraus folgt dann alles Weitere von selbst: das ganze
Unmoralische, zu dessen Entfaltung es nicht erst der Welt¬
stadt bedarf, das auch und vielleicht nur noch intensiver
das Unmoralische der Kleinstadt, des Dorfes, der biederen
Provinz ist. Man verstehe die ganzen Andeutungen dieser
Verse als allerdings furchtbare Illustration — aber eben
auch nur als Illustration — zu dem wesentlichen Satz: Die
Heiden sind darin ehrfurchtslos und unbotmäßig und dar¬
um unter dem Zorne Gottes, weil sie die Wahrheit dar¬
niederhalten, weil sie sie mit der Lüge vertauschen, weil
sie sich jene Verwechslung zwischen Schöpfer und Geschöpf
erlauben und leisten, weil sie — nicht in ihrer Dummheit,
sondern in ihrer Klugheit, nicht in ihrer Schlechtigkeit,
sondern gerade in und mit dem Besten, dessen sie fähig
sind, nicht in der Tiefe, sondern auf der Höhe ihrer Huma¬
nität — jenen Griff nach der Krone Gottes vollziehen. Weil
sie das tun, darum dann notwendig — auf Grund der
Reaktion Gottes selber notwendig — auch all das andere:
die Sünde und die Sünden im populären Sinn des Be-
34
griffes — alles das, dessen Nichtswürdigkeit, ja Todeswür¬
digkeit sie selbst (v. 32) sehr wohl kennen und das sie
nun bei sich selbst und anderen dennoch bejahen und be¬
jahen müssen, nachdem sie den Schöpfer als solchen prak¬
tisch verneint und gelästert haben.
Man bemerke, daß Paulus die Worte „Heiden“ oder
„Griechen“ oder „Rom“ gerade in diesem Zusammenhang
nicht ausgesprochen hat. Daß er dahin geblickt hat, ergibt
sich aus der Fortsetzung, in der er gegensätzlich und dies¬
mal ausdrücklich von den Juden reden wird und von wo¬
her er auf Kap. 1, 18 — 32 zurückblickt, so daß es deutlich
ist: hier stehen ihm tatsächlich speziell die Heiden vor
Augen. Es geht doch auch im Heiden einfach um den
Menschen als solchen. Ist er mit dem Evangelium konfron¬
tiert, dann ist zunächst dies von ihm zu sagen, was hier
von ihm gesagt wird: man versteht von da aus noch ein¬
mal, daß Paulus sich des Evangeliums wirklich nicht gut
sdiämen konnte.
Man kann den Gehalt alles dessen, was nun in Kap. 2,
1 — 3, 20 folgt, zusammenfassen in den Satz: Die im Evan¬
gelium verkündigte Verurteilung des Menschen erstreckt
sich wirklich auf alle Menschen. Gottes Zorn, wie er gerade
in der Offenbarung seiner Liebe entbrannt ist, auf sich
selbst zu beziehen, hat jeder Mensch allen Anlaß. Man
beachte, wie in Kap. 3, 9 und Kap. 3, 19 das Ergebnis
der ganzen Überlegung von Paulus selbst zusammengefaßt
wird.
Wir hören in Kap. 2, 1 von einem Menschen (dem Ver¬
treter einer ganzen Gruppe von Menschen offenbar), der
hier sich selbst als Ausnahme geltend machen möchte. Ihm
gilt die ganze Auseinandersetzung, die nun folgt. Man
bemerke, daß er erst in Vers 17 ausdrücklich als Jude an¬
geredet werden wird. Es ist dort, wie wenn Paulus sich
plötzlidi erhöbe, zum Fenster ginge, es öffnete und auf die
35
Gasse oder auf das Gäßlein hinaus redete, wo der Ge¬
meinde Jesu Christi gegenüber immer noch die Synagoge
wohnt. Aber in der Sache ist es von Anfang an deutlich,
daß eben der Jude gemeint ist: der Beschnittene, der Be¬
sitzer und Leser der Bücher vom Bunde Gottes mit Abra¬
ham, Mose und David, der Mann, der in der Erfüllung
des Gesetzes Gottes bis zum letzten Buchstaben seinen
Lebensinhalt gesucht und gefunden hat. Dieser Mann hält
sich der in Kap. 1, 19 f. erhobenen Anklage gegenüber für
entschuldigt, von dem dort beschriebenen Zorne Gottes für
nicht betroffen. Er betet ja keine Götter und Götzen an
neben dem wahren Gott, dem einen Schöpfer des Himmels
und der Erde. Ihm wird man ja auch all die groben
in Kap. 1, 24 f. angedeuteten Sünden nicht so leicht nach-
weisen, ihn wird man also nicht gut als einen von Gott
an seines Herzens Gelüste, an die „ehrlosen Leidenschaf¬
ten“ (Kap. 1, 26) Dahingegebenen bezeichnen können. Er
steht dem Treiben der heidnischen Hauptstadt und der
ganzen heidnischen Welt wahrhaftig fremd und überlegen,
als selber unbeteiligter kritischer Zuschauer gegenüber.
Ihm fällt es gar nicht ein, im Kreuze Christi sein eigenes
Todesurteil zu vernehmen, ganz im Gegenteil: er, ver¬
treten durch die Stimme seiner höchsten religiösen Auto¬
ritäten und durch die Stimme des Volkes von Jerusalem,
hat ja diesen Jesus ans Kreuz gebracht und damit aufs
neue bewiesen und erklärt, daß er mit Gotteslästerung
nichts gemein haben will, daß ein solcher aus seiner Mitte
ausgeschlossen ist, ausgestoßen sein soll zu den Heiden, in
die Wüste, um daselbst zu sterben, wie es einem solchen
gehört. Eben von diesem jüdischen Menschen sagt Paulus
jetzt, daß er sich irrt, daß gerade er unentschuldigt ist.
Das ganze Problem der göttlichen Verurteilung des Men¬
schen durch das Evangelium wird offenbar erst jetzt, erst
diesem jüdischen Menschen gegenüber ganz ernsthaft. Was
sind schon die armen Heiden von Kap. 1, 19 f. mit ihrer
36
Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit neben der Gottlosigkeit
und Ungerechtigkeit dieses Menschen? Was ist schon der
fromme Heide, der dort, gewissermaßen präludierend, zu¬
nächst ins Auge gefaßt war, neben dem frommen Juden:
dem Mann der reinen, der nicht willkürlichen, sondern
an Gottes eigenem Wort orientierten Frömmigkeit und
Sittlichkeit? „Daher“ sagt Paulus eben zu diesem Mann,
will sagen: eben in dem und weil das in Kap. 1, 19 f.
Gesagte von den Heiden gilt, eben von dem Ort her, von
dem her es von jenen gesagt ist, gilt es — nicht nur auch
dir, sondern gerade dir. Gerade bei dir, gerade in deiner
Mitte, gerade in deinem Sein und Tun findet jene Offen¬
barung des Zornes Gottes über alle Gottlosigkeit und Un¬
gerechtigkeit der Menschen statt. Gerade „durch das Ge¬
setz“, d. h. durch das, was dich von der bösen Welt der
Heiden in der Tat und allen Ernstes unterscheidet und
ihr gegenüber auszeichnet, kommt es zur Erkenntnis, zur
objektiven Darstellung und Feststellung der Sünde, die
der Gegenstand des Zornes Gottes ist — so wird das letzte
Wort unseres Abschnittes (Kap. 3, 20) lauten. Du weißt
nur nicht, daß die Kritik, mit der du die andern kritisierst,
mit der du die ganze heidnische Welt betrachtest und ver¬
urteilst, gerade indem sie richtig ist, — du hast sie ja
aus dem Gesetz — vor allen anderen, vor der ganzen
Heidenwelt dich selber trifft, darum, weil eben du der
Mann bist, der das, was dort getan wird, nicht nur auch
tut, sondern zuerst tut (v. 1). Daß die Heiden mit ihrem
in Kap. 1, 19 f. geschilderten Sein und Tun unter dem Ge¬
richt Gottes stehen, das wissen wir und du hast wohl
recht, wenn du das auch siehst und sagst (v. 2). Es gibt
aber für dich viel Dringlicheres zu sehen und zu sagen.
Das Gericht Gottes erfolgt nämlich „der Wahrheit gemäß“.
Paulus wird in Vers 5 sagen: es ist das gerechte Gericht
Gottes und in Vers 16 ganz ausdrücklich: es erfolgt „ge¬
mäß meinem Evangelium durch Jesus Christus“ . Er ist
37
die Wahrheit, er ist die Gerechtigkeit Gottes. Das bedeutet
nun aber nach Vers 11: Das Gericht Gottes erfolgt „ohne
Ansehen der Person“, womit wörtlich gemeint ist: so, daß
Gott durch jede Maske hindurch auf die wirklichen Ge¬
sichter der Menschen sieht, so also, daß zwischen dem kri¬
tisierenden Juden und den kritisierten Heiden nicht nur
kein Unterschied besteht, vielmehr gerade der kritisierende
Jude als der zuerst und eigentlich von Gott Verurteilte
dasteht, so daß die Sünde der Heiden, die Sünden der
bösen Welt eigentlich nur eine nachfolgende Illustration
zu der Sünde des Juden sind: so gewiß Gottes Gesetz, auf
das er sich beruft, tatsächlich in seine Hände gelegt ist, so
gewiß seine Verheißungen und Drohungen, wie in Vers 9
und 10 zweimal scharf betont wird, zuerst ihn, den Juden
und dann erst, indirekt, auch den Heiden angehen. Indem
Jesus Christus der Richter ist, sind alle Menschen — aber
wie sollte es anders sein: zuerst gerade die Juden, unter
denen er aufstand, nach ihrem Verhältnis zu dem Ge¬
setz gefragt, nach dem er richtet, dessen Vollstrecker er ist,
sind sie also nach ihrem Verhältnis zu ihm gefragt. Damit,
daß der Jude von dem in Kap. 1, 19 f. geschilderten Sein
und Tun des Heiden den kritischen Abstand nimmt, der
da allerdings am Platze ist, damit kann er selbst dem
Gerichte Gottes, das das Gericht Jesu Christi ist, nicht zu
entrinnen meinen: er, der eben das, was jene tun, zuerst
und eigentlich tut (v. 3). Es ist nämlich — und das ist es,
was er nicht übersehen, nicht verachten sollte — der
„Reichtum der Güte und der Geduld und der Langmut
Gottes“, es ist Gottes Gnade dem Menschen gegenüber,
die in seinem wahren und gerechten Gericht durch Jesus
Christus auf dem Plane ist (v. 4). Es handelt sich nicht
um irgendeine Verurteilung des Menschen, sondern um
seine Verurteilung durch das Evangelium, durch die gute,
die seine Errettung verkündigende und verbürgende Bot¬
schaft, daß er als der alte gottlose und ungerechte Mensch,
38
der er ist, sterben darf, ja in Jesus Christus, in seinem Tod
auf Golgatha schon gestorben ist, um nun, wieder in Jesus
Christus, dem Auferstandenen, ganz anders und neu leben
zu dürfen. Es leitet und treibt diese Verurteilung des
Menschen zur Buße, zur Umkehr seines Denkens und
Seins. So trifft sie ihn, den Juden, zuerst. So stellt sie
ihn zuerst unter den Zorn Gottes. Eben an diesem
(nicht: „auf diesen“!) wunderbar heilsamen Tag des Zor¬
nes und der Offenbarung des gerechten Gerichts Got¬
tes weiß aber der Jude — und er verkennt und verachtet
offenbar den gnadenvollen Sinn dieses Tages, des Tages
Jesu Christi! — nichts Besseres zu tun, als sich selbst
„Zorn anzuhäufen“ (wörtlich: Zorn wie einen Schatz zu
sammeln) — damit nämlich, daß er sich begnügt, immer
wieder zu sehen und zu sagen, wie schlimm es die Heiden
treiben, wie ganz anders er selbst ihnen gegenüber dasteht
(v. 5). Der Zorn Gottes, Gottes Urteil über den Menschen,
daß er sterben muß, um zu leben, ist nämlich nicht zum
Anhäufen, nicht zu einer selbständigen Betrachtung da,
weder sofern er den Heiden, noch sofern er den Juden an¬
geht. Und wer ihn im Blick auf andere anhäuft, der häuft
ihn eben damit für sich selber an. Wer im Blick auf die
anderen beim Todesurteil stehen bleibt, der besiegelt eben
damit sein eigenes. Gottes Urteil müßte zu Ende gehört
werden, wie es lautet: daß wir sterben müssen, um leben
zu dürfen — als Urteil der Güte, Geduld und Langmut
Gottes über alle menschliche Gottlosigkeit und Ungerech¬
tigkeit. Der Jude will es jedenfalls im Blick auf die ande¬
ren nicht zu Ende hören und eben damit offenbart er die
Verstocktheit und Unbußfertigkeit seines Herzens ihm ge¬
genüber und bleibt er selber unter ihm stehen als unter
seinem Todesurteil. Denn (v. 6) „Gott vergilt einem Jeg¬
lichen nach seinen Werken“. Vor dem Richterstuhl Jesu
Christi empfangen wir genau das, was uns zukommt, je
nach dem wir in unserem Sein und Tun solche sind, die
39
sein Urteil zu Ende oder eben nicht zu Ende hören wol¬
len, um daraufhin dann auch seinen Anfang: daß wir als
Sünder unter Gottes Zorn stehen und sterben müssen,
restlos ernst zu nehmen und also eben auf jenes selige
Ende hin ernstlich Buße tun. In unserer Entscheidung
der offenbaren Gnade Gottes gegenüber stehen und fal¬
len wir damit, daß wir sie Gnade, unverdiente Wohltat
Gottes für andere und für uns selbst sein oder eben nicht
sein lassen. Der Jude beweist mit seiner Kritik der Heiden,
daß er nicht Gnade sein lassen will und daran wird gerade
er, er zuerst, zu Schanden kommen. Das ist seine Verken¬
nung Gottes, sein Ungehorsam, dem gegenüber sich aller
Götzendienst und alle Unsittlichkeit der frommen und un¬
frommen Heiden wirklich nur wie ein schwaches Spiegel¬
bild ausnehmen. Wie das ist, wenn Gott einem Jeglichen
vergilt nach seinen Werken, das wird in Vers 7—10 ent¬
faltet im Lichte der Feststellung von Vers 11: daß diesem
Kriterium Gottes gegenüber keine Maske — und die ganze
vermeintliche Sonderstellung der Juden ist eine Maske —
tauglich ist, daß Gott (v. 16) gerade bei seiner Beurteilung
der Werke des Menschen ihre Herzen erforscht. Vers 7 — 10
variieren den einen Gedanken: zuerst der Jude, dann
auch der Grieche ist dem Zorne Gottes, ist seinem Urteil,
daß der Mensch des Todes schuldig ist (Kap. 1, 32) ver¬
fallen, sofern er das böse Werk der Unbußfertigkeit, sofern
er nicht das gute Werk der Buße wählt und tut. Denn
darum geht es nach dem ganzen Zusammenhang und
nach dem Wortlaut: es würde sich darum handeln, der
Wahrheit gehorsam zu werden statt der Ungerechtigkeit
(v. 8). Es würde sich also darum handeln, Gottes Gnade
in seinem Gericht als Gnade anzunehmen und eben dar¬
um auch sein Gericht sich gefallen zu lassen, darum Buße
zu tun. Es würde sich handeln um die Beharrlichkeit in
diesem guten Werk als dem rechten Weg zur Herrlichkeit,
zur Ehre, zur Unvergänglichkeit (v. 7). Es würde sich han-
40
dein um die Treue des Glaubens, der in Gottes gerechtem
Urteil das Wort seiner Barmherzigkeit hört und annimmt.
Wer dieses Werk täte, der würde Herrlichkeit, Ehre und
Frieden tatsächlich erlangen (v. 10). Wer aber dieses Werk
nicht tun will, wer jene Streitlust (vielleicht: Lohnarbei
tergesinnung) an den Tag legt, die die Haltung der Juden
den Heiden gegenüber kundgibt und in dieser Streitlust
die Unbußfertigkeit, die keine Gnade begehrt und die sich
darum auch nicht beugen mag, was kann der von diesem
Richterstuhl anderes erwarten, als eben Zorn und Grimm,
Trübsal und Angst (v. 8 — 9)? Er hat das alles schon ge¬
wählt, er hat sich selbst schon gerichtet, indem er in dieser
Verfassung vor diesen Richterstuhl gestellt ist.
Warum hilft es dem Juden nichts, sich darauf zu be¬
rufen, daß er und er allein doch das Gesetz Gottes habe,
kenne und halte? Es hilft ihm nach Vers 12 — 16 darum
nichts, weil Gott — der Gott, der jetzt in Jesus Christus
sein Urteil über den Menschen spricht — die Herzen er¬
forscht. Daraus folgt, daß die, die das Gesetz haben, und
die, die es nicht haben, vor derselben Frage stehen: Tun
sie oder tun sie nicht, was gerade das Gesetz fordert? Tun
sie es nicht, so sind sie mit dem Gesetz ebenso verloren
wie ohne das Gesetz (v. 12). Es geht im Gericht Jesu
Christi nicht darum, ein Hörer, sondern ein Täter des Ge¬
setzes zu sein (v. 13). Und es gibt (v. 14 — 15) Täter des
Gesetzes, die durchaus nicht im Sinn der Juden auch seine
Hörer sind. Es gibt nämlich Menschen, denen sein Gesetz
in wunderbarer Erfüllung der Verheißung von Jer. 31, 33
in ihr Inneres gelegt und in ihre Herzen geschrieben, ja
denen er in Erfüllung von Hesek. 11, 19; 36, 26 ein neues
Herz gegeben hat, so daß sie nun sich selber Gesetz sind
und in ihrer menschlichen Natur, ohne das Gesetz zu haben,
tun, was das Gesetz fordert, deren Gewissen die Stätte ist,
da die Verbote und Gebote des Gesetzes mit ihren Anklagen
und Rechtfertigungen sich gegenüberstehen in Form ihrer
41
eigenen Gedanken: obwohl sie das Gesetz nicht haben, ob¬
wohl sie von Natur Heiden sind. Paulus wird in Vers 26 f.
nochmals auf diese merkwürdigen Täter des Gesetzes, die
es doch so wie die Juden nicht gehört haben, auf diese
Beschnittenen ohne Beschneidung zurückkommen. Es war
schon im Blick auf diese andere Stelle in diesem Kapitel,
aber auch im Blick auf jene Prophetenworte, auf die hier
offenbar Bezug genommen ist, sehr töricht, wenn man ge¬
meint hat, daß Paulus in Vers 14 — 15 von irgendwelchen
Heiden geredet habe, die auf Grund eines ihnen in die Her¬
zen geschriebenen sittlichen Naturgesetzes das Gesetz fak¬
tisch erfüllten. Zu dem, was in Kap. 1, 19 — 32 über das Sein
und Tun der Heiden gesagt ist und zu Kap. 3, 9 und 3, 19
würde das offenbar ebenso schlecht passen wie die Deutung
von Kap. 1, 19 — 21 auf eine den Heiden eigene natürliche
Gotteserkenntnis. Die Heiden, die Paulus in Vers 1 4 — 15 den
Juden gegenüberstellt, sind ganz einfach die Yleidencbristen
(Paulus hat sie z. B. in Kap. 11, 13; 15, 9 ebenfalls in die¬
ser verkürzenden Weise angeredet), denen durch Gottes
Wundertat in Jesus Christus eben das widerfahren ist,
was in jenen Prophetenworten dem Volk Israel zugesagt
war, denen Gott seinen Heiligen Geist und damit ein
neues Herz gegeben hat, das Gottes Willen erkennt,
und zwar so erkennt, daß sie ihn nun auch tun und
vollstrecken dürfen, so daß sie jetzt — eine allerdings un¬
geheuere Umkehrung — den Israeliten, sofern diese nicht
denselben Weg geführt wurden, sofern sie noch da drüben
in der widerstrebenden Synagoge versammelt sind, gegen¬
überstehen als Bestätigung der Anklage: gerade dort wird
Gottes Gesetz zwar gelesen, aber nicht getan, weil dort das
gute Werk der Buße nicht getan, weil dort die Gnade nicht
als Gnade gelten gelassen, sondern gelästert wird.
Es hilft aber, so wird jetzt in Vers 17 — 24 weiter gezeigt,
dem Juden auch das nichts, daß er sich um das geschrie¬
bene Gesetz Gottes, um das Halten der 10 Gebote insbe-
42
sondere zweifellos bemüht, daß er den „sittlich-ethisch¬
moralischen Standpunkt“ (wie in Vers 17 — 20 ausführlich
beschrieben) in Theorie und Praxis zweifellos einnimmt
und als solchen eindeutig sichtbar macht. Es ist wohl Iro¬
nie in diesen Worten, aber doch nicht nur Ironie, sondern
ernste Anerkennung der den Juden in der heidnischen
Hauptstadt und in der heidnischen Welt überhaupt tat¬
sächlich gegebenen Stellung und Mission. Israel ist ja nach
so manchem Wort des Alten Testamentes das, als was es
hier beschrieben wird: „ein Führer der Blinden, ein Licht
derer, die in der Finsternis sind, ein Lehrer der Unmündi¬
gen“. Es hat in seinem Gesetz tatsächlich „die Verkörpe¬
rung (die Gestalt) der Erkenntnis und der Wahrheit“. Aber
doch nur deren Gestalt und bei allem Eifer, in dieser Ge¬
stalt zu leben, nicht die Erkenntnis und die Wahrheit sel¬
ber. Denn die Erkenntnis und die Wahrheit, der Inbegriff
und die Summe des Gesetzes ist (vgl. Kap. 10, 4) Jesus
Christus. In ihrem Verhältnis zu ihm aber sind die Juden
nidit nur keine Täter des Gesetzes (v. 12 — 16), sondern
seine Übertreter (v. 23), brechen sie alle 10 Gebote, er¬
füllen sie also jene erhabene Funktion Israels in der Welt
gerade nicht, machen sie Gott nicht Ehre, sondern bereiten
sie ihm — und das ist in Hesek. 36, 20 von ihnen ge-
weissagt — Schande unter den Heiden. Man muß die
Schilderung in Vers 21 — 22 wohl wörtlich, aber nicht etwa
als eine Schilderung besonderer Greueltaten oder schlech¬
ter Gewohnheiten verstehen, die Paulus dem zeitgenössi¬
schen Judentum vorzuwerfen hatte. Diebe, Ehebrecher,
Tempelschänder sind die Juden in dem, was sie mit Jesus
Christus gemacht haben an dem Tag von Golgatha und
nun trotz seiner Auferstehung immer noch mit ihm ma¬
chen in der Ablehnung der frohen Botschaft von der in
ihm erschienenen Gnade in der Verfolgung der diese Gnade
preisenden Gemeinde. Wer hat seinen Messias und mit
ihm seinen Gott den Heiden ausgeliefert? Und wer wieder-
43
holt das immer wieder? Daß der Jude sich dessen schuldig
gemacht hat und noch macht, das raubt ihm — und ihm,
wie gerade hier ersichtlich, zuerst — die Möglichkeit, vor
Gott eine Ehre zu haben, die ihn gegenüber der alle Men¬
schen angehenden Anklage entschuldigen würde.
Und nun hilft dem Juden (v. 25 — 29) auch seine Be¬
schneidung nichts und nichts seine damit physisch bezeich-
nete Aussonderung von den Heidenvölkern. Denn die Be¬
schneidung bezieht sich auf das Gesetz. Sie bezeichnet die
Aussonderung zum Halten des Gesetzes. Wird das Gesetz
aber nicht gehalten — und es wird von den Juden, wie
gezeigt, faktisch nicht gehalten, sondern gebrochen — fällt
also jene Aussonderung faktisch dahin, befinden sie —
und sie zuerst — sich dort, wo sich die Heiden befinden:
als Gottlose und Ungerechte unter dem Zorne Gottes, dann
kann daran auch das Zeichen der Beschneidung nichts
ändern (v. 25). Wieder sind dann die Juden faktisch be¬
schämt durch die Existenz von Unbeschnittenen, welche,
indem sie Buße tun und glauben, die Forderungen des
Gesetzes halten und erfüllen und deren Unbeschnittenheit
ihnen daraufhin als Beschnittenheit angerechnet wird, wel¬
che also daraufhin in Gottes Augen und damit in Wirk¬
lichkeit Israels und aller Verheißung Israels teilhaftig sind
(v. 26). Die Existenz dieser von Natur Unbeschnittenen —
Paulus redet wieder von den Heidenchristen — wiederholt
jetzt das Urteil über die Beschnittenen, die es offenbar nur
äußerlich, nur dem Buchstaben nach sind (v. 27). Denn
wer ist eigentlich — vor Gott und also in Wirklichkeit —
ein Jude, ein Kind Abrahams, ein Angehöriger des Volkes
des Mose, ein Erbe der Verheißungen Davids? Nicht der,
der es nach Rasse und Blut und nicht der, der es auf
Grund der an seinem Leibe vollzogenen Beschneidung,
kurz, nicht der, der es „offenkundig“ in den Augen und
in der Meinung der Menschen ist (v. 28), sondern der, der
es ist in der Verborgenheit des Herzens, in die Gott sieht
44
und im Blick auf die Gott richtet und sondert zwischen
Reinen und Unreinen, zwischen denen, die die Seinen und
denen, die nicht die Seinen sind. Der Jude würde als
solcher zu loben sein, der in jener Verborgenheit nicht
menschliches sondern göttliches Urteil lobenswert finden
und tatsächlich loben würde (v. 29). Aber das würde ja
der Christ sein — gleichviel, ob aus den Heiden oder aus
den Juden: der Christ, der Gottes Gnade preist und dar¬
um sein Gericht annimmt, darum vor der göttlichen Ver¬
urteilung nicht auf der Flucht ist, darum sich ihr gegen¬
über nicht zu retten sucht, sondern sich ihr preisgibt, um
sich der Barmherzigkeit dessen zu rühmen, der ihn zum
Tode verurteilt. Der Jude, der sich entschuldigen will,
weil er sich für eine Ausnahme hält, tut das nicht. Eben
darum fehlt ihm jenes Lob und eben darum ist und bleibt
gerade er gänzlich unentschuldigt (v. 1).
Wir haben es in der Fortsetzung Kap. 3, 1 — 8 mit einer
Reihe von Bemerkungen zu tun, die gewissermaßen Zwi¬
schenrufe, die sich hier einstellen könnten und zur Zeit
des Paulus wohl tatsächlich alle irgendwie eingestellt haben,
nebst den kurzen Antworten des Paulus zur Sprache
kommen, wobei es, bis Vers 9 der Faden wieder aufge¬
nommen wird, kaum möglich ist, einen eigentlichen Ge¬
dankengang aufzuzeigen.
Vers 1 — 2: Hat denn das Judentum und die Beschnei¬
dung gar keinen Wert, keine reale und bleibende Aus¬
zeichnung? Paulus antwortet, daß dies das größte Mi߬
verständnis wäre. Die Juden sind und bleiben das Volk,
dem die Worte, die Offenbarungen Gottes, bis und mit der
Person Jesu Christi selbst anvertraut wurden und anver¬
traut bleiben, bei dem also die Heiden, indem sie zum
Glauben kommen, immer nur gleichsam zu Gaste sein
können. Es bleibt dabei: „Das Heil kommt von den Judenc<
(Joh. 4, 22).
45
Vers 3 — 4: Bedeutet die Tatsache, daß einige (es sind
sehr viele!) der Juden jetzt nicht glauben, nicht eine Auf¬
hebung der Treue Gottes? Warum hat der treue Gott
nicht einfach alle Glieder seines Volkes zu Getreuen ge¬
macht? Paulus antwortet: Die Treue Gottes kann nicht
aufgehoben werden. Sie ist aber die Treue seiner Wahr¬
heit, d. h. seiner Offenbarung, der gegenüber jeder Mensch
als solcher als ein Blinder oder vielmehr aktiv: als ein
Lügner dasteht. Gott ist also keinem verpflichtet, an kei¬
nen gebunden, auch nicht an die Glieder seines Volkes.
Gibt es in diesem Volk Widerspruch gegen ihn, Abfall von
ihm, dann zeigt sich darin nur um so gewaltiger, daß es
seine Gnade ist, wenn es auch Glaubende gibt, daß er in
seinem Richten gerade sich selbst — nur danach kann doch
gefragt werden! — treu bleibt, sofern es immer nur seine
Barmherzigkeit sein wird, deren sich die durch ihn Ge¬
rechtfertigten rühmen können (Paulus wird auf diese zwei
ersten Fragen in den Kapiteln 9—11 ausführlich zurück¬
kommen).
Vers 5 — 6: Ist es aber so, wie Vers 3 — 4 behauptet:
warum und mit welchem Recht zürnt dann Gott über
die, die ihm den Gehorsam des Glaubens nicht leisten?
Paulus antwortet: Gott ist und bleibt der Weltrichter, ob¬
wohl und indem er auch und gerade die Ungerechtigkeit
der Menschen dazu dienen läßt, seine Gerechtigkeit als
solche, seine Treue gegen sich selbst und also seine Gnade
zu offenbaren. Tötet er, um lebendig zu machen, so kann
es doch nicht anders sein, als daß er immer tötet, um leben¬
dig zu machen. Wer dürfte und könnte sich gegen Gott
auf Gott berufen?
Vers 7 — 8: Eine verschärfte Wiederholung der voran¬
gehenden Frage: Also die Wahrheit, die Offenbarung
Gottes wird erhöht, sie triumphiert gerade durch das
Mittel der menschlichen Lüge, von der sie sich in der
Rechtfertigung der Glaubenden strahlend abhebt? Pau-
46
lus hat in Kap. 5, 20 tatsächlich geschrieben: „Wo die
Sünde groß wurde, da eben ist die Gnade übergroß ge¬
worden.“ So dient also meine Lüge diesem Übergroßwer¬
den, diesem Strahlen der Gnade und also der Ehre Gottes?
Warum stehe ich dann unter dem Gericht? Haben die
nicht recht, denken die nicht konsequent, die daraus ma¬
chen: „Lasset uns Böses tun, damit Gutes daraus werde?“
Die Antwort des Paulus ist gerade hier so kurz wie die
Frage lang ist. „Derer (die so reden) Verdammnis ist als
gerechte (Verdammnis) fällig“. Warum so kurz? Weil man
Narren und ganz besonders konsequenten Narren nur
kurz antworten kann und soll. Und in jener langen Frage
ist Alles Narrheit, Alles verkehrt: Das, was Paulus in
dem ganzen Abschnitt das Böse genannt hat, die Unbu߬
fertigkeit, die Verwerfung Jesu Christi, der Unglaube, das
kann man offenbar nicht tun, damit Gutes daraus werde,
damit darin die Gnade triumphiere! Und wer umgekehrt
den Triumph der Gnade will, der wird offenbar das Gute
und nicht das Böse wollen, der wird nicht lügen, sondern
Buße tun und damit der Wahrheit gehorsam sein. Was
Gott mit der Lüge und mit dem Lügner macht, ist seine
Sache. Wir aber sind von Gott nicht aufgerufen, zu lügen,
sondern der Wahrheit und so ihm die Ehre zu geben.
Und nun die Zusammenfassung des Ganzen in Vers 9 — 20 :
Es gibt dem Gericht Gottes gegenüber keinen Vorzug
eines Menschen. Es sind Juden und Heiden, es sind die
Menschen als solche alle unter der Sünde, d. h. unter der
Herrschaft, unter der sie Gegenstand des Zornes Gottes
sein und bleiben müssen. Das ist es, was das Ganze, gerade
in den Händen der Juden befindliche Alte Testament, das
nun in Vers 11 — 18 in einer langen Reihe von einzelnen
Worten zur Sprache kommt, zu dieser Sache zu sagen hat.
Man muß zum Verständnis aller dieser Sprüche bedenken,
daß Paulus in ihnen nicht nur diesen und jenen Prophe-
47
ten und Psalmisten, sondern überall Jesus Christus selber
reden hört als den, der vom Alten Testament bezeugt ist
und der im Alten Testament durch die Stimme der Väter
Zeugnis von sich selber gibt. Er richtet. Sein Gesetz ist das
Gesetz, von dem Vers 19 sagt, daß es zu allen rede, die
unter dem Gesetz sind, d. h. an die es sich richtet, denen es
begegnet. Es begegnet im Evangelium der ganzen Welt und
eben darum und insofern wird durch das Gesetz, genauer
gesagt: durch den Richter, der das Gesetz anwendet und
vollzieht, jeder Mund gestopft, die ganze Welt vor Gott
schuldig erklärt. Vor dem Gesetz Gottes als solchem und
für sich steht nach Vers 20 alles Fleisch, die ganze Mensch¬
heit ungerechtfertigt da mit allen ihren Werken. Eine
andere, eine radikal erneuerte Menschheit müßte das sein,
die mit ihren Werken vor Gott und seinem Gesetz gerecht¬
fertigt dastehen würde. Paulus hat in Kap. 2 (v. 14 — 15
und 26 — 29) bereits angedeutet, daß es eine solche neue
Menschheit gibt und wo sie zu finden ist. Sieht er von dieser
Möglichkeit, vielmehr von dieser neuen Wirklichkeit (Kap.
3, 21 f.!) ab, dann muß es dabei bleiben: was durch das Ge¬
setz, was aus dem Evangelium selbst, sofern es Gottes Ge¬
setz ist, folgt, das ist (v. 20) die Erkenntnis der Sünde: die
Offenbarung der göttlichen Verurteilung des Menschen, der
uns als solcher zu unterwerfen uns zu unserem Heil ge¬
boten und zu unserem reichen Trost erlaubt ist.
48
3,21—4, 25
Das Evangelium als göttliche Gerecht¬
sprech ung der Glaubenden
Uns ist es zu unserem Heil erlaubt und zu unserem
reichen Trost geboten, uns der göttlichen Verurteilung zu
unterwerfen, weil es ja das Evangelium ist, das uns sol¬
chen Zorn Gottes offenbart. Es ist ja dieser Zorn Gottes
doch nur die harte, bittere Schale, in der wir Gottes Rechts¬
entscheidung freilich entgegennehmen müssen — und nun
doch auch wirklich dürfen! Denn für die, die sie entgegen¬
nehmen, ist gerade sie das allmächtige Werk ihrer Er¬
rettung (Kap. 1, 16). Wozu die göttliche Verurteilung des
Menschen in Kap. 1, 18 — 3, 20, jene Anklage gegen Alle
und Jeden (Kap. 3, 9), jenes Verstopfen jedes rechthaberi¬
schen Mundes (Kap. 3,19), jene Aufdeckung der Sünde durch
die Anwendung des Gesetzes Gottes (Kap. 3, 20)? Was will
der Richter Jesus Christus, indem Juden und Griechen
ohne Ausnahme vor seinem Stuhl solches widerfährt? Und
was wollte Paulus, indem er in jenem ersten Teil des
Römerbriefes an dieses Gericht erinnerte? Es geht, so wer¬
den wir nun in der Fortsetzung hören, gerade in diesem
Bericht nicht um die Verwerfung der Menschen, sondern
wirklich um ihre Errettung, um Heil und Seligkeit. Um sie
zu empfangen, stehen wir vor diesem Richter und um uns
zu diesem fröhlichen Empfangen einzuladen und aufzu¬
fordern hat Paulus uns an das Gericht dieses Richters er¬
innert.
Aber wie? Haben denn die Menschen ihre Verwerfung
nicht verdient? Ist ihre Verurteilung nicht vollzogen? Ist
49
etwas anderes als die Vollstreckung des Zornes Gottes in
ihrer Bestrafung jetzt noch zu erwarten? Wird Paulus
von etwas anderem als von Tod und Hölle (Kap. 1, 32)
jetzt noch reden können? Oder war jene Verurteilung
vielleicht so ernsthaft gar nicht gemeint? Ist sie irgendwie
zurückgenommen? Hat Gott nachträglich mit sich reden,
sich etwas abmarkten lassen aus irgend einer launischen
Güte? Besteht darin die Liebe Gottes: daß es so gefährlich
nicht ist mit seinem Zorn, wie es zuerst wohl aussehen
mag, daß er in Wirklichkeit auch anders kann? Sollte das
das Geheimnis des Evangeliums sein, der gute Kern in der
harten Schale: es ist nicht so gefährlich, Gott kann auch
anders?
Die Fortsetzung unseres Briefes redet nun aber weder
davon, wie die Menschen von Gottes Zorn verdientermaßen
verzehrt und vernichtet werden, noch von einer solchen in
ihrer Weichheit sehr verdächtigen Liebe und Güte Gottes.
Sie redet vielmehr weiter und nun erst recht von Gottes
Rechtsentscheidung. Man merke wohl: nicht von ihrer Sus¬
pendierung, nicht von einer Amnestie, nicht von einem
Gnadenerlaß, sondern von Gottes Rechtsentscheidung, so
wie sie wirklich vollzogen ist und vollständig lautet und
wie der Mensch sie auch hören und verstehen darf,
wenn er sie nur annimmt, wenn er sie nur wirklich auf
sich bezieht, sich selbst nicht für eine Ausnahme hält, den
sie nicht angehe. Sie lautet nämlich, wie Jeder hören kann,
der sie vollständig hört und vollständig auf sich bezieht —
Jeder, der glaubt, hat Paulus schon in Kap. 1, 17 gesagt
und wird er jetzt wieder sagen — dahin, daß er nicht ver¬
dammt, auch nicht irgend einer bloßen Amnestie teilhaftig
gemacht, sondern von Gott freigesprochen, für unschuldig
erklärt und also gerecht gesprochen ist. Weil gerecht ge¬
sprochen, darum und damit in den Frieden mit Gott ver¬
setzt, so wird dann in Kap. 5, 1 f. weiter gezeigt werden.
Zunächst aber ist dies zu verstehen: gerecht gesprochen
50
in Gottes strengem, wahrhaftigem, die Herzen erforschen¬
dem und kein Ansehen der Person kennendem Gerichte.
Es war die ganze lange, harte Stelle in Kap. 1, 18 — 3, 20
eine einzige Erklärung der Tatsache: Du bist der Mann!
— der Mann nämlich, der von Gottes Rechtsentscheidung
betroffen ist und sich selbst als betroffen erkennt, wer es
also annimmt: Ja, ich bin der Mann!, der soll jetzt weiter
hören: Du bist der Mann, den Gott gerecht gesprochen
hat! Und der soll jetzt wieder antworten: Ja, ich bin dieser
Mann!, ich darf es und ich will es auch sein. Daß das der
gute Kern in der harten Schale ist, davon redet der Ab¬
schnitt in Kap. 3, 21 — 4, 25. Er redet vom Evangelium als
der göttlichen Gerechtsprechung der Glaubenden.
Der Beginn von Vers 21 erinnert uns sofort an Kap. 1,17:
Gottes Gerechtigkeit ist offenbar gemacht. Aber der grie¬
chische Ausdruck, den Paulus hier braucht, ist ein anderer,
speziellerer, der weniger von dem Enthülltwerden als von
dem Sichtbarwerden eines bis jetzt Verborgenen redet. Und
Paulus fügt ja auch im Unterschied zu Kap. 1, 17 hinzu:
„Ohne Zutun (eigentlich: außerhalb) des Gesetzes“. Und er
sagt am Anfang: „Jetzt aber“. Dieses „Jetzt aber“ stellt
die in Kap. 1, 18 — 3,20 beschriebene Off enbarung der gött¬
lichen Rechtsentscheidung in Gegensatz eben zu der fal¬
schen Meinung, die nach jener Schilderung aus einem
falschen jüdischen oder heidnischen Denken sich erheben
könnte: als ob jetzt nur entweder unsere Verdammung
oder ein weichliches Verzeihen Gottes Platz greifen
könnte. Nein, jetzt ist gerade Gottes Rechtsentscheidung
als solche als Akt seiner Gerechtigkeit, der nun doch nicht
unsere Verdammnis bedeutet, sichtbar geworden. Man be¬
merke, wie in Vers 25 — 26 daran festgehalten wird und
wie der Begriff der Gerechtigkeit den Schluß des dritten
Kapitels und dann das ganze vierte Kapitel auch sonst
beherrscht: es geht um den Erweis der Gerechtigkeit Got-
51
tes, aber eben um ihren Erweis , um das Sichtbarwerden
des wirklichen vollständigen Inhalts seiner Rechtsentschei¬
dung, durch das jene falschen Meinungen zum vornherein
zunichte gemacht werden. Die Worte „außerhalb des Ge¬
setzes“ stecken zunächst einmal einen leeren Raum ab.
Was sie positiv bedeuten, kann erst nachher sichtbar wer¬
den. Blicken wir voraus auf Vers 31, so ist das ganz
sicher: sie können nicht bedeuten, daß das Gesetz aufge¬
hoben, zerbrochen, außer Kraft gesetzt ist. Wenn irgend¬
wo, so sagt Paulus dort, dann wird das Gesetz durch das,
was wir jetzt von Gottes Rechtsentscheidung auf Grund
seiner Offenbarung zu sagen haben, in Kraft und Geltung
gesetzt. Wir sollen aber — und das sagen die Worte „außer¬
halb des Gesetzes“ — um diese Rechtsentscheidung zu
verstehen, nicht auf das Gesetz sehen, d. h. nicht auf das,
was Gott von Menschen will und fordert und nicht auf
unser Tun, mit welchem wir alle es nach Kap. 1, 18 — 3, 20
nicht erfüllen. Wir sollen das, was das Evangelium in
Einklang mit Mose und den Propheten hinsichtlich des
Gesetzes allerdings auch zu sagen hat, (und also zu sagen
hat von unserer notwendigen Verurteilung!), als Zeugnis
verstehen, durch das wir auf den Kern der Sache, wie
in Kap. 1, 18 — 3, 20 geschehen ist, hingeleitet, vorbereitet,
durch das wir zum Hören des vollen Gehaltes jener Rechts¬
entscheidung aufgerufen werden. Was aber ist dieser ihr
eigentlicher voller Gehalt? Es ist (v. 22) die durch den
Glauben an Jesus Christus , d. h. durch die Botschaft von
diesem Glauben und für den Glauben an diese Botschaft
offenbarte und wirksame und so zu jedem Glaubenden
kommende Rechtsentscheidung. Auf ihn und nicht auf das,
was Gott von uns verlangt und fordert, noch auf unser
dieser Forderung so gar nicht entsprechendes Tun sollen
wir sehen, um sie zu verstehen. Wir sollen auf den Richter
selbst sehen. Wollten wir von ihm weg, an ihm vorbei¬
sehen, dann bekämen wir nur das zu sehen (v. 23), was
52
nach Kap. 1, 18 — 3, 20 freilich unleugbare Wirklichkeit ist:
„Da ist kein Unterschied, sie alle haben gesündigt und er¬
mangeln der Ehre vor Gott“. Aber wir sollen eben nicht
an ihm vorbei, wir sollen nicht auf das Gesetz sehen, sonst
würden wir ja Gottes Rechtsentscheidung gerade nicht so
annehmen und von dorther, woher sie kommt auf uns be¬
ziehen, wie sie lautet. Wollten wir auf das Gesetz sehen,
so wären wir nach Kap. 1, 18 — 3, 20 noch einmal zu fragen:
ob wir es noch nicht verstanden haben, daß wir verurteilt,
daß wir gar nicht in der Lage sind, dem Gesetz ins Auge
zu sehen und uns an ihm zu messen? Wir sollen und
dürfen also statt dessen „außerhalb des Gesetzes“ den
Richter ansehen und aus seinem Munde hören, daß eben
die, die laut des von ihm verkündigten und angewendeten
Gesetzes Sünder sind und vor Gott keine Ehre haben
(v. 24), indem sie sich an ihn halten, indem sie an ihn
glauben, gerecht gesprochen sind. Das ist nun allerdings
reines Geschenk, nicht ihr Verdienst — wo sollten sie ein
solches schon her haben? — sondern Gottes Gnade: das freie
Werk göttlicher Huld und Gunst, das sie in keiner Weise
provoziert, auf das sie keinerlei Anspruch haben. So lügt
Gott, indem er sie gerecht spricht, da sie es doch nicht sind?
Nein, gerade in diesem Wort der Gnade redet er die Wahr¬
heit, übt er strengste Gerechtigkeit. Sie werden nämlich
darum gerecht gesprochen, weil sie in Jesus Christus er¬
löst, d. h. weil sie durch ihn von der ganzen Herrschaft
der Sünde, unter der sie laut des Gesetzes stehen und von
dem ganzen Fluch, der sie deshalb laut des Gesetzes tref¬
fen müßte, ein für allemal losgekauft sind: wie Sklaven,
für deren Befreiung bezahlt ist und auf die ihr alter Herr
deshalb keinen Anspruch mehr hat. Denn was ist gesche¬
hen? Eben der Richter, vor dem sie alle zur Verantwortung
gezogen sind, vor dem sie alle als Übertreter und Ver¬
lorene dastehen, ist (v. 25), indem er als Mensch sein Blut
vergossen, sein Leben dahingegeben hat, zum Versöhnungs-
53
opfer geworden für das ganze Volk derer, die an ihn
glauben. Er hat die ihrer Verurteilung notwendig folgende
Strafe, er hat die ganze Auswirkung des Zornes Gottes
auf sich genommen. Sie hat also in seinem Tode bereits
ihren rechtmäßigen Lauf gehabt. Gottes Geduld gegenüber
der Ungerechtigkeit und Gottlosigkeit der Menschen hat in
seinem Tode ihr Ende und Ziel erreicht. Gott hat mit sei¬
nem Tode mit den Sündern den nötigen zornigen Schluß
gemacht. Eben damit ist aber die Schuld — nicht die seinige
aber die seines Volkes, für das er als Opfer eingetreten
ist — getilgt, so daß es in diesem seinem Volk keinen Un¬
gerechten mehr gibt. Die sein Volk sind — und das sind
die, die an ihn glauben — , sind gerecht, sind unschuldig, sind
rein. Denn mit ihrer Ungerechtigkeit und Gottlosigkeit, mit
ihnen als Sündern ist im Tode des Richters Jesus Christus,
vor dem sie stehen und dessen Urteil sie annehmen, tat¬
sächlich Schluß gemacht. Daß sie sein Volk sein und im
Glauben an ihn sein Urteil annehmen dürfen, das ist un¬
verdient, das ist Geschenk, das ist Gnade. Aber daß Gott
sie gerecht spricht, das ist das Wort lauterster Wahrheit,
das ist der Akt seiner strengsten Gerechtigkeit. Es ist, wie
wenn Paulus das (v. 26) fast nicht stark genug betonen
könnte: es geht um den Erweis, um die Sichtbarmachung
der Gerechtigkeit Gottes in dem, was das Evangelium der
Gegenwart — und als Begründung einer ganz neuen ein¬
zigartigen Gegenwart! — zu sagen hat. Als der Gerechte
handelt Gott, indem er den gerecht spricht, der „aus dem
Glauben“ an Jesus ihm gegenübertritt, der „aus dem
Glauben“ an den für ihn gerichteten Richter zur Unter¬
werfung unter dessen Urteil, zu der Anerkennung: Ich
bin der Mann! gekommen ist. Um die Wiederholung, Er¬
klärung und Erläuterung der in Vers 21 — 26 ausgespro¬
chenen christlichen Erkenntnis von unserem in Jesus Chri¬
stus geordneten Rechtsverhältnis zu Gott wird es nun im
ganzen Römerbrief gehen. Daß uns im Glauben an Jesus
54
Christus dieser Rechtsgrund unserer Existenz vor Gott
und damit Alles, wirklich Alles gegeben ist, das ist es,
was Paulus das Evangelium nennt.
Was als übriger Inhalt des Abschnittes Kap. 3, 21 — 4, 25
folgt, steht unter einer doppelten Absicht. Paulus wird
sich darüber erklären, daß und inwiefern dieses Sicht¬
barwerden der göttlichen Rechtsentscheidung als Gerecht-
sprechung aller Glaubenden keine neue Offenbarung, son¬
dern (v. 21) „vom Gesetz und den Propheten“, vom Alten
Testament also, bezeugt und also seinerseits nur die Be¬
stätigung der Wahrheit des Alten Testamentes ist. Und
Paulus wird sich gerade im Zug dieser Auseinander¬
setzung darüber erklären, was es mit dem Glauben an
Jesus Christus, in welchem jene göttliche Rechtsentschei¬
dung sichtbar wird, auf sich hat.
Wir haben es zunächst in Vers 27 — 31 ähnlich wie in
Vers 1 — 9 mit einer kleinen Serie von einzelnen Zwischen¬
fragen und deren Beantwortung zu tun. Bei der in Kap. 4, 1
auftauchenden Frage wird Paulus dann stehen bleiben,
um ihr den übrigen größeren Teil unseres Abschnittes zu
widmen.
Vers 27 a: Wo bleibt nun der Ruhm, der Ruhm eines
Menschen nämlich, der sich der göttlichen Rechtsentschei¬
dung gegenüber für unangefochten halten möchte? Ant¬
wort: Er ist ausgeschlossen. Indem die Ehre des Menschen
in Jesus Christus rechtmäßig wiederhergestellt ist, ist
(v. 23) darüber entschieden, daß der Mensch für sich, von
Jesus Christus abgesehen, keine Ehre und also nichts hat,
dessen er sich vor Gott rühmen könnte.
Vers 27 b— 28: An welchem Gesetz, an welcher Norm ist
der Mensch gemessen, wenn dieses Harte von ihm gesagt
wird? An der Norm seiner Werke, seines Tuns und Nicht-
tuns? Antwort: Nein, denn an diesem Gesetz gemessen
möchte dem Menschen neben viel Schande einiger Ruhm
wohl auch zuzubilligen sein. Menschen wie Abraham so-
55
gar sehr viel Ruhm (Kap. 4, 2!). Gemessen an dem Gesetz
des Glaubens aber, gemessen daran, daß der gerichtete
Richter unser Rechtsgrund ist, fällt jeder andere Rechts¬
grund dahin, hat der Mensch also keinen Ruhm. Daß er
als Glaubender gerechtfertigt wird, schließt aus, daß er
es durch seine Werke, durch sich selber wird. In dem Maß,
als er selbst dem Gesetz genug tun und damit sich selbst
rechtfertigen wollte, würde er an Jesus Christus vorbei¬
sehen, würde er nicht glauben und also nicht gerecht ge¬
sprochen sein. Wenn Luther in Vers 28 den Worten „durch
den Glauben“ das Wort „allein“ hinzugefügt hat, so hat
er damit genau das unterstrichen, was Paulus hier ohne
dieses Wort tatsächlich gesagt hat.
Vers 29 — 30: Oder sollte Gott — der Gott, der den Men¬
schen gerecht spricht — zwar der Juden, aber auch nur
der Juden und nicht der Heiden Gott sein? Sollte es vor
ihm gerechte Menschen nur in dem besonderen Bereich
seines auserwählten Volkes geben? Antwort: Er ist der
Gott der Juden und der Heiden; er erweist sich gerade in
der Ordnung des Rechtsverhältnisses zwischen ihm und
den Menschen durch Jesus Christus und den Glauben an
ihn als der eine Gott. Aller Monotheismus ist ein kaltes
Geschwätz, solange Gott nicht als der erkannt ist, der diese
Rechtsentscheidung vollzogen hat. Als dieser aber steht er
den Heiden nicht ferner als den Juden; diesen gegenüber
sollen die Juden ja nicht auf einen Ruhm zurückkommen
wollen, der ihnen erlauben würde, an Jesus Christus vor¬
beizusehen.
Vers 31: Bedeutet das alles nicht die Aufhebung des
Gesetzes? Wie steht es mit dem, was Gott von uns ver¬
langt und fordert, wie es im Alten Testament auf jeder
Seite zu lesen ist, wenn wir dahin in der Frage unserer
Gerechtigkeit vor Gott gerade nicht sehen sollen? Antwort:
Unmöglich! (Es steht hier im Griechischen ein Ausdruck,
den Paulus immer als Zeichen seines höchsten Entsetzens
56
gebraucht hat!) Paulus denkt nicht daran, das Gesetz auf¬
zuheben. Vielmehr: „Wir richten das Gesetz auf“. Wir
lehren das Gesetz verstehen, wie es auf jeder Seite des
Alten Testamentes eben das verlangt und fordert, daß wir
an Gottes Verheißung — an die jetzt in Jesus Christus er¬
füllte Verheißung glauben sollen. Wir predigen ja den
Gehorsam des Glaubens (Kap. 1, 5) und also wahrlich nicht
Gesetzlosigkeit, sondern die Geltung des Gesetzes. Gerade
Jesus Christus ist die Summe und der Inbegriff des Ge¬
setzes (Kap. 10, 4): indem er es erfüllt und indem er ihm
genug getan hat, indem er dem wirklichen Hörer des Ge¬
setzes nur den Glauben übrig läßt als den rechten tätigen
Gehorsam; den Glauben an ihn als den für uns gerichteten
Richter, durch den wir vor Gott allein, dafür aber auch
wirklich und vollständig, Gerechte sind.
Man sieht, daß alle diese Fragen wie schon die von
Kap. 3, 1 — 9 irgendwie im Zusammenhang mit der Frage
des rechten Verständnisses des Alten Testamentes stehen.
Von jüdischen, judenchristlichen aber sicher auch heiden¬
christlichen Lesern der heiligen Schriften Israels muß Pau¬
lus diese Fragen gehört haben. Bei der letzten von ihnen
(Kap. 4, 1) macht er Halt und ihrer Behandlung ist nun
das ganze vierte Kapitel gewidmet. Sie ist in der Tat
radikal und umfassend genug, um allen anderen gegen¬
über diesen Vorzug zu verdienen. Sie lautet nämlich:
„Was ist denn als das zu bezeichnen, was Abraham, unser
Vorvater nach dem Fleisch, gefunden hat?“ Abraham war
in der gewiß richtigen Sicht der damaligen Leser des Alten
Testamentes der Gerechte, der Typus aller übrigen Ge¬
rechten. Indem Paulus ihn „unseren Vorvater nach dem
Fleische“ nennt, bekennt er sich selbst als Juden, stellt er
sich selbst in die erste Reihe der hier nach dem rechten
Verständnis des Alten Testamentes Fragenden. Die Mei¬
nung der Frage in Kap. 4, 1 ist: Was machte denn den
57
Abraham zum Gerechten? Die Antwort verläuft in drei
Teilen: Vers 2 — 8, Vers 9 — 12, Vers 13 — 17 a, in welchen
nacheinander drei falsche Antworten abgewiesen und gleich¬
zeitig die rechte Antwort gegeben wird: daß der Glaube
den Abraham zu einem Gerechten machte, und einem
Schlußteil, Vers 17 b — 22, in welchem erklärt wird, welches
die Art und das Wesen des Glaubens des Abraham ge¬
wesen sei. In Vers 22 — 25 wird Paulus die Anwendung
machen und zugleich den in Kap. 3, 26 verlassenen Faden
seines Hauptgedankens neu aufnehmen.
Paulus sagt in Vers 2 — 8, daß Abraham durch sei¬
nen Glauben gerecht ist und nicht durch seine Werke.
Abraham hat freilich auch Werke, rühmenswerte Werke
aufzuweisen. Der Leser des Alten Testamentes denkt an
seinen Auszug aus seinem Vaterland, er denkt an Isaaks
Opferung. Aber wenn solche Werke Abrahams Ruhm im
Auge des Lesers sind, so ist sein Ruhm vor Gott nach
dem Wort der Schrift ein anderer. Sie sagt nämlich, daß
dem Abraham dies als Gerechtigkeit angerechnet wurde,
daß er Gott glaubte. „Als Gerechtigkeit angerechnet“ heißt:
als Gerechtigkeit angenommen, obwohl dieses Angenom¬
mene an sich, als Abrahams Tun, mit Gerechtigkeit nichts
zu tun hat bezw. nur dann etwas damit zu tun hat,
wenn es Abrahams Beziehung zu einem Rechtsgrund ist,
den er selber nicht schaffen kann, der als solcher außer
ihm liegt, der ihm gegeben sein muß, so daß sein Glaube
ihm daraufhin: auf die Gerechtigkeit dieses objektiven
Grundes hin, auf den er gerichtet ist, als seine Gerechtig¬
keit angerechnet werden kann. Würde Abraham durch
seine Werke gerecht, dann würde die Schrift anders lau¬
ten: sie würde dann sagen, daß ihm das Gute, was er
getan, nach Fug und Recht, nach seinem Verdienst als
seine Leistung zur Erlangung der Gerechtigkeit angerech¬
net wurde. Nun aber sieht sie, wenn sie von seiner Ge¬
rechtigkeit redet, an allem was er getan und was ihn
58
von einem Gottlosen unterschieden hat, vorbei allein
auf seinen Glauben, in welchem er wie ein Gottloser
vor Gott steht und eben als solcher von Gott gerecht ge¬
sprochen wird. Und im gleichen Sinn wird auch Ps. 32, 1 f.
der Mann selig gepriesen, mit welchem Gott so verfährt,
als wäre etwas anderes als dies, daß er Sündenvergebung
nötig hat, überhaupt nicht von ihm zu sagen. Eben der
und nur der Mann, der sich allein um deswillen selig
preist, was ihm als einem verlorenen Sünder zukommt:
daß Gott seinerseits einen Rechtsgrund hat, ihm zu ver¬
geben, ihn gerecht zu sprechen und als einen Gerechten
zu behandeln — dieser Mann allein und also der Glaubende
ist vor Gott gerecht, wie es von Abraham geschrieben steht.
Paulus sagt in Vers 9 — 12, daß Abraham durch seinen
Glauben gerecht ist und nicht auf Grund seiner Beschnei¬
dung. Abraham ist der erste Träger dieses Zeichens, das
das Volk Israel als das erwählte Volk Gottes von anderen
unterscheidet. Ist die Gerechtigkeit vor Gott an dieses Zei¬
chen gebunden und also auf dessen Träger und also auf
Israel beschränkt? Gilt das Wort von Abrahams Gerechtig¬
keit, gilt Ps. 32, 1, wie schon in Kap. 3, 29 gefragt wurde,
nur den Juden? Die Antwort der Schrift selbst lautet, daß
nicht die Beschneidung, sondern der Glaube Abraham als
Gerechtigkeit angerechnet wurde. Die Beschneidung war
umgekehrt das Zeichen, das diese allein in seinem Glau¬
ben bestehende Gerechtigkeit Abrahams bestätigen sollte.
Er glaubt ja als noch Unbeschnittener, und von seinem
Glauben als noch Unbeschnittener heißt es, daß er ihm als
Gerechtigkeit angerechnet wurde. Ist er als Beschnittener ,
als Jude, der Vater der Juden als des Volkes, das zum
Träger der Verheißung und schließlich zur Erfüllung der
Verheißung in seiner Mitte bestimmt, daß eben um dieser
Verheißung willen durch dieses Zeichen von anderen Völ¬
kern unterschieden war — so ist Abraham gerade als
noch Unbeschnittener zugleich der Vater und Vorläufer
59
aller derer, die ebenfalls als solche, als Nichtjuden mit
ihm und wie er selbst an die Verheißung glauben und
in diesem Glauben Gerechte vor Gott sein würden. Die
Beschncidung kann als Zeichen des Volkes der Ver¬
heißung auf diese Gerechtigkeit vor Gott nur hinweisen.
Die Beschneidung macht keinen gerecht. Es gibt, wie Abra¬
ham selbst zeigt, Gerechte vor Gott auch ohne Beschnei¬
dung, auch außerhalb des Judentums, aber nicht außer¬
halb des Glaubens.
Paulus sagt in Vers 13 — 17 a, daß Abraham durch sei¬
nen Glauben gerecht ist und nicht als Kenner des Gesetzes.
Abrahams Volk ist freilich das Volk, dem Gottes Gesetz
gegeben, Gottes Wille und Gebot bekannt gemacht ist. Aber
das ist es nicht, was Israel zum auserwählten Volk, zum
Volk der Verheißung macht. Damit, daß es das Gesetz
hat und kennt, hat es keinen Anteil an dem Segen, den
Gott ihm als seine Zukunft zugesagt hat. Denn an dem
ihm allerdings gegebenen und bekannten Gesetz Gottes
wird Israel ja doch nur zu Schanden. Es hat sich der
Glaube an seine eigene Erfüllung des Gesetzes immer wie¬
der als ein leerer Glaube, es hat sich die Verheißung als
Ziel menschlichen Wollens und Vollbringens in Israels Ge¬
schichte immer wieder als eine nichtige Verheißung er¬
wiesen. Das Gesetz als solches und für sich ist, wie in
Kap. 1, 18 — 3, 20 gezeigt, das Instrument des Zornes Got¬
tes. „Wo aber das Gesetz nicht isty da ist keine Über¬
tretung!“ Sündlosigkeit, Gerechtigkeit gab es auch in Israel
immer nur „außerhalb des Gesetzes“, d. h. nicht kraft sei¬
ner Erfüllung durch die Menschen (zu der es nie kam!),
sondern als die Gerechtigkeit derer, die im Zeugnis des
Gesetzes den objektiven Rechtsgrund Gottes, ihnen ihre
Sünden zu vergeben, erkannten und ergriffen. An Gott
selbst und seine Gnade haben die geglaubt, die in Israel
recht geglaubt, die nicht an eine eingebildete, sondern an
die am Ziel der Geschichte Israels erfüllte Verheißung ge-
60
glaubt haben. Alle diese sind Abrahams Kinder: inner¬
halb und außerhalb des Bereiches des Gesetzes — die das
getan, die mit Abraham geglaubt haben, die vielen Völker,
deren Vater er als Vorgänger im Glauben gewesen ist.
Eben diese letzte Wendung gibt nun Paulus Anlaß zu
einer positiven Beschreibung des Glaubens Abrahams:
Vers 17 b — 22. Wie glaubt Abraham? Und wie ist er also
ein Gerechter? Wir hören in Vers 17 b zunächst: Er glaubt
angesichts des Gottes, der die Toten lebendig macht und,
was nicht ist, ins Dasein ruft. Er glaubt also an den Gott,
der als Schöpfer der uns unbegreiflichen Welt, in welcher
kein Tod ist, wie als der unbegreifliche Schöpfer dieser
gegenwärtigen Welt der ist, der allein durch sein Wort
etwas schlechthin Neues schafft. Glauben heißt, sich an
dieses Wort dieses Gottes halten. So hat Abraham ge¬
glaubt. Dieser Glaube wurde ihm nach der Schrift als
Gerechtigkeit angerechnet. Wir hören in Vers 18: Er hatte
dabei gegen alle Hoffnung, nämlich gegen alle menschlich
mögliche Hoffnung auf die Erfüllung dessen zu hoffen,
was Gott ihm zusagte. Er hatte in Gottes Wort eine ihm
gegebene Hoffnung anzunehmen, ohne dabei durch irgend
eine menschlich einleuchtende Wirklichkeit oder Wahrschein¬
lichkeit unterstützt zu werden. Das hat er getan. Und das
war sein Glaube, der ihm als Gerechtigkeit angerechnet
wurde. Wir hören in Vers 19 — 20: Abraham stand vor
lauter widersprechenden natürlichen Tatsachen: er sah,
als er die Verheißung empfing, nichts vor sich als sein
eigenes Alter und das der Sara, seines Weibes. Daß er
diese Tatsache faktisch nicht ansah, daß er keinen Ver¬
gleich anstellte zwischen dem, was er da sah und was er
als Gottes Wort hörte, daß er auf Berechnungen über
dessen Erfüllbarkeit nicht eintrat, sondern ganz allein hörte
auf das, was ihm gesagt war, daß er seine Existenz dem
Worte Gottes gegenüber nicht zweifelnd, d. h. nicht von
einem doppelten, einem „gläubigen“ und einem „weltlichen“
61
Standpunkt aus beurteilte — denn dieser Dualismus ist
das Wesen des Zweifels! — , daß er vielmehr ganz und gar
nur von dem Einen aus urteilte, von dem man doch den¬
ken möchte, daß es einen Standpunkt gar nicht bilden
könne, daß er mit dem Unglauben nicht umging als mit
einer zweiten Möglichkeit, sondern nur als mit der ausge¬
schlossenen Unmöglichkeit, das war die Stärke des Glau¬
bens, der ihm als Gerechtigkeit angerechnet wurde. Nicht
um seiner selbst, nicht um der Schönheit und der Tiefe
dieses Glaubens willen! Sondern darum, weil der damit
(v. 20) Gott die Ehre gab, d. h. weil er bei dem allen von
sich selber weg sah auf Gott hin, um ihn Gott sein zu
lassen, als den, der die Macht, die Allmacht, hat zu tun,
zu erfüllen, was er verheißen hat und von dessen Treue
solche Erfüllung unter allen Umständen zu erwarten ist.
Indem Abrahams Glaube dieses Hinwegsehen und Hin¬
sehen war, wurde er ihm angerechnet als Gerechtigkeit
(v. 22).
Das also ist Abraham, der Gerechte des Alten Testa¬
mentes. Man kann ihn nicht zum Zeugen gegen, man kann
ihn und das ganze Alte Testament nur zum Zeugen für
das Evangelium anrufen: zum Zeugen der göttlichen Ge-
rechtsprechung der Glaubenden.
Die Verse 23 — 25 bringen die Reihe der in Kap. 3, 27
begonnenen Zwischenüberlegungen zum Abschluß. Wir er¬
innern uns, daß die ganze, das vierte Kapitel beherrschende
Feststellung über Abraham nur die ausführliche Antwort
auf die letzte der in Kap. 3, 27 — 4, 1 aufgeworfenen Fragen
war. Diese letzte Frage hatte gelautet: „Was macht den
Abraham zu dem Gerechten, der er nach dem Alten
Testament gewesen ist?“ Die Antwort hatte gelautet: Nicht
seine Werke machen ihn dazu, nicht seine Beschneidung,
nicht das Gesetz, sondern dies, daß er glaubte, d. h. daß er
sich an Gottes an ihn ergangenes Verheißungswort hielt
62
und so an Gottes Allmacht, Treue und Beständigkeit. In¬
dem er damit Gott selbst die Ehre gab, wurde Gott selbst
seine Gerechtigkeit, wurde er selbst von Gott freigespro¬
chen, gerecht gesprochen: er der Gottlose! (v. 5). So stand
es mit Abrahams Gerechtigkeit. Und wenn man noch ein¬
mal an die ganze Reihe der in Kap. 3, 27 f. aufgeworfenen
Fragen denkt, merkt man, daß Paulus damit sagen will:
so steht es mit dem, was im Alten Testament überhaupt
des Menschen Gerechtigkeit ist. Das Alte Testament be¬
zeugt (Kap. 3, 21) diese Gerechtigkeit, die Gerechtigkeit
des Glaubens. Was von Abraham geschrieben steht — so
nimmt jetzt Vers 23 den Faden wieder auf — , eben das
steht von uns geschrieben: von uns, die wir uns jetzt,
heute der in Jesus Christus offenbarten Rechtsentschei¬
dung Gottes, indem wir an Jesus Christus glauben, freuen
dürfen als unseres Freispruchs, als unserer Gerechtspre-
chung im Gerichte. An wen sonst als eben an Jesus Chri¬
stus hat ja schon Abraham sich gehalten und also ge¬
glaubt, indem er sich an Gottes Verheißung hielt? War
doch eben Jesus Christus der ihm in Isaak verheißene
Nachkomme! So und also in ihm hat schon Abraham der
Allmacht, Treue und Beständigkeit Gottes die Ehre ge¬
geben. So und also in ihm war Gott selbst Abrahams Ge¬
rechtigkeit. Wir glauben nicht anders und an keinen ande¬
ren, als Abraham es tat und mit ihm alle Glaubenden des
Alten Testamentes. Wir glauben ja schlicht an die nun ge¬
schehene Erfüllung der ihm gewordenen Verheißung und
wissen darum mit ihm, wissen nun erst recht, daß unsere
Gerechtigkeit, die Gerechtigkeit jedes Menschen vor Gott,
allein in seinem Glauben, allein darin bestehen kann, daß
ihm sein Glaube angerechnet wird als Gerechtigkeit. Noch¬
mals: nicht wegen seiner Kraft, Güte und Schönheit, son¬
dern wegen seines Gegenstandes, wegen Jesus Christus,
wegen der in ihm beschlossenen, offenbarten und wirk¬
samen Allmacht, Treue und Beständigkeit Gottes. Das ist
63
es, was Kap. 4, 24 — 25 im Rückblick auf Kap. 3, 22 — 26
noch einmal in einer kurzen Formel bestätigt wird: Wir
sind darum vor Gott gerecht, weil Gott uns unseren Glau¬
ben, wie er es Abraham getan, als Gerechtigkeit anrechnet.
Gott tut das aber darum, weil er, an den wir glauben, der
Gott ist, der Jesus als unseren Herrn von den Toten auf¬
erweckt, d. h. der sich selbst in der Erhöhung dieses Men¬
schen, in der Offenbarung des Lebens seines eigenen Soh¬
nes in diesem getöteten Menschensohn (Kap. 1, 5) zu unse¬
rem Herrn und Haupt gemacht hat. Er hat diesen seinen
eigenen Sohn (und in ihm sich selber für uns) zur Hin-
wegschaffung, zur völligen Beseitigung und Wiedergut¬
machung aller unserer Übertretungen eingesetzt und da¬
hingegeben, so daß sie in seinem Tode beseitigt sind und
uns nicht mehr zur Last fallen können. Und er hat diesen
Sohn Davids (und in ihm uns durch sich selber) aus dem
Tode, den wir verdient hatten, dem wir verfallen waren,
erweckt zu unserem Herrn und Haupt, unter dem
und mit dem wir existieren dürfen als solche, die —
wie ihr altes böses Kleid für immer ausgezogen ist —
nunmehr bekleidet sind mit seiner Gerechtigkeit, mit der
Gerechtigkeit seines Sohnes, mit seiner eigenen Gerechtig¬
keit. Indem wir uns an ihn halten als an unseren Herrn,
indem wir uns daran halten, daß er unser Haupt ist, ste¬
hen wir vor Gott schlechterdings so da, wie er, sein geliebter
Sohn, vor ihm steht, sieht er uns in ihm und also in
seinem eigenen Bilde an, kann er gar nichts an uns fin¬
den als seine eigene Gerechtigkeit. Indem wir an diesen
Gott Abrahams glauben, ist uns seine Gerechtigkeit zuge¬
rechnet, ist sie die unsrige, wie sie die seine ist, sind wir
mit Abraham wahrhaft und von rechtswegen gerecht vor
ihm.
64
5, 1—21
Das Evangelium als Versöhnung
des Menschen mit Gott
Gottes in Jesus Christus vollzogene und offenbarte Rechts¬
entscheidung ist nach dem, was uns der Römerbrief bis
jetzt gesagt hat, verschlossen und verborgen in der Ver¬
urteilung aller Menschen (Kap. 1, 18 — 3, 20), die Gerecht-
sprechung der Glaubenden (Kap. 3, 21 — 4, 25). Diese
Rechtsentscheidung Gottes ist das Evangelium. Aber nun
hatte ja Paulus in Kap. 1,16 vom Evangelium noch etwas
anderes gesagt: nämlich das Entscheidende über seinen
Inhalt und seine Tragweite: es sei Gottes allmächtiges
Rettungswerk für jeden Glaubenden. Wir bemerkten schon
dort: das ist kein Zweites, das jetzt zu dem Ersten zu der
göttlichen Rechtsentscheidung noch hinzukäme. Das ist viel¬
mehr mit dieser identisch: wir sind damit gerettet, daß
wir als Glaubende gerecht gesprochen sind; und umge¬
kehrt: indem wir als Glaubende gerechtfertigt sind, sind
wir gerettet, wie es in Kap. 5, 1 zunächst im Blick auf die
grundlegende Tatsache der Versöhnung des Menschen mit
Gott ausdrücklich gesagt wird. Aber eben, daß diese
Gleichung besteht und gilt, soll und wird nun in einer
Reihe von vier zusammenhängenden Entwicklungen in
den Kapiteln 5 — 8 gezeigt werden: indem wir im Glauben
Gottes Rechtsentscheidung hören und annehmen, wider¬
fährt uns die Rettung, deren wir als Menschen bedürftig
sind. Es ist also diese Rechtsentscheidung kein leeres Wort,
sondern sie hat als Gottes Rechtsentscheidung jene un¬
widerstehliche Kraft der Wahrheit, die ihr Paulus schon
65
in Kap. 1,16 nachgerühmt hat: Wer vor Gott gerecht ist,
der kann eben darum und damit kein Verlorener sein.
Wer von Gott so angesehen und beurteilt ist, wie er seinen
eigenen lieben Sohn, wie er in diesem seinem Bilde sich
selbst ansieht, der ist eben darum und damit bei Gott ge¬
borgen und aufgehoben, dem kann es darum und damit
in alle Ewigkeit hinein, aber darum und damit nun auch
wirklich in der kurzen Zeit seiner Existenz jetzt und hier
nicht schlecht, sondern nur noch gut gehen. Der muß und
wird, wie es schon in Kap. 1,17 hieß, leben: Der Gerechte,
der durch seinen Glauben vor Gott Gerechte, wird aus
und in diesem Glauben vor Gott nicht sterben, sondern
leben — im Bund mit Gott leben und darum kein be¬
drücktes, kein beschattetes, kein verzweifeltes, sondern
(Kap. 5, 17) ein königliches, ein souveränes, das von dem
ewig lebendigen Gott als seinem Bundespartner ihm ver¬
liehene ewige Leben.
Das Viele, was davon zu sagen ist, wird im 5. Kapitel mit
der Feststellung eröffnet, daß wir als Glaubende und also
als Gerechte mit Gott versöhnte Menschen sind. In diesem
Versöhntsein ergreift uns gewissermaßen die rettende Hand
Gottes. Man beachte, daß es sich weder hier noch sonst im
Neuen Testament um die Versöhnung Gottes mit uns, son¬
dern um unsere Versöhnung mit ihm handelt. Gott braucht
nicht versöhnt zu werden. Gott liebt ja auch, indem er
zürnt. Gott hat ja auch die Last seines Zornes nicht auf
uns geworfen, so daß wir nun erst von ihr befreit werden
müßten, sondern hat sie, indem er seinen Sohn leiden und
sterben ließ, auf sich selbst genommen, so daß er uns nicht
treffen und verderben kann. Gottes Gerechtigkeit bedarf
keiner Milderung, so daß er erst, nachdem er Einiges davon
abgestrichen, mit uns versöhnt sein könnte, sondern gerade
indem seine Gerechtigkeit zum Vollzug kam und offenbar
wurde, sind wir durch ihn in einen neuen Stand versetzt,
mit ihm versöhnt, aus einer unmöglichen Stellung ihm
66
gegenüber herausgeholt und in die allein mögliche Stel¬
lung zu ihm gebracht. Daß diese Voraussetzung unserer
Errettung (oder positiv: unseres Lebens) durch Gottes
Rechtsentscheidung erfüllt ist, das ist die überaus wunder¬
bare Tatsache, mit der Paulus im 5. Kapitel beschäftigt
ist. Das Kapitel ist für uns aus zwei Gründen gedanklich
schwierig — gedanklich vielleicht das schwierigste im Römer¬
brief: Einmal darum, weil es für uns leider nicht natürlich
ist, das Unerhörte, das Unbegreifliche, das schlechthin Wun¬
derbare dessen, daß es das gibt: mit Gott versöhnte Men¬
schen, daß wir soldie sein dürfen, zugleich in seiner Wirk¬
lichkeit, aber eben in dem ganzen Wunder seiner Wirklich¬
keit zu sehen, weil wir das vielmehr nur zweifelnd oder
aber mit einer höchst unangebrachten Leichtigkeit und
Selbstverständlichkeit hinzunehmen gewöhnt sind. Und so¬
dann darum, weil wir leider ebensowenig darüber im kla¬
ren sind, daß diese Tatsache so ganz und gar nichts mit
einer allgemeinen Idee von Gott und vom Menschen zu
tun hat, sondern eben eine bestimmte Tatsache, nämlich
die Tatsache der Person Jesu Christi und eben in ihr so
wunderbar und zugleich so wirklich ist. Paulus dagegen
steht zugleich ohne jeden Vorbehalt und völlig verwundert
vor dieser Tatsache und er steht ihr eben als dieser be¬
stimmten Tatsache , er steht Jesus Christus gegenüber. Bei¬
des kommt im Römerbrief vielleicht nirgends so stark zum
Ausdruck wie in diesem Kapitel. Das ist es, was es für
uns gedanklich schwierig macht. Wir sind eben an diese
Gewißheit und an dieses Erstaunen, wir sind aber vor
allem an diese Sammlung um die Person Jesu Christi in
unserem christlichen Denken (auch wenn es sehr „positiv“
sein sollte) nicht mehr gewöhnt. Der Abstand zwischen
unserem und dem apostolischen Denken — nicht weil jenes
ein altertümliches und das unsrige ein modernes ist, son¬
dern weil wir mit dem Gegenstand auch die Kategorien
des apostolischen Denkens erst wieder finden müssen —
67
kann uns hier sehr klar werden und vielleicht ist das zu¬
nächst das Wichtigste, was man gerade an diesem Kapitel
zu lernen hat: daß wir noch viel lernen müssen, um ge¬
lehrige Schüler der Apostel zu werden.
Der Inhalt von Vers 1 — 5 erscheint zunächst verhältnis¬
mäßig einfach und übersichtlich. Wir haben zunächst in
Vers 1 die Verbindung zum Vorangehenden vor uns:
Als die im Glauben Gerechtgesprochenen haben wir Frie¬
den mit Gott, ist also alles das aufgehoben, was nach dem
scharfen Ausdruck in Vers 10 unsere Feindschaft gegen
Gott ausmacht: unsere Auflehnung gegen ihn, in der wir
ihm (Kap. 1, 21) die ihm gebührende Ehre verweigern
und damit — was das auch für ihn bedeute — jedenfalls
uns selbst ins Elend stürzen, dem Tode (v. 12 f.) preis¬
geben. Indem uns Gott gerecht spricht, sind wir von dieser
Feindschaft freigesprochen, sind wir in den Stand des Frie¬
dens Gott gegenüber, der Übereinstimmung mit ihm ver¬
setzt. Wie das? Paulus redet nicht von friedlichen Ge¬
sinnungen und Gefühlen, die uns beherrschen könnten,
sondern von Jesus Christus als dem, in welchem, wie
(v. 2) unser Zugang zu Gott, wie unsere Gerechtsprechung
also, so auch dieser unser Friedensschluß mit Gott, sehe
es in uns aus, wie es wolle, vollzogen ist, so daß wir uns
— Gesinnungen und Gefühle hin und her, es handelt sich
um den „Frieden Gottes, welcher höher ist als alle Ver¬
nunft“ (Phil. 4, 7) — daran halten dürfen: wir haben
Frieden geschlossen und haben ihn. Wir sind jene Feinde
Gottes nicht. In Jesus Christus sicher nicht. Er steht im
Frieden mit Gott und eben „er ist unser Friede“ (Eph. 2, 14).
Indem wir durch ihn in die Gnade versetzt sind, in der
wir stehen dürfen, ist er unser Friede. Darum ist die Sache
so sicher, darum weder durch uns selbst noch durch andere,
darum (Kap. 8, 38 f.) durch keine Macht im Himmel und
auf Erden in Frage zu stellen. Indem wir diesen Frieden
68
haben, blicken wir in unsere Zukunft und finden, daß, was
vor uns steht, Gottes Herrlichkeit ist und rühmen uns darum
auch unserer Gegenwart, weil sie dieser Zukunft entgegen¬
eilt. Nicht nur unserer Zukunft, nicht nur der jenseitigen
Ewigkeit (v. 2), sondern auch der bedrängten Gegenwart,
weil alle Bedrängnis den, der Frieden mit Gott hat, nur
noch fester, noch beharrlicher machen kann, weil er sich
in solcher Beharrlichkeit bewähren und weil diese Bewäh¬
rung sich darin lohnen wird, daß er jetzt erst recht, jetzt
erst ganz ernstlich hoffen wird (v. 4): in der Hoffnung, die
den Hoffenden nidit beschämen, nicht zu Schanden gehen
lassen wird. Denn was hält ihn? Ein neues Fühlen, Wollen
und Erkennen? Nicht das, ob er viel oder wenig davon
habe, wohl aber die objektive Gewalt der Liebe, die Gott
ihm damit erwiesen hat (v. 5), daß er ihn in Jesus Chri¬
stus ohne und gegen sein ganzes Fühlen, Wollen und Er¬
kennen dorthin gestellt hat, wo er mit ihm in Überein¬
stimmung sich finden darf. Es ist die Wohltat dieser Liebe
Gottes durch den Heiligen Geist, der ihn zum Glauben er¬
weckt und aufgerufen hat, in sein Herz ausgegossen, so
daß es nun von dieser Wohltat ganz erfüllt ist, wie schwach
und böse es immer sein mag, so daß aus diesem seinem
Herzen heraus nur jener Ruhm nach außen dringen kann:
quer hindurch durch alles Murren, Seufzen und Klagen, wie
sie diesem Gefäß eigentümlich sein dürften: der Ruhm der
Hoffnung, der Ruhm der uns gewissen künftigen Herrlich¬
keit Gottes, unseres Verbündeten und dann wirklich auch
der Ruhm aller Bedrängnis in der Gegenwart, weil sie die
Hoffnung dessen, der mit Gott Frieden hat, nur größer,
nie kleiner machen kann.
Es ist der Zusammenhang Vers 6 — 11, in welchem
jenes für uns so außerordentliche Staunen des Apostels
besonders zum Ausdruck kommt und in Verbindung ge¬
rade damit auch die schledithinige Gewißheit, in der er
69
der Tatsache gegenübersteht, daß Menschen mit Gott Frie¬
den und darum jenes Leben in der Hoffnung haben dür¬
fen. Je erstaunlicher die Sache ist, um so gewisser ist sie —
weil er höher als alle Vernunft ist, darum ist er ein sicherer
Friede, das ist es in Kürze, was hier gesagt wird. Was ist
es um jene unser Herz erfüllende Liebe Gottes, in deren
Kraft wir versöhnt sind und jenen Frieden haben? Paulus
antwortet in Vers 8 mit der Feststellung: Gott beweist sie
damit, daß Christus für uns starb, da wir noch Sünder
waren. „Da wir noch Schwache, zur Zeit, da wir noch
Gottlose waren“ (v. 6) wie Abraham (Kap. 4, 5)! „Als wir
seine Feinde waren, wurden wir mit Gott versöhnt durch
den Tod seines Sohnes“ (v. 10)! Eine solche Liebe ist die,
die unsere Herzen erfüllt und regiert durch den Heiligen
Geist. Nicht die erklärliche und verständliche Liebe, die
einer zu seinem guten Freunde hat, für den er vielleicht
— vielleicht auch nicht! — zu sterben bereit sein mag
(v. 7). Nicht eine solche Liebe also, von der wir auch
sonst einige Kenntnis und Erfahrung haben mögen. Nicht
unsere menschliche Liebe m. e. W., in der wir lieben, die
uns wiederlieben. Sondern — wir verstehen jetzt, daß man
bei jenem Frieden an friedliche Gesinnungen und Gefühle
nicht denken darf — Gottes Liebe, welche Feindesliebe
ist. Darum ist sie und darum ist der Friede mit Gott, den
sie in uns begründet, unbegreiflich, wunderbar. Daß der
Akt Gottes, in welchem er seinen Sohn dahingibt für uns,
um uns anzunehmen an seines Sohnes Stelle, dieser Akt,
der unseren Frieden mit ihm begründet, der Akt solcher
Liebe ist — Gott für uns, die wir gegen ihn sind — , daß
das in Jesus Christus wahr und durch den Heiligen Geist
in unser Herz gegeben ist, so daß unser Herz davon voll
ist, so voll, daß es in lauter Ruhm unserer ewigen Herr¬
lichkeit und in lauter Ruhm auch unserer bedrängten
Gegenwart ausbrechen muß — darüber staunt Paulus.
Aber nun gerade nicht, um daran zu zweifeln! Zweifeln
70
könnte man an seinen christlichen Gesinnungen und Ge¬
fühlen und an den Konsequenzen, die man ihnen ent¬
nehmen möchte. Zweifeln könnte man an all dem, was
unser menschliches Lieben an Erhebung und Trost mit
sich bringen mag. Was Gott ist und tut: die Rechtsent¬
scheidung, die doch gerade als solche der Beweis seiner
Liebe — der Beweis seiner Liebe, der doch gerade als
solcher seine Rechtsentscheidung ist, das ist so groß, das
spricht in seiner Größe so für sich selber, daß es nicht nur
unzweifelhaft ist, sondern die Gewißheit nötig macht: „Wir
werden in seinem Blut vor dem uns drohenden Zorn
Gottes durch ihn gerettet sein“ (v. 9). Das ist unsere
Zukunft: unser Gerettetsein durch ihn in seinem Blute!
Und dementsprechend sieht unsere Gegenwart aus: Gott
in seiner Feindesliebe, das Blut seines Sohnes, vergossen
für uns, die Sünder, das ist unsere Zukunft, unsere Hoff¬
nung. Dieser Gott, Gott in der Gestalt dieses Menschen
kommt: er, der in seinem Tode allen gerechten Zorn schon
erlitten, schon getragen und hinweggetragen hat. Er, in
welchem alles, was gegen uns spricht, schon widerlegt ist. Er,
in welchem unsere eigene böse Feindschaft gegen Gott schon
hinter uns geworfen ist! Er, der das ganze Elend, der die
Finsternis des Todes, die diese Feindschaft mit sich bringt,
schon durchgemacht und durchschritten hat! Und eben: er,
der das ganz ohne und gegen uns getan hat, so daß wir
nun gar nicht fragen können und müssen, wie es von uns
aus möglich sein möchte, daß wir Frieden mit Gott haben,
mit Gott versöhnt sein können trotz alledem, was wir sind
und tun! Er, in welchem es trotz uns wirklich wurde:
wir sind versöhnt! Dieser Beweis für das, was wir zu er¬
warten haben und damit nun doch auch für den Sinn
unserer Gegenwart ist gerade darum zwingend, weil er so
schlechterdings erstaunlich ist. „Um wieviel mehr“, so fol¬
gert Paulus zweimal (v.9 und 10) — um wieviel mehr, da
jenes Größere von Gott her Ereignis und Wahrheit ist,
71
muß es auch das Kleinere sein für uns. Das Größere: das
Wunder der göttlichen Feindesliebe, unveranlaßt, unbe¬
gründet, unableitbar aus irgend welchen menschlichen
Gründen, ungleich aller Liebe und allen Wundern, die
uns sonst begegnen mögen. Das Kleinere: unser Friede,
unser Versöhntsein, unsere künftige Errettung und dar¬
um der Ruhm und Preis unseres von der Liebe Gottes er¬
füllten Herzens, wohlbegründet — göttlich begründet, aber
gerade so schlechterdings wohlbegründet durch das Größere,
was Gott von sich aus getan hat, wohlbegründet in Gottes
Göttlichkeit.
In Vers 12—21 *) tritt dies in den Mittelpunkt, daß der
eine Jesus Christus es ist, in welchem die in Vers 1—11
beschriebene Entscheidung über den Menschen: daß er
Frieden mit Gott haben soll, gefallen und offenbar ge¬
worden ist: Jesus Christus als der, der die andere, durch
den Menschen selbst vollzogene Entsdieidung, seinen Ein¬
tritt in die Feindschaft gegen Gott und in das Todeselend,
das diese Feindschaft mit sich gebracht hat, umgekehrt
und zunichte gemacht hat — Jesus Christus, der gut machte,
was Adam übel gemacht hat. Man versteht den Abschnitt
dann, wenn man nach Vers 12 zunächst bei Vers 18 und
dann bei Vers 21 weiter liest. Der erste Satz in Vers 12 ist
nämlich entweder unvollendet oder, was wahrscheinlicher
ist: er stellt eine Art Überschrift dar: Wie mit dem einen
Menschen, durch den die Sünde in die Welt kam und durch
die Sünde der Tod und so das Übergehen des Todes auf
alle Menschen — so steht es! so mit dem einen Jesus Chri¬
stus nämlich! Die Meinung ist: die ganze durch Adam in
seinem Sündenfall bestimmte Geschichte der Menschheit,
*) Vgl. zu dieser Stelle die Schrift „Christus und Adam“ (Theol
Stud. Heft 35, 1952). V
72
die ganze Wiederholung seiner Sünde und seines Elends in
der Gesamtheit und in jedem Einzelnen derer, die seinen
Namen, den Namen „Mensch“ tragen, ist ein einziges
Gleichnis dessen, was kraft der Gerechtigkeit und Liebe
Gottes in Jesus Christus geschehen ist. Ein Gleichnis, ein
Vorbild (v. 14) — gerade so viel und nicht mehr! — gerade
darauf und nur darauf von uns anzusehen! So also auch
unsere eigene Beteiligung daran, so alles das, was wir an
Feindschaft gegen Gott und an dem entsprechenden Elend
bei uns selber — an sich wahrlich nicht mit Unrecht! —
wahrzunehmen meinen. So das Ganze unserer Existenz,
wenn wir davon absehen wollen, daß wir ja glauben und im
Glauben unseren Freispruch entgegennehmen und aus und
mit diesem Freispruch leben dürfen. Es soll und darf uns
das Alles gerade nur noch an Jesus Christus erinnern: an
die Entscheidung Gottes, die der Entscheidung Adams
siegreich gegenübersteht, durch die sie umgekehrt, aufge¬
hoben und zunichte gemacht ist. Vers 18 — 19 und Vers 21
enthalten den Kern dessen, was Paulus jener Überschrift
in Vers 12 entsprechend hier sagen will. Durch des einen
Menschen Übertretung kam es zum Gericht über alle Men¬
schen und so durch des einen Menschen Rechtstat zum
Freispruch Aller. Im Ungehorsam des einen Menschen wur¬
den die Vielen als Sünder vor Gott hingestellt und im Ge¬
horsam wieder des einen Menschen die Vielen als Gerechte.
Hier und dort der Eine, hier und dort Alle, die Vielen.
Hier der Eine, der mit seinem Sein, Tun und Erleiden der
Zeuge dessen ist, was Alle, was die Vielen sind und tun
und zu erleiden haben — hier Alle, die Vielen, die sich in
dem Sein, Tun und Erleiden jenes Einen nur zu genau
wiedererkennen müssen. Und dort wieder der Eine, der
wieder für Alle, die Vielen, steht — und dort wieder Alle,
die Vielen, die nun auch in diesem Einen sich selbst wieder¬
erkennen dürfen. Hier als Ergebnis der Existenz des Einen
für Alle, für die Vielen die Herrschaft der Sünde und des
73
Todes; dort wieder als Ergebnis der Existenz des Einen
für Alle, für die Vielen, die Herrschaft der Gnade durch
Gerechtigkeit zum ewigen Leben (v. 21). Man merke, daß
Paulus Adam und Christus, Alle hier und Alle dort, nicht
einfach nebeneinanderstellt als Figuren und Faktoren von
gleicher Würde und gleichem Gewicht und als Träger einer
gleich mächtigen Bestimmung. Nun als Gleichnis soll ja
Adam und sollen seine Vielen neben Christus und seinen
Vielen stehen. Nur als Schatten und Vorbild läuft er vor
Christus her. Nur scheinbar ist er der Erste. Der Erste, der
Inhaber der Wirklichkeit, die jener nur abbilden kann
und in seiner ganzen Andersartigkeit abbilden muß, ist
Christus. Hier steht also nicht Macht gegen Macht, nicht
Recht gegen Recht, geschweige denn Gott gegen Gott. Hier
steht Gott gegen den Menschen, weil für den Menschen.
Hier steht also Recht gegen Unrecht, Wahrheit gegen Lüge,
Macht gegen Ohnmacht — aber eben so, daß nun gerade
das Unrecht für das Recht, die Lüge für die Wahrheit, die
Ohnmacht für die Macht, der sündige Mensch für den
gnädigen Gott Zeugnis ablegen muß, daß Gott und
sein Tun für den Menschen sich auch in dem spiegelt, ja
offenbart, was der Mensch gegen Gott gewollt und getan
hat. Hier triumphiert Gottes Gerechtigkeit und Liebe dar¬
in, daß sie in dem Bild und Gleichnis der menschlichen
Ungerechtigkeit und Feindschaft sichtbar und herrlich wird.
Daß Paulus es so meint, wird klar in Vers 15 — 17, wo er
immer wieder darauf hinweist, wie gänzlich ungleich die
beiden Partner und ihr Werk für Alle, für die Vielen, sich
in Wahrheit gegenüberstehen, wie die Gnade Gottes und
des Menschen Sünde und Bestrafung (v. 15), Gottes Gnade
und Gottes Gericht (v. 16), die Herrschaft des Lebens und
die Herrschaft des Todes (v. 17) sich eben nicht die Waage
halten, nicht paritätisch den Charakter von Wirklichkeit
haben, sondern wie das Erste durch das Zweite faktisch
aufgewogen und aufgehoben, überwunden, übertroffen,
74
besiegt und aus dem Wege geräumt ist. So also, gerade in
dieser Ungleichheit, wollen diese Partner und will ihrer
beider Werk für Alle, für die Vielen, gesehen und ver¬
standen werden. Und es zeigt sich dieselbe Absicht des
Paulus noch schärfer in den Stellen über das Gesetz in
Vers 13 — 14 und Vers 20, welche sagen, daß auch die Offen¬
barung und Geltung des Gesetzes — scheinbar die schreck¬
liche Verschärfung des Gegensatzes, scheinbar die Verewi¬
gung der Sünde Adams und des über ihn gesprochenen
Urteils — in Wirklichkeit — wie es uns in Kap. 1,18 — 3, 20
in anderer Weise gezeigt wurde — der Offenbarung der
gnädigen Entscheidung Gottes nur dienen konnte und fak¬
tisch gedient hat, wie die Gnade gerade da überströmte,
wo die Übertretung des Menschen durch seine Begegnung
mit dem heiligen Willen Gottes als Übertretung, in ihrer
Gestalt als Feindschaft gegen Gott, in ihrer Todeswürdig¬
keit sichtbar und aufgedeckt wurde. So also, und nur so
steht es mit dem, was gegen uns spricht laut unserer gan¬
zen menschlichen Wirklichkeit, die eben „Adam“ heißt und
also Sündenherrschaft und Todesgebundenheit. Gerade das
Bild dessen, der für uns spricht, vermag diese Wirklichkeit
uns zu zeigen! Gerade der göttliche Sieger spiegelt sich in
unserer menschlichen Niederlage! Gerade von Gottes Gna¬
de zeugt auch die menschliche Sünde, gerade dann, wenn
sie in ihrer schärfsten Beleuchtung, nämlich in der durch
Gottes Willen und Gesetz sichtbar wird, wie sie uns sicht¬
bar werden muß. Und gerade vom ewigen Leben zeugt
der Tod, der ihre notwendige Folge ist. Dann nämlich, wenn
diese ganze Adamswirklichkeit mit Jesus Christus kon¬
frontiert, wenn sie an ihm gemessen und von ihm her ge¬
sehen wird. Daß sie mit ihm konfrontiert ist und daß sie
darum unsere Versöhnung mit Gott, den Frieden mit Gott,
den wir haben , nicht in Frage stellen, sondern vielmehr
nur bestätigen kann, daß ist die Voraussetzung, von der
aus er hier geredet hat. Wenn es bei der in Jesus Christus
75
gefallenen Entscheidung, wenn es beim Glauben an ihn sein
Bewenden hat, dann gibt es keine andere Voraussetzung
und dann auch hinsichtlich Adams und der ganzen Adams¬
wirklichkeit keine andere Folge.
76
6, 1—23
Das Evangelium als des Menschen
Heiligung
Das 6. Kapitel bringt eine zweite Erklärung des Sat¬
zes in Kap. 1, 16, daß das Evangelium Gottes allmäch¬
tiges Rettungswerk für jeden Glaubenden ist. Man kann
auch sagen: eine zweite Erklärung des Satzes in Kap. 1,17,
daß der durch seinen Glauben vor Gott Gerechte in diesem
seinem Glauben leben wird. Des Menschen Errettung durch
Gottes Gnade, d. h. durch die im Evangelium geschehene
und ausgesprochene göttliche Rechtsentscheidung, besteht ja
darin, daß der Mensch leben und zwar ewig, unbedingt,
jenseits aller Furcht und Macht des Todes leben darf
(Kap. 5, 21 ; 6, 23). Das 5. Kapitel hatte dies dahin erläutert,
daß es den durch seinen Glauben vor Gott Gerechten als
den mit Gott versöhnten Menschen beschrieben hat: er ist
der Feind Gottes, der kraft der unbegreiflichen Liebe Got¬
tes in Jesus Christus zu Gottes Freund gemacht ist (Kap.
5, 1 — 11) so radikal und tatsächlich, daß er auf das ganze
Reich der Feindschaft gegen Gott, auf die ganze Welt des
ersten Adam, in der die Sünde und der Tod regieren, nur
noch zurückblicken kann als auf ein Vorbild und Gleich¬
nis der unendlich viel wahreren und wirklicheren Herr¬
schaft der Gnade und des Lebens, und der er, laut der
Offenbarung der göttlichen Rechtsentscheidung, nun stehen
darf (Kap. 5, 12 — 21). Die Erläuterung des 6. Kapitels lau¬
tet dahin, daß der durch seinen Glauben vor Gott Gerechte,
der durch Gott geheiligte Mensch ist (v. 19 und 22). Wir
können den Begriff gleich vorweg so bestimmen: er ist als
77
mit Gott versöhnter Mensch wirklich in einen anderen neuen
Stand versetzt, nicht durch sich selbst, sondern durch Got¬
tes Entscheidung, die ihn dahin gestellt hat, aber in Wahr¬
heit und Wirklichkeit er selbst. Ihn hat das Licht, das von
Jesus Christus ihn von außen traf, nicht bloß äußer¬
lich getroffen, sondern es ist, indem es ihn von außen
traf, in ihn hineingegangen. Ihm ist nicht zum Schein,
sondern in vollem Ernst, mit der ganzen Kraft eines
göttlichen Schöpferwortes gesagt, daß er ein Gerechter
ist. „Die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen“
(Kap. 5, 5), nicht in Form von besonderen Gesinnungen
und Gefühlen, wohl aber in Form eines tatsächlichen
anderen Dranseins, einer anderen neuen Verfassung,
unter die er selbst — das „Herz“ heißt in der Bibel:
der Mensch selbst — und weil er selbst, darum allerdings
auch sein ganzes inneres und äußeres Leben, gestellt ist.
Der durch seinen Glauben Gerechte „wandelt in einem
neuen Leben“ (Kap. 6, 4): nicht aus seinem eigenen Ent¬
schluß (wie sollte er dazu kommen?), aber allerdings in
seinem eigenen Entschluß, der dadurch unausweichlich not¬
wendig gemacht ist, daß er laut der göttlichen Entschei¬
dung Gottes Freund und nicht mehr Gottes Feind ist — in
dem eigenen Entschluß, der damit selbstverständlich ge¬
macht ist, daß er selbst, sein Herz, jene neue Bestimmung:
die Bestimmung, durch die es erfüllende Liebe Gottes er¬
halten hat. Diese Bestimmung ist des Menschen Heiligung.
Die Heiligung ist ganz und gar Gottes Gnade: sie ist nicht
des Menschen, sondern Gottes — des in Jesus Christus für
den Menschen handelnden Gottes — Sache. Niemand kann
sie sich nehmen. Niemand kann sie von sich aus wollen,
so oder so gestalten und durchführen. Das 6. Kapitel sagt
das ganz unmißverständlich. Es sagt aber, daß eben Gottes
Gnade, eben das Werk des in Jesus Christus für uns han¬
delnden Gottes darin besteht, daß wir, wir selbst, tatsäch¬
lich in einem neuen Leben wandeln, andere Menschen
78
schon sind und daß eben dieses Sein nun auch die Ordnung
ist, unter der wir stehen und in deren Respektierung wir
allein existieren können, der Anspruch und Befehl, durch
den wir in Beschlag genommen sind, dem zu gehorchen
wir also nicht vermeiden können. Nicht daß wir unsere
Heiligung erst wahrzumachen hätten durch unseren Ge¬
horsam, sagtRöm. 6. Wie wollten wir sie wahrmachen? Sie
ist als unsere Heiligung — genau so wie unsere Versöh¬
nung mit Gott — in Jesus Christus ein für allemal (Kap.
6, 10) und also keiner Wiederholung und Bestätigung be¬
dürftig, wahr gemacht. Aber eben daß dem so ist: „Er ist
uns gemacht zur Heiligung“ (l.Kor. 1, 30) — er ist uns
zur Ordnung gemacht, die wir als schon feststehende
Wahrheit unserer Existenz zu respektieren, der wir also
zu gehordien haben, das ist es, was in Röm. 6 entwickelt
wird: von derselben Mitte aus und im gleichen Sinn wie
das, was wir in Röm. 5 darüber hörten, daß wir mit Gott
Frieden haben.
Das Kapitel gliedert sich deutlich in zwei Abschnitte:
Vers 1 — 14 und Vers 15 — 23. Das Thema ist in beiden Ab¬
schnitten dasselbe: der durch das Evangelium geheiligte
Mensch. Aber der Akzent liegt verschieden: Vers 1 — 14
(wo der Nerv, wo die eigentliche Aussage des Kapitels zu
finden ist) steht dies im Vordergrund, daß der veränderte
Stand des durch seinen Glauben vor Gott Gerechten in
einem neuen Sein besteht, Vers 15 — 23 dies, daß dieser
Stand eine neue im Gehorsam zu respektierende Ordnung
ist. Es hängt aber alles daran, daß man sieht: es handelt
sich um eine Akzentverschiebung und wieder nicht etwa
um ein Erstes, dem ein Zweites erst folgen müßte, nicht
um eine Ergänzung des guten Willens Gottes durch unsere
menschliche Bereitwilligkeit und auch nicht um jene Tei¬
lung: „Das tat ich für dich, was tust du für mich?“ Denn
das neue Sein ist, wie schon in Vers 1 — 14 ganz deutlich
wird, selbst und als solches die im Gehorsam zu respek-
79
tierende neue Ordnung des menschlichen Lebens. Und das
eine Motiv zur Respektierung der neuen Ordnung besteht
gerade auch in Vers 15 — 23 darin, daß diese neue Ordnung
unser neues Sein ist, dessen Gesetz wir auch bei schlech¬
testem Willen so wenig ausweichen können als man sich
in die Luft statt auf den uns tragenden Boden stellen
kann. Es geht hier wie dort (v. 14 und 23) um Gottes
Gnade , darum, daß eben sie unsere Heiligung ist und als
solche an Ernst und Gründlichkeit, an tiefster Beruhigung
und Beunruhigung des Menschen nichts zu wünschen
übrig läßt, nicht zu überbieten ist. Es geht hier wie dort
um die Bestätigung und Entfaltung des Satzes in Kap. 3,31:
Wir richten das Gesetz auf durch den Glauben.
Die Gliederung des Kapitels in diese zwei Abschnitte
ist äußerlich angezeigt durch die zweimalige Erwähnung
der Frage in Vers 1 und Vers 15 — sie ist inhaltlich hier
wie dort dieselbe: Darf man, soll man vielleicht gar in
der Sünde verharren, die Sünde wollen, da man doch unter
der Gnade steht, damit die Gnade als Triumph über die
Sünde um so mächtiger, um so herrlicher werde? Die Frage
ist uns schon in Kap. 3, 7 — 8 begegnet und wir erinnern
uns, wie sie dort als Narrenfrage nicht beantwortet, son¬
dern, wie es sich gehört, niedergeschlagen wurde. Es ist
nicht wohl anzunehmen — obwohl es auf den ersten Blick
so scheinen könnte — , daß wir Röm. 6 nun doch als eine
Beantwortung dieser Narrenfrage zu verstehen haben. Die
Antwort, die sie auch hier bekommt, besteht in Vers 1 und
Vers 15 schlicht in dem einen Wort: „Unmöglich!“ „Das
sei ferne!“ Unmöglich ist hier schon jede Auseinander¬
setzung. Denn wie soll man sich auseinandersetzen, wenn
man schon auseinander ist? Und was auf dieses „Unmög¬
lich!“ in Vers 2 f . und Vers 16 f. folgt, das ist tatsächlich
eine Erklärung, die nicht von dem Gegensatz zu jener
Frage bzw. von der in dieser Frage verborgenen Behaup¬
tung lebt, die vielmehr um ihrer selbst willen, als positive
80
Erklärung einer wichtigen Bestimmung des Evangeliums
geboten und notwendig ist. Gerade nur als das, was „ferne“
ist, kann die närrische Behauptung, die in dieser Frage
steckt, hier noch und noch einmal auftauchen. Sie signali¬
siert gewissermaßen die Existenz des ungeheiligten Men¬
schen, der nun auch das Evangelium mit ungeheiligten
Ohren hören und mit ungeheiligten Lippen aufnehmen
und wiederholen möchte, wo doch das Evangelium des
Menschen Heiligung ist, wo doch gerade das Evangelium
unter keinen Umständen so gehört und wiedergegeben wer¬
den, wo also unter keinen Umständen auch nur so gefragt
werden kann. Redet doch diese Frage von einer Sünde, in
der der Mensch verharren wollen und von einer Gnade, die
er, der Mensch, durch sein Tun, nämlich durch sein Ver¬
harren in der Sünde, noch größer werden lassen könnte.
Das ist aber weder die Sünde, die durch das Evangelium
gerichtet und abgetan, noch die Gnade, die durch das Evan¬
gelium geschenkt wird. Es ist bewußt oder unbewußt
Lästerung des Evangeliums, so zu fragen. Die Frage kann
gerade nur darum erwähnenswert und interessant sein,
weil sie in ihrer völligen Narrheit anzeigt, daß das echte
Evangelium verkündigt worden und mit dem ungeheilig¬
ten Menschen zusammengestoßen ist. Immer wenn das ge¬
schieht, dann taucht diese Frage auf, dann offenbart sich
die Unheiligkeit des das Evangelium hörenden Menschen
darin, daß er es sich mit dieser Frage vom Leibe zu halten
versucht. Man kann das Auftauchen dieser Frage geradezu
als Kriterium der Echtheit aller Evangeliumsverkündigung
bezeichnen. Wo es zu solcher kommt, da stellen die Narren
sicher diese Frage. Wo sie sie nicht stellen, da besteht
mindestens der schwere Verdacht, es könnte das Verkün¬
digte etwas sehr Anderes als das Evangelium gewesen
sein. Das nicht mit dieser Frage gelästerte Evangelium ist
schwerlich das echte Evangelium. Und so steht diese Frage
zweimal hier, wie sie schon im 3. Kapitel stand, gewisser-
81
maßen als Anzeige: das echte Evangelium ist auf dem
Plan, und zugleich als Warnung: so wie es im Hohlspiegel
dieser Frage aussieht, sieht das Evangelium in Wirklich¬
keit nicht aus. Um die Heiligung gerade des ungeheiligten
Menschen, der so fragen kann, der wohl so fragen muß,
geht es im Evangelium.
Der erste Abschnitt (v. 1 — 14) beginnt nach der Erwäh¬
nung jener Frage (v. 1) mit der abrupten, in Form einer
Gegenfrage vorgetragenen Feststellung: Wir, die wir der
Sünde gestorben sind, werden nicht mehr in ihr leben
(v. 2). Also: Hinter uns ein Tod, unser eigener Tod, so¬
fern nämlich unser Leben unser Leben in der Sünde, unter
der Sünde, für die Sünde gewesen war: das Leben der
Feindschaft gegen Gott. Vor uns ein Leben, das dieses
durch Tod erledigte Leben jedenfalls nicht mehr sein wird.
Daß der Mensch in der Gegenwart lebt, hinter der diese
Vergangenheit, vor der diese Zukunft steht, das ist seine
Heiligung. Aber was ist das für eine Gegenwart? Paulus
antwortet (v. 3): Sie ist die Gegenwart des Menschen, der
die Taufe auf den Christus Jesus hinter sich hat, dessen
Vergangenheit, dessen Herkunft schlechterdings diese ist,
daß er (durch seine Taufe bezeugt) in die Gemeinschaft mit
Jesus Christus aufgenommen wurde, vermöge derer alles
das, was in Jesus Christus für die ganze Menschheit ein für
allemal (v. 10) geschehen ist, nun auch für ihn gilt, nun
auch ihm zugute kommt. Was in Jesus Christus für die
Menschheit geschehen ist, ist aber in seinem Tod geschehen.
Und so ist der, der auf ihn getauft ist, auf seinen Tod
getauft, will sagen: durch Jesu Christi Tod ist geschehen,
was auch für ihn geschehen ist, was auch ihm gilt und
zugute kommt. Es bezeugte also (v. 4) seine Taufe,
sein eigenes Begräbnis: vollzogen in und mit dem Be¬
gräbnis des getöteten Christus im Grabe des Joseph von
Arimathia. Was kann also seine, des getauften Menschen,
82
Zukunft sein? Offenbar nur ein der Erweckung Jesu
Christi von den Toten Entsprechendes, Vergleichbares, Ähn¬
liches, ein Leben, das in der Auferstehung Christi ebenso
begründet ist, wie zuvor sein Tod und Begräbnis in Chri¬
sti Tod und Begräbnis begründet war: der Wandel in
einem anderen, das vergangene nicht fortsetzenden, son¬
dern schlechterdings überbietenden neuen Leben. Waren
wir (v. 5) in unserer Taufe „verwachsen“ mit einer Ent¬
sprechung seines Todes, zugehörig zu einem ganzen großen
Gegenbild seines Sterbens und Begrabenwerdens, in dem
Maß, daß von uns in allem Ernst zu sagen ist: dort, auf
Golgatha, sind wir selbst gestorben, dort, in jenem Garten,
sind wir selbst begraben worden, so muß ja dasselbe auch
im Blick auf seine Auferstehung gelten. Das Gegenbild
seiner Auferstehung, dem wir zugehören, in das wir kraft
unserer Taufe „verwachsen“ sind, ist aber eben das neue
Leben, in dem wir jetzt, von unserer Taufe her, nicht erst
wandeln sollen, sondern tatsächlich schon wandeln, in die
Zukunft gehen. Was bedeutet das Alles? Nun, wir er¬
kennen (v. 6) — und das ist unsere Erkenntnis Jesu
Christi, in der unser Glaube seinen Grund hat — , daß „un¬
ser alter Mensch“, d. h. wir selbst als Feinde Gottes, in und
mit dem auf Golgatha gekreuzigten Menschen Jesus ans
Kreuz geschlagen und also getötet worden sind, so daß
der „Leib“ (gemeint ist: das Subjekt, die zum Vollzug
nötige Person) der Sünde, der Mensch, der sündigen kann
und will und wird, aufgehoben ist: beseitigt, nicht mehr
vorhanden (also nicht nur: „kraftlos gemacht“!), aus der
Welt geschafft ist. Wir können der Sünde darum nicht
mehr dienen, weil der Mensch, der das konnte — der
überhaupt nichts Anderes konnte als dies: der Sünde die¬
nen — gar nicht mehr lebt, gar nicht mehr da ist. Fernerer
Sündendienst wäre das in sich unmögliche Unternehmen,
unsere Vergangenheit rückgängig machen zu wollen, den
laut unserer Taufe schon getöteten und begrabenen alten
83
Menschen noch einmal aufleben zu lassen. An den Men¬
schen, der jenen Tod — den laut seiner Taufe auch für
ihn geschehenen Tod Jesu Christi — hinter sich hat,
hat die Sünde kein Recht, keinen Anspruch mehr (v. 7).
Er ist aus ihrem Dienst entlassen und kann ihn, wenn er
schon wollte — es handelt sich um eine entschiedene Rechts¬
frage — nicht wieder aufnehmen. Was er vor sich hat, das
kann auf alle Fälle (v. 8) nur noch ein Leben mit Christus,
ein seiner Auferstehung entsprechendes, ein von jenem
Dienst befreites Leben sein: so gewiß Christus — der von
den Toten auferweckte Christus (v. 9) — keinen neuen
weiteren Tod vor sich hat, so gewiß der Tod auf ihn keinen
Anspruch und über ihn keine Gewalt mehr hat, so gewiß
er (v. 10) der Sünde — als der mit unserer Sünde Be¬
ladene, als der für unsere Sünde Büßende, als der die
Strafe unserer Sünde Erleidende — ein für allemal ge¬
storben ist, so gewiß er jetzt Gott: Gott allein und in kei¬
ner Weise einem künftigen Tod entgegenlebt: das reine,
das unbedingte, das ewige Leben des zur Rechten des Va¬
ters erhöhten Menschen. Was bleibt dem auf ihn getauften
Menschen schon übrig, als jene Gegenwart, von der aus er
seine Vergangenheit und seine Zukunft so ansehen muß,
wie sie in dem erstaunlichen Satz in Vers 2 beschrieben
wurde? Welche andere Selbstbetrachtung und Selbstbeur¬
teilung (v. 11) soll ihm erlaubt und möglich sein als die:
Ich bin für die Sünde tot, abwesend, nicht mehr vorhan¬
den, idi bin von der Sünde abgeschnitten und getrennt —
ich lebe, weil nicht mehr für sie, darum für Gott, der diesen
Schnitt zwisdien ihr und mir vollzogen hat: in Christus
Jesus nämlich, auf Grund dessen und in Wahrheit dessen,
daß ich zu jenem Gegenbild seines Sterbens und seines
Lebens gehöre — auf Grund dessen und in Wahrheit
dessen, daß, was ihm geschah, für mich geschah, mit sol¬
cher Autorität und Legitimität für mich geschah, daß,
was immer aus mir und durch mich geschehen möge, durch
84
jenes für mich Geschehene nicht nur zugedeckt, sondern
ausgewischt ist, daß ich nicht mehr unter meiner eigenen,
sondern unter seiner Verantwortlichkeit stehe, nicht mehr
mir selbst, sondern eben ihm gehöre. Das ist die Selbst¬
betrachtung und Selbstbeurteilung des Glaubens (v. 8),
in der wir unsere Heiligung erkennen und ihr werden
wir hinsichtlich unserer Existenz, hinsichtlich alles dessen,
was aus uns und durch uns geschieht, nichts Anderes ent¬
nehmen können als dies (v. 12), daß die Sünde nicht mehr
herrschen darf „in unserem sterblichen Leibe“, d. h. in
dem Sterblichen, was jetzt und hier noch unsere Gestalt
ist als Subjekte, die von dem Subjekt Jesus Christus
verschieden sind. Sie darf es nicht, weil sie es nicht mehr
kann, weil wir ja gerade in dieser Gestalt getauft, mit
dem Gegenbilde seines Todes und seiner Auferstehung „ver¬
wachsen“ und damit der Sünde gestorben, von der Sünde
abgeschnitten, der Herrschaft der Sünde entrückt sind. Die
Begierden, die dieser unserer sterblichen Gestalt als solcher
eigentümlich sind, haben darum keinen legitimen Anspruch
auf unseren Gehorsam, weil wir schon in dieser unserer
sterbenden Gestalt nicht uns selbst, sondern Jesus Chri¬
stus gehören, weil das Subjekt, das der Sünde untertan
und gehorsam sein müßte und könnte, schon jetzt und hier
nicht mehr lebt, weil wir auch in dieser sterbenden Gestalt
eine andere Zukunft als die in der Zugehörigkeit zu Jesus
Christus nicht vor uns haben. Aus jener Selbstbetrachtung
und Selbstbeurteilung folgt also das Verbot: „Gebt eure
Glieder (eure Lebensmöglichkeiten und Lebensäußerungen
in jeder Hinsicht!) nicht her zu Werkzeugen der Unge¬
rechtigkeit!“ und folgt das Gebot: „Stellt euch Gott (als
das, was ihr seid) als solche, die aus Toten zu Lebenden
geworden sind, zur Verfügung und eure Glieder zu Werk¬
zeugen der Gerechtigkeit für Gott!“ (v. 13). Tut jenes
nicht, weil ihr es nicht tun könnt! Tut dieses, weil dieses
das allein Mögliche ist: weil (v. 14) die Sünde nicht über
85
euch herrschen wird. Man beachte die Erklärung des Im¬
perativs von Vers 12 durch diesen Indikativ. Die Sünde
wird nie und unter keinen Umständen ein Herrschafts¬
recht, eine wirkliche Macht, über euch haben: auch wenn
ihr jenes tun und dieses nicht tun würdet. Es kann von
irgend einer Begründung der Sünde bei euch, den getauf¬
ten Menschen, keine Rede sein. Gerade bei euch nicht!
Weil ihr ja nicht unter dem Gesetz steht, das euch noch
einmal der Sünde anklagen, das bestätigen könnte, daß
ihr Sünder seid, sondern unter der Gnade, durch die ihr
von der Sünde freigesprochen seid, weil ja eben der Richter
selbst nicht gegen, sondern für euch gesprochen und gerade
damit Gottes Rechtsentscheidung über euch ausgesprochen
und schon an euch vollzogen hat. Weil es mit eurer Heili¬
gung steht, daß sie unabhängig von eurem guten oder
bösen Willen Ereignis ist, weil das Nein der Sünde und das
Ja zu einem neuen, der Sünde abgewandten, Gott zuge¬
wandten Leben für euch endgültig und darum schon jetzt
und hier gültig feststeht, darum müßt ihr, darum sollt
ihr nicht mehr das Leben des alten Menschen leben, dar¬
um in dem neuen Leben wandeln. Ihr habt gar kein ande¬
res! Ihr habt nur das Leben in der Gemeinschaft mit
dem, der die Sünde, gerade eure Sünde, auf sich genom¬
men und hinweggetragen und der nun ganz allein das
Leben mit Gott vor sich hat. Das ist die Kraft des Impe¬
rativs eurer Heiligung.
Der zweite Abschnitt (v. 15 — 23) rückt nach nochmaliger
Erwähnung jener Narrenfrage (v. 15) dies in den Vorder¬
grund, daß die, die laut Vers 14 unter der Gnade stehen,
eben damit unter einer bestimmten Ordnung, in ein Dienst¬
verhältnis versetzt sind. Man beachte, daß Paulus in Vers 19
sagt, daß es sich bei dieser Betrachtungsweise um eine
„menschliche Weise“ handelt, angebracht „um der Schwach¬
heit eures Fleisches willen“, von ihm dazu eingeführt, um
86
sich ganz und sicher und jedenfalls praktisch verständlich
zu madien, wenn etwa das Vers 1 — 14 Gesagte nicht greif¬
bar genug geworden sein sollte — aber auch unter der War¬
nung, daß das Greifbare, das Praktische, was nun kommt,
doch ja nicht abstrakt, ja nicht anders als im Lichte, nicht
anders denn als Anwendung dessen gehört und verstanden
werden möchte, was er dort gesagt hat.
Der Mensch steht so oder so unter einer Herrschaft,
hören wir in Vers 16. Er ist entweder ein Knecht der
Sünde oder ein Knecht des Gehorsams. Sünde und Ge¬
horsam sind also nicht zuerst unsere Taten, sondern be¬
vor sie das sind, die uns so oder so beherrschenden
Mächte. Das ist aber die nicht genug zu preisende Gnade
Gottes (v. 17), daß wir Knechte der Sünde wohl waren,
aber nun nicht mehr sind; sind wir doch dem Evange¬
lium, indem es uns gesagt und von uns vernommen
wurde, von Herzen und also mit unserer ganzen Existenz
gehorsam und so zu Untertanen jenes . zweiten Bereichs,
zu Knechten des Gehorsams geworden: von der Sünde
befreit und zu Knechten der Gerechtigkeit gemacht. Zu
Knechten? Hier schaltet Paulus (v. 19) jene Bemerkung
ein: es geht ja, eigentlich geredet, nicht um Knechtschaft
in diesem neuen Stand, sondern gerade um Freiheit.
Aber sei es denn: es kann jedenfalls das, daß wir nicht
mehr Knechte der Sünde sind, daran klar gemacht wer¬
den, daß wir jetzt tatsächlich unter einer anderen Herr¬
schaft, in einem neuen Reich leben, „Knechte der Freiheit“
sind — so würde wohl das Eigentliche lauten, was Pau¬
lus hier nur uneigentlich „menschlicher Weise“ gesagt
haben will. Wieder wird jetzt das alte vergangene Leben
der Sündenknechtschaft (Kap. 5, 12 f.) zum Gleichnis des
Lebens, das vor uns liegt: wie damals so jetzt! So jetzt:
diese bessere Entsprechung der Herrschaft, unter der wir
damals standen, ist unsere Heiligung, das Leben unter
dem göttlichen Ja, durch das unser Leben unter dem
87
göttlichen Nein überholt, überboten und erledigt ist. Und
dem folgt in Vers 20 — 22 die Gegenüberstellung: „Wie
ihr damals unter einer Herrschaft standet und jetzt wie¬
der unter einer Herrschaft steht, so wart ihr damals frei:
von der Gerechtigketi nämlich, in einer furchtbaren Frei¬
heit, deren notwendige, schändliche Folge, als Frucht der
Sünde der Tod ist. Und so seid ihr jetzt wieder frei,
frei nämlich eben von der Sünde, indem ihr Gottes
Knechte geworden seid mit der Folge, daß ihr durch seine
Entsdieidung und die damit aufgerichtete Ordnung ge¬
heiligte Menschen seid, die als solche dem ewigen Leben
entgegeneilen. Also Tod ist dort der Lohn, der Sold,
(v. 23), ewiges Leben ist hier die Gnadengabe. Ihr seid
nicht Söldlinge, ihr seid nicht Lohndiener, ihr empfangt
und habt die Gabe der Gnade. Dieses Empfangen und
Haben ist euer Sein und dieses als solches ist die Ord¬
nung, unter der ihr lebt, der Imperativ, dem ihr zu ge¬
horchen habt, weil ihr außerhalb dieser Ordnung über¬
haupt nicht da seid. Weil dem so ist, darum ist das Evan¬
gelium auch unter diesem Gesichtspunkt notwendig und
als solches: eure Heiligung.
88
7, 1—25
Das Evangelium als des Menschen
Befreiung
Das 7. Kapitel *) bringt eine weitere, dritte Erklärung
des Satzes in Kap. 1, 16, daß das Evangelium Gottes all¬
mächtiges Rettungswerk für jeden Glaubenden ist, eine
dritte Erklärung des Satzes in Kap. 1, 17, daß der durch
seinen Glauben vor Gott Gerechte kraft dieses seines
Glaubens leben wird. Wir hören jetzt: das Evangelium
ist des Menschen Befreiung — seine Befreiung vom Ge¬
setz nämlich. So lesen wir es an der entscheidenden Stelle
des Gleichnisses am Anfang dieses Kapitels (v. 3) und
so dann auch in dem Rückblick am Anfang des folgenden
(Kap. 8, 2). Aber gerade die Stelle in Kap. 8, 2 mahnt
uns sofort zur Genauigkeit. Daß wir von dem „Gesetz
der Sünde und des Todes“ befreit sind, heißt es dort, und
es darf, wenn man Römer 7 verstehen will, an keiner
Stelle übersehen werden, daß von diesem und nur von
diesem Gesetz die Rede ist. Daß wir von diesem Gesetz
befreit sind: für dieses Gesetz erledigt, ihm enthoben, ja
getötet, das ist die in dem ersten Abschnitt (v. 1 — 6)
enthaltene und durch den Schluß (v. 24 — 25) bestätigte
eigentliche Aussage unseres Kapitels. Alles übrige ist
nämlich nicht eine Fortsetzung dieser Hauptaussage, son¬
dern eine in zwei weiteren Abschnitten (v. 7 — 12 und
v. 13 — 23) verlaufende Erläuterung des besonderen
Sinnes, in welchem in Vers 1 — 6 vom Gesetz die Rede
*) Vgl. dazu KD IV, i, S. 648 f.
89
ist, des besonderen Sinnes also, in welchem dort von ihm
gesagt wird, daß wir, die an das Evangelium Glauben¬
den, von ihm befreit sind. Man vergleiche Kap. 8, 2 mit
Kap. 7, 7 und Kap. 7, 13, so. bemerkt man sofort, daß
in jenem zweiten und dritten Abschnitt des 7. Kapitels
erläutert wird, wieso und inwiefern das Gesetz 1. ein
Gesetz der Sünde und 2. ein Gesetz des Todes sein kann,
von dem wir durch das Evangelium befreit sind.
Das 7. Kapitel ist von jeher eine der am meisten be¬
achteten und hervorgehobenen Stellen des Römerbriefes
gewesen. Dagegen wäre nichts, sondern dafür wäre sehr
vieles zu sagen, wenn man dabei an die allerdings außer¬
ordentliche Tragweite der in Vers 1 — 6 und Vers 24 — 25
ausgesprochenen Erkenntnis von unserer Befreiung vom
Gesetz der Sünde und des Todes gedacht hätte. Es ist
aber kein gutes Zeugnis für das Verständnis unseres
Briefes, daß das besondere Interesse so vieler Leser sich
gerade nicht auf diese Hauptaussage, sondern auf ihre
nachträglichen Erläuterungen und vor allem auf die
zweite in Vers 13 — 23 gerichtet hat, wo das Gesetz, von
dem wir befreit sind, im besonderen als das Gesetz des
Todes, d. h. als das uns zum Tod verurteilende Gesetz
beschrieben wird. Eine höchst interessante, höchst auf¬
regende Psychologie der Sünde in ihrem Verhältnis zu
Gottes Gesetz meinte man dort zu finden und übersah
dabei, daß es sich in Vers 13 — 23 wie Vers 7 — 12 sozu¬
sagen um kleingcdruckte Anmerkungen handelt, in denen
Paulus die Bedeutung und Wirksamkeit des Gesetzes
beschreibt, von dem wir im Glauben gerade befreit bzw.
für das wir selbst im Glauben gerade nicht mehr vor¬
handen sind, in denen also eine Situation dargestellt wird,
die uns nur noch als die im Glauben überholte Situation
unserer eigenen Vergangenheit interessieren kann, in
welcher wir uns weder zur Sünde noch zum Gesetz in
der richtigen Stellung befinden, in der nachträglich zu
90
verweilen oder die für sich ernst zu nehmen wir durch
das, was Paulus über sie sagt, bestimmt nicht eingeladen
sind. Nicht auf das will er unsere Aufmerksamkeit len¬
ken, was da gilt und passiert , von wo wir im Glauben
weggerufen sind, sondern darauf, daß wir von da, wo
das gilt und passiert, im Glauben weggerufen sind: also
darauf, daß der Bereich der Psychologie der Bereich ist,
in welchem wir — glaubend an das Evangelium — nichts
zu suchen und nichts zu finden haben — Gnade und Leben
schon gar nicht, aber nicht einmal die Erkenntnis unserer
wirklichen Sünde. Inwiefern ist er ernstlich wichtig? Ge¬
nau nur insofern, als er der Bereich ist, den wir im
Glauben an das Evangelium hinter uns, in unserem
Rücken haben. Von dem Dahintenliegen dieses Bereichs
redet Röm. 7 auch in den Abschnitten Vers 7 — 12 und
Vers 13—23.
Die Hauptaussage in Vers 1 — 6 beginnt in Vers 1 mit
einer rückwärts blickenden Frage: „Oder wißt ihr nicht,
Brüder . . .“ — die entscheidende Fortsetzung lautet nach
Vers 6: daß wir dem Gesetz enthoben und entrückt, für
das Gesetz erledigt sind? Indem Paulus offenbar an¬
nimmt, daß die Leser das nicht oder nicht gut und genau
genug wissen, setzt er zu dieser weiteren Erklärung an:
das Evangelium ist auch in dem Sinn Gottes allmächtiges
Rettungswerk, daß es des Menschen Befreiung ist, seine
Befreiung vom Gesetze. Die Frage blickt offenbar zurück
auf eine bestimmte Stelle im 6. Kapitel, nämlich auf
Kap. 6, 14 (vergl. Kap. 6, 15), wo Paulus den Satz: die
Sünde wird nicht über euch herrschen, mit dem anderen
Satz begründet hatte: „Ihr seid nicht unter dem Gesetz,
sondern unter der Gnade“. Im Zusammenhang der Er¬
kenntnis des 6. Kapitels: daß wir darum nicht mehr
sündigen dürfen, weil wir es nicht mehr können und
darum nicht mehr können, weil wir als die, die das konn¬
ten, im Tode Jesu Christi gestorben und also nicht mehr
91
vorhanden, weil wir durch die Auferstehung Jesu Christi
unter eine Ordnung versetzt sind, die die Sünde aus¬
schließt — in diesem Zusammenhang war jener Satz zu¬
nächst nur aufgetaucht, um dann wieder zu verschwin¬
den. Er hatte vorweggenommen, was jetzt besonders zur
Aussprache kommen soll: ihr dürft, ihr könnt darum
nicht mehr sündigen, weil mit euch selbst, nämlidi mit
eurem im Tode Jesu Christi mitgestorbenen alten Men¬
schen auch die eigentliche „Kraft“ der Sünde (so sagt
Paulus in 1. Kor. 15, 56) nämlich das Gesetz, nicht mehr
über euch ist, weil ihr als die mit Jesus Christus Gestor¬
benen und Auferstandenen unter der Gnade und nicht
mehr unter dem Gesetz steht. Paulus hatte dasselbe
schon früher beiläufig angedeutet: „Wo das Gesetz nicht
ist, da ist keine Übertretung" (Kap. 4, 15). Aber er ver¬
mutet offenbar, daß gerade diese Erkenntnis, in Form sol¬
cher bloß beiläufigen und andeutenden Sätze vorgetragen,
die Leuchtkraft nicht haben möchte, die gerade sie haben
muß. Er vermutet offenbar, daß Anderes, was er bis da¬
hin vom Gesetz in ähnlicher Beiläufigkeit gesagt, den
Lesern viel eindrücklicher gewesen sein oder jenen An¬
deutungen doch in rätselhaftem Widerspruch gegenüber¬
stehen möchte: „Das Gesetz richtet Zorn an“ (Kap. 4, 15)
oder „Das Gesetz ist zwischenhineingekommen und so ist
die Übertretung erst groß geworden“ (Kap. 5, 20). Er
vermutet offenbar, daß Alles, was er im 6. Kapitel über
das Evangelium als des Menschen Heiligung gesagt hatte,
beschattet und bedroht sein könnte durch die Frage: ob
denn das Gesetz nicht nach wie vor, d. h. trotz des Todes
und der Auferstehung Jesu Christi, trotz unseres Glau¬
bens an ihn und trotz unserer Taufe auf seinen Namen,
die Sünde immer wieder ins Leben rufe und im Leben
erhalte, um uns dann als Sünder anzuklagen und somit
unsere Heiligung, damit aber auch unsere Versöhnung
mit Gott und also das ganze Rettungswerk des Evange-
92
liums zunichte zu machen und Gottes Rechtsentscheidung,
daß wir im Glauben an Jesus Christus vor ihm Gerechte
seien, Lügen zu strafen. Ob das Gesetz in dieser Funktion
und als diese Gefahr für die Glaubenden immer noch
vorhanden sei? das ist die in Röm. 7 von Paulus ver¬
neinte Frage: verneint durch die Erklärung, daß wir vom
Gesetz, d. h. von diesem Gesetz der Sünde und des Todes
befreit sind. Es ist eine Erklärung, die allerdings der Er¬
läuterung bedarf. Ihrer Erläuterung hinsichtlich der hier
gemachten Voraussetzung des Gesetzes, das uns zur Sün¬
de verführt und andererseits wegen der Sünde anklagt
und zum Tode verurteilt, dienen die Abschnitte Vers
7 — 12 und Vers 13 — 23. Sie muß aber vor aller Erläute¬
rung ausdrücklich ausgesprochen werden. Das geschieht
in Vers 1 — 6 und in den Schluß versen in Vers 24 — 25.
Vers 1 beginnt mit dem allgemeinen, jedem, der weiß,
was ein Gesetz ist, bekannten und einleuchtenden Satz, daß
das Gesetz den lebenden Menschen meint und beherrscht.
Daß also der Tod dieses Menschen wie seine Verpflichtun¬
gen Anderen, so auch alle Verpflichtungen Anderer ihm
gegenüber hinfällig macht. Der lebende und also dem Ge¬
setz unterworfene Mensch, von dem Paulus redet, ist der
(nach Vers 5) „im Fleisch“, also als jener „alte Mensch“
(Kap. 6, 6) lebende Mensch. Ihn betrifft, ihn bindet zwei¬
fellos das Gesetz: das „Gesetz der Sünde und des Todes“
(Kap. 8, 2) nämlich, welches Paulus entsprechend der
Frage, die er zu beantworten hat, zum vorherein allein
im Auge hat: das Gesetz, durch das (nach v. 5) einerseits
die Sündenleidenschaften in unsern Gliedern, in unserm
ganzen Leben erregt, andererseits Todesfurcht (Kap. 6, 21)
durch das Urteil, das es über uns spricht, notwendig ge¬
macht wird. Das Leben dieses Menschen wird immer und
unter allen Umständen sein Leben unter diesem Gesetz
sein. Und nun setzt in Vers 2 eine Gleichnisrede ein. So-
93
lange dieser Mensch, dieser Mann, heißt es jetzt — lebt,
ist seine Frau durch das ihn — und solange er lebt,
auch sie — verpflichtende Gesetz an ihn gebunden. Mit
anderen Worten: Solange wir (der Mann!) im Fleische
als jener alte Mensch leben, sind wir (die Frau!) durch
das jenen alten Menschen und mit ihm uns selbst bin¬
dende Gesetz bestimmt, stehen wir in der Tat unter der
Notwendigkeit, durch das Gesetz erst recht zu Sündern und
dann als solche angeklagt zu werden. Das Gesetz des
lebenden Mannes ist, solange er lebt, auch unser Gesetz.
Stirbt der Mann (d. h. wir selbst als die im Fleisch Leben¬
den), dann ist die Frau wie ihm, so audi dem sie und
ihn bindenden Gesetz entrückt, d. h. dann sind wir selbst
als die durch den Tod des alten Menschen in einen neuen
Stand Versetzten nicht mehr unter jener Notwendigkeit;
das Gesetz als Erreger und Ankläger unserer Sünde hat
dann uns gegenüber seine Kraft verloren. Es bedarf frei¬
lich (v. 3) des Todes jenes Mannes, damit seine Frau
rechtmäßig frei werde. Würde sie sich diese Freiheit neh¬
men und zu Lebzeiten ihres Mannes einem anderen ge¬
hören, dann würde sie durch das Gesetz, das sie an ihn
bindet, als Ehebrecherin verklagt und gerichtet sein. Mit
anderen Worten: ohne den Tod des alten Menschen
könnte jeder Versuch, uns dem Gesetz der Sünde und des
Todes zu entziehen, jeder Versuch, der Sünde und dem
Tod zu entlaufen, nur die Folge haben, daß wir durch
dasselbe Gesetz erst recht der Sünde überführt und des
Todes schuldig gesprochen würden. Was bringen wir, so¬
lange und sofern wir im Fleische leben, in dieser Riditung
schon fertig, als das, was das Alte Testament als quali¬
fizierten Ehebruch Israels seinem Gott gegenüber bezeich¬
net: allerlei Götzendienst und allerlei Werkgerechtigkeit,
Sünde, die die Sünde nicht austreibt, sondern erst zu ihrer
Blüte bringt und die unser Todesurteil nur unwiderruf¬
lich machen kann? Die Frau kann aber von dem Gesetz,
94
das sie an den Mann bindet, dadurch faktisch frei wer¬
den, daß jener stirbt. Sie kann dann laut desselben Ge¬
setzes, das sie an jenen band, ohne Anklage einem ande¬
ren gehören. Mit anderen Worten: wir können von dem
Gesetz der Sünde und des Todes dadurch faktisch und
damit auch rechts- und ordnungsmäßig frei werden, daß
wir als die, die im Fleische lebten, nicht mehr da, nicht
mehr anzusprechen, weil getötet und gestorben sind, so
daß uns das diesen alten Menschen angehende Gesetz
nicht mehr angeht, so daß wir nun — anderswo als
unter diesem Gesetz — andere, von seinem Erregen
und Verurteilen der Sünde nicht mehr betroffene, son¬
dern befreite Menschen sein können. Vers 3 — 6 bringen
die Deutung des Gleichnisses. Sie setzt bei dessen letztem
Gliede ein. Für den Glaubenden ist eben das Ereignis,
was die Frau vom Manne und damit von ihrer eigenen
Bindung durch das Gesetz frei macht. Sie sind (laut Kap.
6, 2 f.) dem Gesetz der Sünde und des Todes dadurch
entrückt, daß ihr alter Mensch getötet, nämlich mitgetötet
wurde in der leiblichen Tötung Jesu Christi. Aber hier
sprengt nun die Sache das Gleichnis. Denn mit dieser
ihrer in Jesus Christus geschehenen Tötung sind sie ja
nicht nur wie jene Frau in die Freiheit gesetzt, irgend
einem anderen angehören zu dürfen, sondern dazu ge¬
schah jene Tötung, damit sie dem ganz bestimmten ande¬
ren: demselben, mit dem sie gestorben, der ja auch der
von den Toten Auferweckte ist, angchören sollten, um in
dieser legitimen und notwendigen neuen Verbindung und
Zugehörigkeit Gott und nicht mehr dem Tode Frucht
bringen zu dürfen. Es ist die die Sünde erregende und
verurteilende Wirkung des Gesetzes — der sie nicht ent¬
fliehen können, der sie nur entfliehen wollen, die sie mit
allem Entfliehenwollen nur schlimmer machen könnten —
für sie damit Vergangenheit geworden, daß sie selbst
(nämlich hinsichtlich ihres Lebens im Fleische) Vergangen-
95
heit wurde (v. 5). So zur Vergangenheit, wie eben der Tod
Vergangenheit schafft (v. 6) — nicht irgendein Tod freilich
(der Tod als solcher könnte ja nur ein Vakuum schaffen),
sondern der Tod Jesu Christi, der nicht nur das Fest¬
haltende, die Klammer auflöst: die Existenz, in der sie
jenem Gesetz verhaftet waren, sondern der mit dieser
Auflösung, so gewiß er von den Toten auferstanden ist,
den dieses Todes Gestorbenen frei macht für die ganz
andere Bindung: für den Dienst in dem neuen Wesen
des Geistes, das genau dort anfängt, wo das alte Wesen
des Buchstabens, d. h. eben das Regiment, die Gültigkeit
und Wirkung jenes Gesetzes aufhört. „Gott sei Dank
durch unsern Herrn Jesus Christus!“, so wird Paulus
am Ende des Kapitels (v. 25) ausrufen — Gott sei Dank,
der mich elenden Menschen dem „Leib dieses Todes“, d. h.
der durch das Gesetz unvermeidlich zur Todesverfallen-
heit bestimmten Menschenexistenz entrissen hat — der
Existenz, der ich mich selbst nicht entreißen konnte noch
kann, angesichts derer ich nur seufzen konnte, und indem
ich sie erledigt hinter mir sehe, auch jetzt nur seufzen
kann: Wer wird mich ihr entreißen? — der ich aber in
Jesus Christus durch den Tod, den er diesem meinem
Todesleib bereitet hat, der meiner Existenz in ihm zuteil
geworden ist, schon entrissen bin (v. 24)! Mag sie als ge¬
tötete, als meine eigene Vergangenheit immer noch meine
Existenz, immer noch vor Gottes und meinen eigenen
Augen sein, mag es also sein, daß ich im Fleische — in
meinem in Jesus Christus in den Tod gegebenen Fleische!
— noch immer, täglich und bis an mein Ende, jenem „Ge¬
setz der Sünde“ diene — ich selbst, ich in meinem Innern,
ich als der sich selbst lebend findet im Leben Jesu Christi,
ich diene heute schon dem Gesetz Gottes (v. 25). Ich bin
wirklich frei von dem Gesetz, das das Gesetz der Sünde
und des Todes ist, mag es immer das Gesetz sein, dem ich
mein in Jesus Christus getötetes Fleisch noch heute unter-
96
worfen sehe. Was es mit dem Leben in diesem anderen
Dienst, in dem neuen Wesen des Geistes auf sich hat, da¬
von wird Paulus im 8. Kapitel reden und sich dort unter
einem neuen, vierten Aspekt erklären, wie das Evange¬
lium Gottes allmächtiges Rettungswerk ist.
Er gibt uns vorher in dem übrigen größeren Teil des
7. Kapitels noch zwei Erläuterungen hinsichtlich der
wichtigsten Voraussetzung, die er in Vers 1 — 6 hinsicht¬
lich des Gesetzes gemacht hat: daß das Gesetz, von dem
wir befreit sind, das „Gesetz der Sünde und des Todes“
ist. Nur unter dieser Voraussetzung und nur in diesem
Sinn kann es offenbar eine Befreiung vom Gesetz geben.
Nur von diesem Gesetz kann der Glaubende frei sein.
Wir wissen ja, daß Paulus das Gesetz nicht aufzuheben,
sondern aufzurichten gedenkt durch den Glauben (Kap.
3, 31), durch die Verkündigung des Evangeliums. Er hat
es wahrhaftig im vorangehenden 6. Kapitel deutlich ge¬
nug aufgerichtet! Er sagt ja auch in unserem Kapitel,
daß es sich in der gewonnenen Freiheit gegenüber jenem
Gesetz um das Dienen in einem neuen Wesen und also
sicher nicht um Gesetzlosigkeit handelt (v. 6) und am
Ende des Kapitels ausdrücklich: daß er in seinem Innern,
er selbst (im Gegensatz zu seinem getöteten Leben im
Fleische) dem Gesetz Gottes dienen dürfe und tatsächlich
diene (v. 25). Und er wird nachher (Kap. 8, 2) sogar noch
stärker sagen: daß es gerade dieses Gesetz Gottes („Das
Gesetz des Geistes und Lebens“) ist, das den Menschen
frei macht von dem Gesetz der Sünde und des Todes.
Was aber hat es mit diesem Gesetz der Sünde und des
Todes auf sich? Wie kommt es zur Existenz, und welches
sind die Funktionen dieses Gesetzes, von dem letztlich
und entscheidend nur dies zu sagen ist, daß das Evan¬
gelium uns von ihm befreit, daß wir als Glaubende nicht
unter ihm stehen?
97
„Ist das Gesetz Sünde?“ läßt sich Paulus (v. 7) fragen
und antwortet entsetzt (mit demselben Entsetzen wie in
Kap. 6, 2 und Kap. 6, 15): „Das sei ferne!“ Das Gesetz
ist (Kap. 3, 21) die Bezeugung des Evangeliums, die
Form, die Schale, in der das Evangelium zu uns Men¬
schen kommt. Wie sollte das Evangelium anders zu uns
kommen als in Gestalt von Mahnung, Warnung, Wei¬
sung, Befehl, Gebot und Verbot? In dieser Gestalt — in
der Gestalt des Gesetzes also — hat Paulus selber es in
Kap. 1, 18 — 3, 20 geltend gemacht zur Verkündigung
des durch das Evangelium vollzogenen Gerichtes über
alle Menschen. Eben als diese Gestalt des Evangeliums
hat Paulus selbst das Gesetz in allen seinen Briefen und
so auch im Römerbrief verkündigt. Als Gestalt des Evan¬
geliums ist das Gesetz, weit entfernt davon, Sünde zu
sein, vielmehr die Offenbarungsgestalt der Gnade Gottes.
Eben als solche ist es heilig, ist sein Gebot — jedes seiner
Gebote — heilig und gerecht und gut (v. 12). Aber das
Gesetz (und in seiner Gestalt das Evangelium) wird ja
offenbar im Bereich der Sünde. Dem sündigen Menschen
ist es gegeben, und in seinen Augen, Ohren und Händen
wird es, vermöge der ihn beherrschenden Sünde, dieses
andere Gesetz, von dem er durch das, was es als Gottes
Gesetz in sich schließt, nämlich durch das Evangelium,
durch den Glauben, der im Gesetz das Evangelium emp¬
fängt und ergreift, befreit werden muß und tatsächlich
befreit wird. Es gehört zu der Herablassung Gottes, daß
er sich selbst im Gesetz als der Gestalt des Evangeliums
der Sünde preisgibt, dem menschlichen Mißverständnis
und Mißbrauch aussetzt. Es gehört zu seiner Heiligkeit,
daß eben die von sündigen Menschen mißbrauchte Gestalt
seiner Gnade zum Instrument seines Zornes und Ge¬
richtes über den Menschen werden muß, daß der Mensch,
der sich dieses Mißbrauchs schuldig macht, es auch in
dieser mißbrauchten Gestalt mit Gott selber zu tun hat,
98
nur daß ihm nun eben durch sie die Erfahrung zuteil
werden muß, daß Gott seiner nicht spotten läßt. Und es
gehört zu Gottes Barmherzigkeit und zu seiner Allmacht
zugleich, daß er sich diesen Mißbrauch der Gestalt seiner
Gnade schließlich nicht gefallen, daß er es dabei, daß sie
vom Menschen mißbraucht wird, nicht sein Bewenden ha¬
ben, sondern das im Gesetz verborgene Evangelium in
Jesus Christus auch aus seiner verunreinigten Schale
hervorbrechen und eben damit auch diese, auch das Ge¬
setz als sein Gesetz, als das heilige Gesetz des Geistes
des Lebens, wieder erstehen und neu offenbar werden
läßt. Verse 7 — 11 beschreiben diesen Mißbrauch des Ge¬
setzes und erläutern damit, inwiefern es — indem es
in sich etwas ganz anderes als Sünde ist — nun doch
das „Gesetz der Sünde“, d. h. das die menschliche Sünde
erregende, mehrende und offenbarende Gesetz werden
kann, von dem wir durch das Evangelium befreit sind.
Wir hören, daß die Sünde am Gesetz entsteht: in der
Begegnung des Menschen mit dem Gesetz. Der Mensch
kannte sie nicht; sie war und ist ihm fremd, solange er
nicht der Gnade Gottes in der Form des an ihn gerich¬
teten Anspruchs, in der Gestalt des Gesetzes begegnet.
Sie ist wohl auch ohne das Gesetz da, aber sie lauert vor
der Türe, sie hat keinen Anlaß (kein Sprungbrett!), um
zu der Tat zu werden, die uns zu Feinden Gottes macht
und damit dem Tod überliefert. Sie ist noch tot (v. 8)!
Sie erwacht aber zum Leben, sie findet Anlaß und
Sprungbrett, indem ich dem Gesetz begegne. In dieser
Begegnung erhebt sie sich, wird sie aktiv, betrügt sie
mich, wird sie meine eigene Sünde und so der Grund
meiner eigenen Verdammnis. Denn indem das Gesetz mich
fordert für Gott und gegen meine eigene Begierde, flü¬
stert die Sünde mir ein, daß ich dieser Forderung selbst
Genüge tun, daß ich mich selbst reinigen, rechtfertigen
und heiligen solle. Sie flüstert mir ein, daß ich für die
99
mir im Gesetz angebotene Gnade zu gut sei, daß ich sie
zurückstoßen und statt des mir durch Gottes Gesetz be¬
fohlenen Glaubens mein eigenes Werk, meine eigene
Frömmigkeit und meine eigene moralische Leistung vor
Gott hinstellen und mich dadurch Gottes würdig machen
solle. Sie flüstert mir ein, daß Gott doch gewiß nicht ge¬
sagt haben könne, daß ich ihm nicht gleich sein, daß ich
mir an seiner Gnade genügen lassen solle, daß er viel¬
mehr bestimmt gemeint habe, ich selber, ein anderer Gott
neben ihm, solle tun, was er für mich tun will. Mit dieser
Einflüsterung und indem ich dieser Einflüsterung Gehör
gebe, erwacht die Sünde; damit wird sie zur Tat und
zum Ereignis. Eben jetzt, in diesem Mißverständnis und
Mißbrauch des Gesetzes, durch die mir inne wohnende
Sünde, deren ich mich jetzt schuldig mache, werde ich der
verbotenen Begierde schuldig: der Begierde, zu sein wie
Gott. Und eben damit, als der so Begierige — begierig
eigenen Ruhmes vor Gott, wo mir sein Ruhm genügen,
wo ich seinem Ruhme dienen sollte, um darin meinen
Ruhm zu haben — werde ich des Todes schuldig, hat
mich die Sünde, die mich verführte und betrog, habe ich
mich selbst, indem ich mich von ihr verführen und be¬
trügen ließ, dem Tode ausgeliefert. Die Sünde? Ich sel¬
ber? Jawohl, die Sünde, jawohl, ich selber, aber die Sünde
und vermöge der Sünde ich selber gerade durch das Ge¬
setz: die durch das Gesetz lebendig, kräftig gewordene
Sünde, ich selber als der in meiner Begegnung mit dem
Gesetz zum aktiven Sünder gewordene sündige Mensch.
Was mich zum Leben, weil zum Gehorsam führen sollte:
Gottes heiliges Gebot, eben das wurde mir zur Anleitung
zum Ungehorsam und so zum Tode. Denn das ist der Un¬
gehorsam, das die lebendige, kräftige Sünde, neben der
alle anderen nur Puppensünden sind: die Verachtung der
Gnade Gottes, der menschliche Griff nach dem, was er für
uns sein und tun will, der Versuch, uns selber zu retten,
100
zu sichern, zu erheben, wo er unsere Errettung, Siche¬
rung und Erhöhung allein sein will. Alles was Gott ver¬
boten hat, ist darum verboten, weil es in seiner Wurzel
und in seinem Wesen dieses eine Verbotene: der Akt
unseres Hasses gegen Gottes Gnade ist. Weil und indem
wir dieses Verbotene tun, darum und damit alles andere.
Und daß uns dieses verbotene Tun vergeben werde — da¬
mit wirksam vergeben, daß wir andere Menschen wer¬
den, die eben das nicht mehr tun können und wollen — ,
darum und also (mit der Befreiung von uns selbst) um
die Befreiung von dem mißbrauchten Verbot und Gebot,
um die Wiederherstellung des Gesetzes, wie Gott selbst
es uns gegeben und wie er es gemeint hat, geht es bei
dem Durchbruch und der Offenbarung des Evangeliums
im Gesetz, um derentwillen Paulus am Schluß unseres
Kapitels Gott danksagt durch unseren Herrn Jesus Chri¬
stus.
„So ist das Gute (das nach Vers 12 heilige, gerechte,
gute Gebot des Gesetzes Gottes) mir zumTode geworden?“
(v. 13). Das ist die zweite Frage, die Paulus sich stellen
läßt und die er wieder mit seinem „Unmöglich“ beant¬
wortet. Wohl bin ich durch das Gesetz zum Tode verur¬
teilt, wie ich nach Vers 7 — 12 durch das Gesetz zur
Sünde veranlaßt bin. Aber es besteht hier wie dort kein
Grund, das Gesetz, wohl aber aller Grund, die Sünde anzu¬
klagen, die darin als Sünde offenbar wird (die mich darin
zum unentschuldbaren Sünder macht und mich dem ver¬
dienten Tode überliefert), daß sie sich gerade des Gesetzes
bemächtigt und bedient. Nicht das Gute also, aber aller¬
dings die Sünde durch das verkehrte Gute hat mir den
Tod bereitet. Indem das Gesetz mir das Gute sein, mir
zum Leben verhelfen wollte, verführte mich die Sünde
zu dem Irrglauben, daß ich doch auch noch etwas Anderes
und Besseres sei als ein Sünder, leitete sie mich an, mich
selbst für im Grunde gut zu halten und also für fähig,
101
mir selbst zu helfen — verlockte sie mich, in scheinbarem
Gehorsam gegen das Gesetz gerade das zu tun, was durch
das Gesetz verboten ist: mich selbst durch meine eigene
Güte sündlos machen zu wollen. Eben in diesem Mi߬
brauch des mir gegebenen Gebotes ist die Sünde „über
die Maßen sündhaft“ geworden und hat sie mich tödlich
getroffen. Hat sie mich doch damit des mir, dem Sünder,
durch den Rechtsspruch des gnädigen Gottes zugesagten
Lebens beraubt. Sie erzog mich zu einem vermeintlichen
und angeblichen Heiligen , und eben damit verursachte sie
meinen hoffnungslosen Fall. Denn eben damit setzte sie
mich in Widerspruch zu dem Gott, der sich der Elenden
erbarmt und der die Toten auferweckt, vor dem darum
alle menschliche Heiligkeit aus eigener Kunst und Kraft
nur Greuel sein kann, für den wir als solche Heilige ver¬
loren sind. Von diesem Verlorensein des durch die
triumphierende Sünde zu einem solchen wunderlichen
Heiligen gemachten Menschen reden die Verse 14 — 23. Der
auf diesem Weg befindliche Mensch weiß (v. 14), daß das
Gesetz geistlich ist und er weiß (v. 18), daß das Gute
nicht in ihm, nämlich nicht in seinem Fleische wohnt.
Weiß er das? Wie kann er dann noch ein solcher Heiliger
sein wollen? Paulus will in der Tat sagen, daß man das
unmöglich sein wollen kann, sofern man weiß, was das
Gesetz — auch das von der Sünde mißbrauchte Gesetz,
weil es Gottes Gesetz und also die Offenbarung der
Wahrheit ist und bleibt — solchen, die solche Heilige sein
wollen, zu sagen hat. Es offenbart ihnen nämlich schlicht
ihren Tod, sofern es ihnen nichts anderes zu zeigen hat
als dies: daß sie als solche, die das sein wollen, gewisser¬
maßen mitten entzwei gerissen werden. Mit dem Gesetz
Gottes ist nicht zu scherzen!
1. Wer sich, von der Sünde verführt, herausnimmt, das
Gesetz selber erfüllen und sich damit der Gnade Gottes
selber und von sich aus versichern zu wollen, dem hat
102
es, eben weil es geistlich ist, weil es zweifellos den unbe¬
dingten Gehorsam des ganzen Menschen fordert, nichts
zu sagen als dies (v. 14), daß er fleischlich ist, daß er als
Mensch vor Gott nicht bestehen, seinen Plan, ihm gerecht
zu werden und sich selbst zu rechtfertigen, nicht aus¬
führen kann, weil er — dieser sein Plan verrät es deut¬
licher als alles Andere — in einem nicht rückgängig zu
machenden Handel an die Sünde verkauft ist. Er wird
(v. 15) in dem, was er auf der Linie jenes Planes tat¬
sächlich fertig bringt, das, was er damit will, nicht wieder¬
erkennen. Das Gesetz Gottes wird ihn vielmehr dessen
überführen, daß er tut, was er nicht will, was er selbst
nur verabscheuen kann. Aber wer ist er nun: der Mann,
der etwas will? Oder der Mann, der gerade das tut, was
er nicht will? Oder (v. 16) der Mann, der mit seinem
Abscheu, vor dem, was er tut, nun doch wieder dem Ge¬
setze Gottes Recht zu geben scheint? Er hat wohl Grund,
das zu tun, aber was folgt daraus? Dies (v. 17), daß ge¬
rade sein von ihm selbst mißbilligtes Tun und Vollbringen
gar nicht das seinige, sondern das der in ihm hausenden
Sünde ist! In ihm! Wird er sich der Solidarität mit diesem
Gast in seinem Hause ganz entschlagen, wird er sich etwa
mit seinem Protest gegen dessen Werk rechtfertigen kön¬
nen? Sein Protest käme offenbar als Rechtfertigung auch
dann zu spät, wenn er sich jener Solidarität entschlagen,
wenn er leugnen könnte, daß die Sünde seine Sünde ist.
Mag er das versuchen: sicher ist dies, daß er sich mit
seinem Werk rechtfertigen und heiligen wollte und daß
er eben dieses sein Werk nun selbst als Werk der Sünde
verurteilen muß.
2. Und wer sich, von der Sünde verführt, herausnimmt,
das Gesetz Gottes selber erfüllen zu wollen, dem hat es
— indem es sich, seinem eigenen törichten Verlangen ent¬
sprechend, ganz und gar an ihn hält — nichts Anderes
zu sagen, als dies (v. 18), daß das Gute , dessen er zum
103
Tun des Guten bedürfte, nicht in ihm wohnt: nicht in
ihm, der Fleisch, der in seinem Innersten und Tiefsten
Gottes Feind und Gegenstand des Zornes Gottes ist. Der
ylrcwesenheit jenes ersten entspricht die ^Wesenheit die¬
ses zweiten Gastes. Denn damit, daß diese Beiden unter
einem Dach Platz hätten, kann nicht gerechnet werden.
Man bemerke, daß Paulus unserem wunderlichen Heili¬
gen das Wollen des Rechten nicht abspricht: ein ehrlich
und eifrig Wollender, Suchender, Strebender mag er im¬
merhin sein. Aber nicht von einem bloßen Wollen, son¬
dern von einem rechtfertigenden und heiligenden Voll¬
bringen des Menschen war doch in seinem ursprünglichen
Plan die Rede. So kann nun aus dem Wollen des Rech¬
ten so wenig eine Ausrede gemacht werden wie vorher
aus dem Nichtwollen des Bösen, wenn es zu dem ent¬
sprechenden Vollbringen nicht kommt. Und es kommt
(v. 19) nicht dazu. Was das Gesetz bei ihm und was er
selbst im Lichte des Gesetzes, das er erfüllen wollte, bei
sich findet, ist trotz des guten Willens das Tun des Bösen.
Es kann alle Berufung auf seinen guten Willen (v. 20)
nur bestätigen, daß die Sünde in ihm wohnt und ihm
zum Trotz das Böse tut. Nochmals: Wer ist er nun? Der
Wollende? Der das Gewollte leider nicht Vollbringende?
Der mit seinem Wollen seinem Vollbringen oder der mit
seinem Vollbringen seinem Wollen Widersprechende?
Daß er bloß der Hausherr der Sünde ist, wird ihn jeden¬
falls nicht retten: sie, die Sünde ist es jedenfalls, die da
geschieht, wo es planmäßig zu seiner Rechtfertigung und
Heiligung durch sein eigenes Tun kommen sollte.
Die Verse 21 — 23 fassen zusammen: Der wunderliche
Heilige, der, von der Sünde verführt, die Gnade Gottes sich
nehmen will, ist tatsächlich ein mitten entzwei gerissener
Mensch. Indem er das Gesetz Gottes selber erfüllen will,
ist das Böse da (v. 21). Indem er sich am Gesetz Gottes
erfreut, (v. 22) — würde er es doch recht tun! würde er
104
sich doch nicht durch die Sünde verführen lassen zum
Mißbrauch des Gesetzes! — , kann er bei sich selbst nichts
entdedten und wahrnehmen als den gänzlich ungleichen
und hoffnungslosen Streit (v. 23) zwischen dem Gesetz,
dem gerecht zu werden er sich vorgenommen, und dem
Gesetz in seinen Gliedern, d. h. der inneren Notwendig¬
keit seiner ganzen menschlichen Existenz als solcher, wel¬
che jenem Unternehmen, wie gründlich und ernstlich er
es auch betreibe, entgegensteht, welche ihn als Gesetz der
Sünde gefangen hält, er drehe und wende sich, wie er
wolle. Diesem anderen Gesetz und immer wieder ihm
wird er faktisch gerecht werden. Als der, der er ist und
nicht als der, der er sein und zu dem er sich machen
möchte, wird er am Ende aller seiner Anstrengungen
und Versuche immer wieder dastehen. Aber ist er nicht
gleichzeitig doch auch der, der etwas Anderes sein und
mittels dieser Anstrengungen und Versuche etwas Ande¬
res aus sich machten möchte? Welcher von beiden ist er
nun? Sicher ist, daß er als keiner von diesen Beiden der
Mann ist, dem das gelingt, was er sich allzu kühn vor¬
genommen hat! Und sicher ist er in der Aufgespaltenheit
dieser Doppelexistenz zwischen Wollen und Vollbringen
ein dem Tode verfallener Mann! Denn was heißt Ster¬
ben, wenn es nicht das Leben in dieser Aufspaltung ist?
Diesem Leben, das ein Sterben bei lebendigem Leibe ist,
gilt der Seufzer in Vers 24: „Ich elender Mensch! Wer
wird mich herausreißen aus diesem Leibe des Todes?“
Herausreißen aus dieser Zerrissenheit? Herausreißen aus
dieser Existenz, die in einer dauernden Auflösung meiner
selbst besteht?
Der Mensch wird sich selbst aus dieser Existenz unter
dem Gesetz der Sünde und des Todes nicht herausreißen.
Man bemerke, wie die beiden Abschnitte in Vers 7 — 12
und Vers 13 — 23, aber auch der Rückblick auf das Ganze
in Vers 24 — 25 von dem Worte „Ich“ beherrscht sind. Es
105
gibt keinen mit diesem Wort beginnenden Satz, in wel¬
chem die Befreiung des Menschen darzustellen wäre.
Auch und gerade das christliche „Ich“ muß und wird sich,
wie der merkwürdige Vers 25 zeigt, indem es sich dort
zu Jesus Christus als dem Befreier bekennt, zu seiner
eigenen Gefangenschaft, zu jener Zerrissenheit in aller
Form bekennen. Gerade wer sich zu Christus bekennt,
wird das wissen: Ich werde die Sünde, ich werde die Ver¬
fälschung des Gesetzes durch die Sünde, ich werde die
Existenz des wunderlichen Heiligen, der sein möchte wie
Gott und der eben daran bei lebendigem Leibe sterben
muß, von mir aus nie hinter mir lassen. Ich bin und lebe
im Fleische und bin und bleibe in diesem Sein und Leben
(v. 11) dem Gesetz der Sünde und des Todes unterwor¬
fen. Es gibt keine Linie, die mit Ich anfängt, um dann
irgendwo mit Erlösung und Freiheit zu endigen. Es gibt
aber, wie in Vers 1 — 6 gezeigt wurde, die andere Linie,
die mit Jesus anfängt, auf der eben der Mensch, der
jenem Gesetz verpflichtet ist, getötet, nicht in seinem eige¬
nen, aber im Tode Jesu Christi getötet wurde. Getötet
und also befreit von sich selbst, um jetzt dem Anderen
zu leben, der von den Toten auferstanden ist (v. 4), um
als dieser Befreite, dem Ich dieses Anderen, dem Sohn
Gottes schlechterdings untergeordnet, im neuen Wesen des
Geistes (v. 6), dem Gesetz Gottes (v. 25) zu dienen.
106
8, 1—39
Das Evangelium als die Aufrichtung
des Gesetzes Gottes
Verurteilt ist der Mensch, der als Adams Kind tut, was
Adam tut. Verurteilt ist alles Fleisch als die Menschen¬
natur, in der die Sünde wohnt. Verurteilt ist vor allem
das fromme, das moralische Fleisch: der Mensch, der das
Gesetz Gottes damit beugt und bricht, daß er ihm ent¬
nimmt, er habe sich selbst vor Gott zu rechtfertigen
und für Gott zu heiligen. Gerade ihn verurteilt das von
ihm gebeugte und gebrochene Gesetz Gottes, das ja auch
als solches nicht aufhört, wahr und wirksam zu sein.
Indem er die Gnade verstößt, an die sich zu halten ihm
durch das Gesetz geboten wird, um sich an Stelle dessen
durch Erfüllung des gebietenden Buchstabens (Kap. 7, 6)
seine Seligkeit selbst verschaffen zu wollen, ist er schon
verurteilt, kann er nur noch lebend sterben.
Für die aber, die „in Christus Jesus sind“, gibt es keine
Verurteilung, heißt es nun in Kap. 8, 1, und das ganze
8. Kapitel wird uns darüber belehren, daß jene Verurtei¬
lung des Menschen damit hinfällig ist, daß Gott im Evan¬
gelium jenem Beugen und Brechen seines Gesetzes durch
den Menschen damit begegnet, daß er es in Jesus Chri¬
stus als sein Gesetz neu und erst recht damit auf richtet,
daß er ihm durch Jesus Christus den Respekt und die
Nachachtung verschafft, die ihm gebühren, daß er also
seine verstoßene Gnade triumphieren läßt bei Jedem und
für Jeden, der an Jesus Christus glaubt und also diese
an Jesus Christus Glaubenden nicht nur frei macht von
107
dem Gesetz der Sünde und des Todes, sondern — so
werden wir nachher hören — positiv frei für ein Leben
im Gehorsam (v. 12 — 16), in der Hoffnung (v. 17 — 27),
in der Unschuld (v. 28 — 39), mit einem Wort: für das
Leben im Geiste , in der Unterordnung unter seinen
Gtttf deswillen. Das ist die vierte Erklärung des Satzes in
Kapitel 1,16 von Gottes allmächtigem Rettungswerk für
jeden Glauben oder die vierte Erklärung des Satzes in
Kap. 1, 17: daß der durch seinen Glauben Gerechte kraft
dieses seines Glaubens leben wird. Diese vierte und letzte
Erklärung sagt eben dies: Gott richtet mit der Offen¬
barung des Evangeliums von Jesus Christus sein Gesetz
auf, indem er den an Jesus Christus Glaubenden seinen
Geist und mit dem Geist jetzt und hier schon das gerechte,
unschuldige und selige Leben gibt, das als solches die
Verheißung hat, ewiges Leben zu sein. Darin bewahr¬
heitet sich die Gerechtsprechung des Glaubenden: dar¬
in vollendet sich die Versöhnung, die Heiligung, die Be¬
freiung des Menschen: in der Aufrichtung des Gesetzes
Gottes, in der Herrschaft seines Geistes.
Das Grundsätzliche darüber hören wir in Vers 1 — 11.
Wir lesen in Vers 1 — 2 zunächst in Bestätigung von Kap.
7, 1 — 6, daß die Verurteilung des Menschen durch das
Gesetz der Sünde und des Todes die, die in Christus Jesus
sind, darum nicht trifft, weil sie als solche von diesem
Gesetz entbunden, befreit sind. Sie haben sich nicht selbst
davon befreit. Alle eigenen Befreiungsversuche würden
nur darauf hinauslaufen, was in Kap. 7, 3 schroff genug
als Ehebruch bezeichnet wurde. In der Gefangenschaft
jenes Gesetzes gibt es zuletzt immer nur den hoffnungs¬
losen Seufzer in Kap. 7, 24: „Ich elender Mensch!“ Was
mit „Ich“ anfängt, führt nicht zur Befreiung und wird
niemals wirkliches, ewiges Leben sein. Wohl aber hat
„das Gesetz des Geistes des Lebens“ die frei gemacht, die
in Christus Jesus sind. Offenbar ist das Eines und Das-
108
selbe: „In Christus Jesus sein“ und: unter diesem ganz
anderen Gesetz stehen. Und offenbar bezeichnet beides
miteinander jenen ganz neuen Aspekt, ja jene ganz neue
Wirklichkeit des menschlichen Lebens, auf die schon in
Kap. 7, 1 — 6 hingewiesen wurde und von der nun aus¬
führlich die Rede sein soll. Sie ist damit gegeben, daß
der Mensch nicht mehr mit „Ich“ anfangen muß, sondern
mit Jesus Christus anfangen darf: daraufhin, daß Jesus
Christus mit ihm einen neuen Anfang gemacht hat. Daß
er ein solcher ist, dem das widerfahren ist, das heißt: „in
Christus Jesus sein“. Und es besteht diese Wirklichkeit
darin, daß eben da, wo ein Mensch mit Jesus Christus
statt mit „Ich“ anfangen darf — daraufhin, daß Jesus
Christus mit ihm einen neuen Anfang gemacht hat — das
Gesetz Gottes sich zuerst selber befreit von jenem Mi߬
brauch durch die Sünde, zuerst selber hindurchbricht
durch jene verkehrte Gestalt eines Gesetzes der Sünde
und des Todes und sich selbst darstellt in seiner wahren
Gestalt: als den Geist, der diesen Menschen dazu treibt,
Gottes Gnade zu suchen, um eben damit nun auch diesen
Menschen zu befreien von der verkehrten Gestalt des Ge¬
setzes und von der Not, die es ihm in dieser verkehrten
Gestalt bereiten muß, um eben damit nun auch diesen
Menschen hindurchbrechen zu lassen auf den Weg des Le¬
bens, der Hoffnung und der Unschuld.
Wir lesen in Vers 3, daß es zu dieser befreienden Auf¬
richtung des Gesetzes ein für allemal gekommen ist durch
das, was Gott in Jesus Christus geschehen ließ. Was dem
Gesetz in jener verkehrten Gestalt, in seiner Entkräftung
durch die in unserem Fleisch wohnende Sünde unmöglich
war, das hat Gott damit nicht nur möglich, sondern
wirklich gemacht, daß er seinen Sohn sandte: wirklich
seinen ewigen Sohn wirklich zu uns sandte, ihn also
wirklich uns , unserem von der Sünde bewohnten und
beherrschten Fleisch nicht nur ähnlich, sondern gleich
109
machte: „um der Sünde willen“, d. h. um der Sünde an
diesem ihrem Wohn- und Herrschaftsorte zu begegnen
und um sie daselbst zu verurteilen, zu richten, zu erledi¬
gen, ihre Herrschaft zu brechen, ihren Betrug aufzudek-
ken und ihre Konsequenzen aufzuheben. Das ist es, was
Jesus Christus getan hat, indem er, der Sündlose, sich an
unserer Stelle als Sünder vor Gott demütigte, die uns zu¬
kommende Todesstrafe erlitt und eben darin Gott den
Gehorsam darbrachte, den wir ihm verweigern, eben da¬
mit an unserer Stelle die Gnade Gottes annahm, deren
Annahme wir immer wieder verweigern möchten. In ihm
(v. 4) sind wir als die Sünder, die wir waren und sind,
getötet und eben damit auch getötet dem Gesetz der Sün¬
de und des Todes, dem wir als Sünder unterworfen waren
und noch unterworfen sind. Und eben mit ihm leben wir
nun ein anderes, neues Leben. In ihm steht das Gesetz
Gottes vor uns und mächtig über uns in seiner reinen,
wahren Gestalt: ein einziges unwiderstehliches Angebot
und Gebot der Gnade Gottes für uns, die in ihm Getöte¬
ten und mit ihm Lebenden. Mit ihm anfangen — darauf¬
hin, daß er mit uns angefangen hat — , „in Christus Jesus
sein heißt schlicht: durch das in ihm auf gerichtete und
mächtig gewordene reine und wahre Gesetz Gottes ge¬
bunden sein, das Angebot der Gnade Gottes ergreifen
müssen und dürfen , dem Gebot der in ihm erschienenen
Gnade Gottes gehorsam sein: als die Getöteten, die mit
ihm lebendig gemacht sind. Und eben das heißt: „nach
dem Geist und nicht nach dem Fleisch wandeln“. In
denen, die nach dem Geist wandeln, kommt es also zur
Erfüllung dessen, was das Gesetz fordert. Heißt doch
„nach dem Geist wandeln“ nichts Anderes als: der in
Jesus Christus zwingend mächtig erschienenen Gnade Got¬
tes gehorsam werden. Man muß bei allem Folgenden und
in diesem ganzen Kapitel wohl beachten: „Geist“ heißt
bei Paulus nichts Anderes als die Gültigkeit und Macht
110
des durch die Sendung des Sohnes Gottes aufgerichteten
Gesetzes der Gnade bei denen, die an ihn glauben dar¬
aufhin, daß er für sie gestorben und auferstanden ist.
Noch ist ihr Fleisch da, ihre Menschennatur, in welcher
als solcher die Sünde wohnt und nicht das Gute. Noch
sind und haben sie auch ein „Ich“, jenes Ich, von dem aus
es keinen Weg zur Befreiung und zum Leben gibt. Noch
existiert auch in ihnen der wunderliche Heilige, der sich
von der Sünde betrügen läßt mittels des Gesetzes, und dem
dann das Sündengesetz nur immer wieder zum Todes¬
gesetz werden kann. Noch wissen sie also nur zu gut, was
es ist um jenes Leben in der Zerrissenheit. Aber sie
„ wandeln “ nicht nach dem Fleisch, sondern nach dem
Geist (v. 4). Sie „sind“ nicht im Fleisch, sondern im Geiste
(v. 5 u. 9). Sie haben nicht die Gesinnung, die Ausrich¬
tung, die Tendenz des Fleisches, sondern die des Geistes.
Das bedeutet aber: sie stehen nicht etwa noch einmal
zerrissen zwischen Geist und Fleisch, sondern sie stehen,
ihrerseits schon dem Geiste gehörig, in der Entscheidung
für den Geist und gegen das Fleisdi. Sie haben dem Geist,
als der Macht des Gesetzes der Gnade, ihr Gesicht, dem
Fleisch, als ihrer sündenbeherrschten und entsprechend
zerrissenen Existenz, ihren Rücken zugekehrt. Man kann
vom Fleisch nur das sagen, daß es noch da ist, eine als
solche noch nicht beseitigte Möglichkeit, eine ständige Ein¬
ladung und Gefahr, nach ihm zu wandeln, in ihm zu sein,
zu tun, was seiner Gesinnung, Ausrichtung und Ten¬
denz entspricht, was denn nach dem 7. Kapitel bedeuten
würde, die Gnade aufs neue zu hassen und von sich zu
stoßen, aufs neue sich selber rechtfertigen und heiligen
zu wollen. Das Fleisdi will immer das. Es wird dem Ge¬
setz Gottes nie untertan sein, es kann das gar nicht, es
wäre sonst nicht das Fleisch, unsere durch die Sünde
Adams bestimmte und charakterisierte Menschennatur
(v. 7). Die Erfüllung seiner Absichten könnte nur mit
111
dem Tode endigen, und was wir in Erfüllung seiner Ab¬
sichten sind und tun, das wird in der Tat immer dem
Tode verfallen sein (v. 6). Denn „die im Fleische Seien¬
den können Gott nicht gefallen“ (v. 8): „Ich“ — als der
ich jetzt und hier bin und mich selbst kenne — kann
Gott nicht gefallen! Aber eben „Ich“ — als dieser „Ich“ —
habe keine aktuelle Bedeutung mehr, indem ich „in Chri¬
sto Jesu bin“, indem das durch ihn aufgerichtete und
kräftig gemachte Gesetz Gottes über mich Macht hat. Ich
würde diesem Gesetz nicht unterstehen, ich würde Jesus
Christus nicht angehören, wenn ich nicht seinen Geist
hätte, wenn sein Geist, der der Geist Gottes selber ist,
nicht in mir wohnte (v. 9), wenn Christus selbst nicht in
mir wäre (v. 10) und das Regiment über mich, die Ver¬
antwortung für mich an meiner Stelle übernommen hätte.
Die Frage nach dem, was für mich gültig und über
mich mächtig ist, eben damit aber auch die Frage: wer
ich bin, ist damit entschieden zu Ungunsten des hinter mir
existierenden und sein Wesen treibenden Fleisches. Sie ist
nicht durch mich entschieden, wohl aber dadurch, daß in
Jesus Christus Gottes Gesetz über und für mich aufge¬
richtet ist und sich nicht mehr umstoßen läßt. Indem
dieses Gesetz mich an Gottes Gnade bindet, bin ich dem
Fleisch und seinem Willen, wie sehr er mir nahe liegen
mag, entfremdet, und ich bin dem Tod, dem es notwendig
entgegentreibt, entrückt, dem Frieden und damit dem Le¬
ben zugewendet (v. 6). Ich? Also nun doch ich? Ja, hören
wir in Vers 10 und 11: das ist das letzte und größte
Wunder, dem wir kraft der Aufrichtung des Gesetzes
Gottes, dem wir in der Entscheidung für den Geist und
gegen das Fleisch, wie sie über und für uns gefallen ist,
entgegengehen: 1. daß der „Leib“, das „Ich“, diese
menschliche Persönlichkeit, die ich bin, allerdings sterben
muß um der Sünde willen, wie es mir im Tode Jesu
Christi auf Golgatha schon widerfahren ist, lange vor der
112
Todesstunde, der ich jetzt noch entgegengehe — 2. daß
der Geist Gottes und Jesu Christi, der mich diesem Leibe
entrissen hat (Kap. 7, 24) und hineingerissen in die
Gerechtigkeit eines solchen, der nur nodi von Gnade le¬
ben will, allein mein Leben ist — und 3. daß nun gerade
dieser Geist, der Geist des Gottes, der Jesus von den Toten
erweckte, indem er mir geschenkt ist, indem er in mir
wohnt, auch meinen „Leib“, auch mich als „Ich“, auch
diese menschliche Persönlichkeit: das ganze vom Tode ge¬
zeichnete und dem Tode verfallene Wesen, das ich jetzt
bin und habe, dem Tode nicht überlassen, sondern — von
seiner Fleischesnatur gereinigt, als das Ich, als das We¬
sen und die Person des von Ewigkeit her von Gott ge¬
liebten Menschen — mit Jesus lebendig, mich dem We¬
sen des auferstandenen und erhöhten Jesus gleichförmig
machen wird. Gott nimmt uns nichts, was er uns nicht
in erlöster und das heißt in unendlich viel besserer Ge¬
stalt wiedergeben würde. Er nimmt uns auch das „Ich“
nicht, ohne es uns in Jesus Christus wiederzugeben. Er
muß es uns aber nehmen, um es uns erlöst wiederzu¬
geben. Wir müssen und dürfen es uns darum jetzt und
hier gefallen lassen, im Geiste Gottes und Jesu Christi
zu leben, unseren Leib aber, uns selbst dem Tode ent¬
gegeneilen zu sehen, im voraus dadurch getröstet, daß
dessen Bitterkeit am Kreuz von Golgatha schon erlitten
und überwunden worden ist. Und über allen Gräbern
steht die Verheißung, daß durch denselben Geist wir
selbst, unsere Leiber, ewig leben werden.
Es ist sicher sinnvoll und berechtigt, jedenfalls in Vers
12 — 16, die erste und kürzeste der nun folgenden Einzel¬
darlegungen des 8. Kapitels, als Beschreibung des Gehor¬
sams zu verstehen, der für das Leben derer, die „in Christo
Jesu sind“ bezeichnend ist. Was sollte der ihnen zuteil ge¬
wordenen Aufrichtung des Gesetzes Gottes ursprünglicher
entsprechen als eben ihr Gehorsam? Wozu sind sie mit
113
Gott versöhnt (5. Kap.), geheiligt (6. Kap.) und vom mi߬
brauchten Gesetz befreit (7. Kap.), als eben dazu, daß sie
gehorsam seien? In weiterem Sinn verstanden könnte man
sehr wohl das ganze 8. Kapitel als eine einzige Beschrei¬
bung eben des Gehorsams derer verstehen, deren Gesetz
der Geist Gottes ist. Aber wenn nun in Vers 12 — 16 sicher
im besonderen von dieser Sache die Rede ist, werden wir
gleich im Blick auf Vers 12 bemerken müssen: Es handelt
sich jetzt in keinem Wort mehr um einen solchen Ge¬
horsam, den zu leisten die, die in Jesus Christus sind,
schuldig wären, den sie leisten sollten und müßten. Wohl
war in Kap. 6, 16. 17. 22; 7, 6 von ihrem Leben als von
einem „Dienst“ die Rede gewesen, schon dort freilich in
wohl zu beachtender Beziehung dieses Begriffs zu dem
der „Freiheit“ und des „Geistes“. Der Begriff des Dien¬
stes wird uns im Römerbrief auch noch an späteren Stel¬
len (z. B. in Kap. 12, 11 und 14, 18) begegnen, wie er denn
überhaupt bei Paulus in Ehren steht, so gewiß er sich ja
selbst seinen Lesern gegenüber dauernd als Diener,
Knecht, Sklave Jesu Christi bezeichnet und eingeführt
hat. Aber wie das christliche Dienen zu verstehen und
nicht zu verstehen ist, darüber gibt uns unsere Stelle
unzweideutigen Bescheid. Ein Sklavengeist, ein Lohn¬
dienergeist, ein Debitorengeist, in welchem wir uns wie¬
der fürchten müßten — wie wir uns vor Gott zu fürch¬
ten hatten, da wir uns in Beugung und Brechung seines
Gebotes selbst rechtfertigen wollten — ist der Geist des
Gehorsams gegen Gottes Gesetz auf keinen Fall (v. 15).
Wir sind keine Schuldner Gottes, die ihm gegenüber in
Angst und Verlegenheit ihre Zinsen aufzubringen oder
wohl gar das geliehene Kapital abzutragen hätten in der
Absicht, ihm schließlich triumphierend gegenüber zu ste¬
hen. Eben diese Haltung war unser Leben nach dem
Fleische; eben diese Absicht war der verbotene, der un¬
ausführbare, der verderbliche Plan der in unserm Fleisch
114
wohnenden und regierenden Sünde, und eben dem
Fleisch und nicht Gott (oder nur dem Gottesbild des
Fleisches!) wären wir in dieser Haltung in Wahrheit
schuldig und verpflichtet. Eben von dieser Schuld und
Verpflichtung sind (v. 12) die, die in Christus Jesus sind,
frei: nicht um nun Gott gegenüber in dasselbe betrübte
und unfruchtbare Verhältnis zu treten — gerade Gott
gegenüber ist dieses Verhältnis schlechterdings unmöglich
— sondern um in der Kraft dessen, was in Jesus Christus
für sie geschehen ist, in der Kraft des Geistes die Unter¬
nehmungen, jene „Praktiken“ (v. 13), zu denen der „Leib“,
zu dem „Ich“ freilich immer wieder Lust hätte, immer
wieder zu töten, zu negieren und fallen zu lassen, um
in dem wirklichen Gehorsam dem Gesetz Gottes gegenüber
gerade dieses Verhältnis immer wieder zu verleugnen. Die
von Gottes Geist getrieben, bewegt, gezogen werden (v. 14)
— und das ist das Wesen derer, die in Christo Jesu sind — ,
die dienen ihm nicht, weil sie sich als seine Schuldner dazu
gezwungen sehen und erst recht nicht darum, weil sie das
Schuldnerideal haben, sich ihm gegenüber frei zu machen.
Sie sind vielmehr — und das ist ihr Leben in Jesus Chri¬
stus, dem Sohne Gottes — Gottes Söhne, die seinen Wil¬
len darum erfüllen, weil Gott ihr Vater ist, weil sie seine
Söhne sind, weil sie kraft des Geistes Gottes, der ja als
der Geist Jesu Christi der Geist der Sohnschaft ist, von
sich aus, in ihrer eigensten Freiheit, gar keine andere Wahl
und Möglichkeit haben als die, seinen Willen zu voll¬
ziehen (v. 15). Sie vollziehen ihn aber damit, daß sie zu
ihm schreien — aus und in der Tiefe der Not ihrer
menschlichen Existenz, aber nun nicht: „Ich elender
Mensch!“ sondern: „Abba, Vater!“ — als verlorene Kin¬
der, aber als solche, die in ihrer Verlorenheit von Gott ge¬
funden und gehalten, die eben in ihrer Verlorenheit an¬
geleitet sind, ihn Vater zu nennen, sich an ihn zu halten
als an den „Vater der Bermherzigkeit“ und „Gott alles
115
Trostes“ (2. Kor. 1, 3) — wie Jesus ja die Seinen eben
dazu tatsächlich angeleitet hat! — , die eben in ihrer Ver¬
lorenheit das eine gute Werk solchen Schreiens und damit
die eine durch Gottes Gesetz geforderte Tat des Gehor¬
sams nicht unterlassen können. Könnten sie es wohl unter¬
lassen, der Gnade gehorsam zu sein durch solches Schreien,
könnte ihr Geist müde werden, könnten sie Neigung
haben, zurückzufallen in jene „Praktiken“ eines Gottes¬
verhältnisses, das ohne Furcht nie sein kann, das an¬
derswo als im Tode nie endigen, das den Namen Gottes
nur lästern könnte? Wie sollte es anders möglich sein, daß
das jederzeit geschehen könnte? Aber eben unter dieser
ständigen Drohung und Gefahr, der sie selbst nie ge¬
wachsen wären, wird der Geist Gottes ihrem schwachen,
ihrem sich immer ohnmächtig wissenden Geist zur Seite
stehen mit seinem Zeugnis. Sie werden dann von dem
aufgerichteten Gesetz Gottes, vom Kreuz von Golgatha
her, wo über sie verfügt worden ist, immer wieder hören:
wir sind Söhne Gottes (v. 16)1 Wir, die zum eigenmächti¬
gen Tun alles Guten wirklich Ohnmächtigen! Wir, deren
Fleisch von der Sünde bewohnt und beherrscht ist! Wir,
die selbstsüchtigen, aufrührerischen und unnützen Knechte:
wir sind Gottes Kinder! Es bedarf schon des von dorther
kommenden Zeugnisses, des Zeugnisses des Heiligen Gei¬
stes, damit auch unser unheiliger Geist, von jenem bewegt
und getrieben, uns dieses Zeugnis gebe. Es muß uns
schon gesagt werden, damit wir es uns selbst sagen kön¬
nen: Wir sind Gottes Kinder! Es kann und wird aber
nicht fehlen, daß uns von dorther eben das und immer
wieder das gesagt werden wird, und daß wir es daraufhin
in kühner Freiheit auch zu uns selber sagen dürfen, etwas
anderes zu uns selber zu sagen gar nicht mehr die Wahl
haben: Wir sind Gottes Kinder! Und es kann und wird
dann wiederum nicht fehlen, daß wir neu eintreten dürfen
und müssen in jenes gute Werk des Gehorsams, welches
116
darin besteht, zu schreien: Abba! Vater! Man wird schon
beachten müssen, daß von einem anderen Gehorsamswerk
der Kinder Gottes gerade auf diesem Höhepunkt des Rö¬
merbriefs nicht die Rede ist. Dazu sind wir mit Gott ver¬
söhnt, dazu für Gott geheiligt, dazu frei gemadit vom Ge¬
setz der Sünde und des Todes, damit dieses Werk ge¬
schehe. Damit, daß wir dieses Werk tun, folgen wir dem
Treiben und Ziehen des Geistes und beweisen wir, daß
wir nicht des Fleisches Schuldner sind. Es kann und soll
offenbar ein anderes Gehorsamswerk zu diesem einen
nicht hinzukommen. Es sollen offenbar alle Gehorsams¬
werke in diesem einen beschlossen sein, aus ihm und nur
aus ihm hervorgehen, unter allen Umständen in ihm ihre
Wurzel und Urgestalt, ihre erste und letzte Bedingung
haben. Es ist denen, die in Christus Jesus sind, offenbar
nichts erlaubt, was mit diesem Schreien der Kinder Gottes
zu ihrem Vater nicht in Einklang wäre. Es ist ihnen offen¬
bar alles das geboten, was ihnen als diesen zu ihrem
Vater schreienden Kindern Gottes nötig ist. Es kann und
wird beides, das Verbotene und das Gebotene sehr Vieles
umfassen — die letzten Kapitel unseres Briefes werden
uns davon eine gewisse Vorstellung geben — , es wird
aber die Erfüllung des Gesetzes Gottes (v. 4), weil es das
Gesetz seiner Gnade ist, zuerst und zuletzt immer in dem
bestehen, was uns in diesen Versen als die Frucht des
Geistes bezeichnet wird. So wie in Vers 15 besdirieben,
antwortet der Christ auf das Zeugnis des Heiligen Geistes
oder er tut es gar nicht — was dann wohl bedeuten
würde, daß er ein Christ noch nicht oder nicht mehr wäre.
Der Gesichtspunkt des Gehorsams als der bezeichnen¬
den Eigenschaft des Lebens unter Gottes Gesetz wird nun
auch in dem größeren mittleren Abschnitt in Vers 17 — 27*)
*) Vgl. dazu KD IV, 2, S. 367 f.
117
nicht preisgegeben und auch sachlich nicht verändert. Wir
brauchen dazu bloß auf die Verse 23 und 26 zu blicken.
Aber ein anderer Gesichtspunkt wird jetzt beherrschend:
der nämlich, daß das Leben unter Gottes Gesetz als Leben
in jenem Gehorsam das Leben in der Hoffnung ist. Will
sagen: in der gewissen, kräftigen und also schon die Ge¬
genwart erfüllenden und beherrschenden Erwartung der
künftigen Offenbarung des durch die Macht des Geistes
schon geschaffenen und begründeten Lebens derer, die in
Christus Jesus sind. Daß dieses Leben einer Vollendung
in solcher Offenbarung entgegengeht, der Lebendig-
machung unseres jetzt und hier dem Tode verfallenen
Leibes, der Wiederherstellung dessen, was als unser „Ich“
jetzt nur vergehen kann, damit der Geist lebe — das hör¬
ten wir schon in Vers 10 — 11. Eben dieser Ausblick wird
nun in Vers 17 neu aufgenommen. Und eben darum be¬
kommen wir es nun mit dem eigentlichen Gegenstück zu
der in Kap. 7, 7 — 23 so eindrucksvoll gegebenen Schilde¬
rung des dem Gesetz der Sünde und des Todes unter¬
worfenen Menschen zu tun. Der von diesem Gesetz be¬
freite, auch der durch den Geist dem Gesetz Gottes unter¬
tan gemachte Mensch lebt — in der siegreichen Entschei¬
dung für den Geist und gegen das Fleisch (v. 1 — 11), im
Gehorsam der Kinder Gottes (v. 12 — 16) — aber noch
lebt er jetzt und hier, wo das Fleisch jedenfalls immer
noch hinter ihm steht, wo die im Fleische wohnende und
herrschende Sünde ihm immer noch eine Einladung, eine
Versuchung, eine Gefahr bedeutet. Daß wir jetzt und hier
leben, heißt: wir befinden uns da, wo das Kreuz Christi
neben dem Licht , das von ihm ausgeht als von dem Kreuz
dessen, der auch auferstanden ist, auch immer noch den
Schatten des Todes verbreitet über das ganze menschliche
Wesen, das dort, am Kreuz des Sohnes Gottes, gerichtet
und getötet worden ist und das nun nachträglich nur
noch dies erfahren kann und eben dies tatsächlich er-
118
fahren muß, daß es dort gerichtet und getötet, daß sein
weiterer Bestand nur noch eine Zeitfrage, daß es vergäng¬
lich ist und in seinem Vergehen jenen Tod zu bestätigen
hat und unfehlbar bestätigen wird. In diesem Todes¬
schatten, unter seiner Verheißung, aber auch unter seiner
unerbittlichen Notwendigkeit leben auch die, die in Chri¬
stus Jesus sind, sofern sie jetzt und hier leben. So wahr
sie Kinder Gottes sind (v. 17), so wahr sind sie auch
Gottes Erben, d. h. Anwärter der Teilnahme an dem, was
Gott gehört und eigentümlich ist: der Teilnahme an sei¬
ner Lebensherrlichkeit, die in Christus schon aufgenom¬
men ist und in die mit ihm aufgenommen zu werden sie
so bestimmt erwarten, wie sie eben in ihm, welcher für
sie gestorben, und in welchem sie schon mitgestorben
sind, allein ihre Zukunft haben. Ihre dieser Zukunft mit
ihm vorangehende Gegenwart kann aber offenbar keine
andere sein, als eine solche, die bestimmt ist durch sein
Leiden. „Noch leben“ nach seinem Tode heißt einerseits ge¬
wiß: den eigenen Tod nicht mehr fürchten müssen, weil er
in ihm schon geschehen, weil seine ganze Bitterkeit von
ihm schon durchkostet und erlitten, von uns also nicht
mehr durchzumachen ist. „Noch leben“ nach seinem Tode
heißt aber andererseits ebenso gewiß: noch in der An¬
fechtung stehen, die vor seinem Tode, die in Gethsemane
sein Teil war — nicht ohne ihn, sondern mit ihm, aber mit
ihm in der Anfechtung stehen, mit ihm dort stehen, wo
er als der erniedrigte Gottessohn gestanden hat. Man kann
schon der Stelle 5, 3 — 4, man muß aber vor allem
dem ganzen noch folgenden Inhalt dieses 8. Kapitels ent¬
nehmen, daß Paulus diesen Ort als einen ausgezeichneten
Ort, als einen Ort voller Verheißung angesehen hat, wo
uns nur vorläufig Schlimmes, nur ein sehr geringfügig
Schlimmes widerfahren kann. Man rühme sich dessen, an
diesem Ort stehen zu dürfen! hieß es schon dort. Wie sollte
es anders sein, da wir ja nicht allein, sondern eben mit
119
Christus an diesem Ort stehen: mit ihm, der von diesem
Ort aus der Herrlichkeit Gottes entgegenging? Eben dar¬
um erfolgt nun auch kein Wort der Klage darüber, daß
es mit unserem Leben nach dem Tode Jesu Christi so steht,
daß es nur noch im Schatten dieses seines Todes sich aus¬
breiten kann, daß es entscheidend darin besteht, daß wir
mit ihm zu leiden haben. Wie sollte es anders sein, da
wir unter dem Gesetz Gottes stehen dürfen? Eben das be¬
deutet nun aber (v. 18), daß zwischen dem, was wir an
diesem unserem jetzigen Ort zu leiden haben und der
künftig an uns zu offenbarenden Herrlichkeit ein solches
Verhältnis besteht, daß zur Klage unsererseits kein Raum
bleibt, daß von jenem Leiden als von einem harten Müs¬
sen in keinem Wort die Rede sein kann, sondern eben
nur von der Hoffnung , in der es in seiner ganzen Schärfe
und Herbheit von denen, die in Christus Jesus sind, tat¬
sächlich ertragen wird: daraufhin, daß es als der vom
Kreuz von Golgatha her auf sie fallende Schatten etwas
Anderes als der Vorbote der sie erwartenden Herrlichkeit
nicht sein kann. Man muß sich wohl merken, daß das mit
Idealismus und Optimismus nichts zu tun hat. Eben weil
Paulus das, was zu erleiden ist, als notwendige Auswir¬
kung des Todes Christi versteht (in welchem allem Idea¬
lismus und Optimismus wahrlich ein Ende gemacht ist!),
eben darum und nur darum sieht er die Waage zwischen
den Leiden dieser Zeit und der kommenden Herrlichkeit
so ungleich beladen. Er sieht dabei alles — aber eben
wirklich Alles — wie es ist und nicht, wie er es sich den¬
ken möchte. Und unter Allem steht für ihn die dem Tod
auf Golgatha folgende Auferstehung Jesu Christi an der
ersten nicht nur, sondern an der alles Übrige beherrschen¬
den Stelle, von der aus er die seinem Tod vorangehende
Anfechtung Jesu Christi und unsere eigene nur als einen
Auftakt verstehen kann, bei dem es kein Verweilen geben,
der nur anklingen kann, um in dem, was folgt, alsbald
120
zu verklingen. Daß Paulus auch alles Übrige in der Welt
sowohl wie bei den Christen sieht, wie es ist, wird im
Folgenden deutlich genug ersichtlich. Er sagt in Vers
19 — 22: daß die, die in Christus Jesus sind, nicht allein
sind in ihrer Erwartung der künftigen, alles verändern¬
den Herrlichkeit Gottes, sondern umgeben von der gan¬
zen Schöpfung, die als solche derselben Erneuerung ent¬
gegengeht. Er sagt aber wiederum in Vers 23: daß das
Seufzen nach Erlösung nicht nur eine Sache der unerlös-
ten Welt da draußen, sondern auch und zuerst die Sache
gerade der Christen ist. Der in Vers 19 — 22 viermal ge¬
brauchte Ausdruck „Kreatur“ bezeichnet nach dem neu-
testamentlichen Sprachgebrauch zuerst und vor allem den
Menschen in seiner Allgemeinheit, die Menschheit , die das
Evangelium noch nicht gehört hat, sondern erst hören soll.
In einem weiteren Sinn gehört dann aber dazu: alles Ge¬
schaffene überhaupt , die lebende und leblose Natur, die
den Menschen und seine Geschichte umgibt und die nach
der biblischen Auffassung von der Welt um des Menschen
willen und um vom Menschen beherrscht zu werden, ge¬
schaffen ist. Man wird freilich gerade darum bei dem, was
Paulus sagt, doch zuerst an den Menschen als den Mittel¬
punkt der Schöpfung Gottes zu denken haben. Dort wird
es greifbar, was er von dem Ganzen der Schöpfung sagt:
daß sie sich — einerlei, ob sie es weiß oder nicht — in
einem Zustand sehnsüchtiger Erwartung befindet, weil sie
der Nichtigkeit unterworfen ist, weil sie im „Dienst des
Vergehens“ steht, will sagen: weil alle ihre Werke und
Unternehmungen, ihr ganzes Leben in allen seinen Regun¬
gen und Bewegungen immer wieder auf Staub und Ver¬
gessenheit hinauslaufen, weil alle Erhaltung der Kraft
und des Stoffes, weil alle Kontinuität ihrer Entwicklung
nichts daran ändert, daß alles ihr Werden zu keinem Sein
und Bleiben, sondern nur immer aufs neue zum Ver¬
gehen und Nichtsein führen kann. Sehr gegen ihren Wil-
121
len: sie möchte ja offenkundig leben und nicht sterben
und muß nun doch mit ihrem ganzen Leben nur immer
aufs neue sterben. In diesem ihrem Widerwillen gegen
die ihr auferlegte Notwendigkeit des Vergehens ist die
Kreatur — nochmals: ob sie es weiß oder nicht — die
sehnsüchtige , die seufzende , nach dem Ausdruck in Vers
22: die in Geburtsschmerzen sich windende Kreatur. Was
ist es mit dieser ihr auferlegten Notwendigkeit des Ver¬
gehens? Wer ist der, der den Menschen und mit ihm die
ganze Schöpfung der Nichtigkeit unterworfen hat (v. 20)?
Es scheint mir kein Zweifel daran möglich, daß Paulus
auch hier sehr einfach an Jesus Christus gedacht hat, der
in seinem Tod, wie wir immer wieder hörten, dem Men¬
schen ein Ende gemacht, das Urteil über ihn gesprochen
und vollzogen hat. Daran leidet mit dem Menschen die
ganze Welt des Menschen, daß das geschehen ist. Darum,
weil auf Golgatha das Schlußwort gesprochen ist über den
Menschen und seine ganze Welt, darum kann und wird
es für ihn und in seiner Welt zu keinem Sein und Blei¬
ben mehr kommen. Darum entsteht und besteht jetzt und
hier alles nur bis auf weiteres, nur auf Abbruch. Darum
gibt es, soweit das Auge reicht, nur sterbendes Leben.
Darum kann die Kreatur in ihrer ganzen Herrlichkeit jetzt
und hier nichts anderes sein als eben seufzende Kreatur:
„in dem Dienst der Eitelkeiten, der uns noch so hart be¬
drückt, wenn auch unser Geist zu Zeiten sich zu etwas
Bess’rem schickt“. Aber eben weil Jesus Christus der Un¬
terwerfende ist, handelt es sich (v. 20) um eine Unter¬
werfung „auf Hoffnung“. In der Verheißung, derer die
teilhaftig sind, die in Christus Jesus Gottes Kinder sind,
wird sichtbar, nach was der Mensch und mit ihm die
ganze Schöpfung seufzt, was ihr fehlt, welches die ihrer
Unterwerfung unter die Nichtigkeit entsprechende Freiheit
ist. Es gibt ja keine andere Unterwerfung als die unter
das Gericht Gottes im Tode Jesu Christi, so auch keine
122
andere Freiheit als die Stoer Herrlichkeit, deren Anwär¬
ter als Miterben die Kinder w'ttes sind. Wo und wie im¬
mer nach Freiheit geseufzt wird, da wird nicht vergeblich
geseufzt. Indem jenes Gericht über die ganze Welt ergeht,
ist auch der ganzen Welt diese Zukunft gegeben, ist ihr
diese Erfüllung ihres Seufzens, diese Geburt als Frucht ih¬
rer Schmerzen zugesagt: „Sie wird befreit werden vom
Dienst des Vergehens zur Freiheit der Herrlichkeit der
Kinder Gottes<c (v. 21). Sie wartet also mit den Kindern
Gottes darauf, daß die Herrlichkeit offenbar werde: es
sind die Kinder Gottes mit ihrer Zukunft die Gewähr für
die Zukunft, der alle Menschen und alle Dinge entgegen-
gchen (v. 19). Aber wie die Welt an ihrer Hoffnung, so
haben auch sie Anteil an dem durch die ganze Welt gehen¬
den Seufzen (v. 23): nicht obwohl, sondern gerade weil
sie „die Erstlingsgabe des Geistes“, gerade weil sie im
Geist den gegenwärtigen Anfang der künftigen Herrlich¬
keit schon haben, der Segnung des Gesetzes Gottes als des
„Geistes des Lebens“ (v. 2) schon teilhaftig sind. Indem
sie Kinder Gottes schon sind laut dessen, was der Geist
ihrem Geist bezeugt (v. 16), steht doch die Offenbarung,
die Enthüllung dessen, was sie sind, steht das Inkraft¬
treten des Rechtes und Besitzes ihrer Sohnschaft noch vor
ihnen. 1. Joh. 3, 1 f. ist hier zu vergleichen: „Sehet,
welch eine Liebe hat uns der Vater damit erwiesen, daß
wir Kinder Gottes genannt werden und sind . . . Geliebte,
wir sind jetzt schon Gottes Kinder und es ist doch noch
nicht erschienen, was wir sein werden. Wir wissen aber,
daß wir, wenn es offenbar werden wird, ihm gleich sein
werden.“ Ihm gleich: nämlich in der „Erlösung unseres
Leibes“, in der Wiederherstellung des „Ich“, das jetzt und
hier nur vergehen, dem das Leben des Geistes, der ja
der Geist Gottes und nicht unser eigener Geist ist, jetzt
und hier nur als ein Anderes, Fremdes gegenüberstehen
kann. Angesichts dieses Vergehens nehmen auch die Kin-
123
der Gottes teil an der sehnsüchtigen Erwartung der gan¬
zen Kreatur, seufzen auch sie. Sie seufzen nicht unge-
tröstet. Wie sollten sie ungetröstet sein, da sie ja den Geist
jetzt und hier schon haben? Aber sie seufzen. Sie kennen
die Vollendung, aber sie haben sie noch nicht. „In Hoff¬
nung sind wir getröstet“ (v. 24). Man muß beide Worte
gleich stark betonen. Zu unserer in Jesus Christus gesche¬
henen Errettung braucht nichts hinzuzukommen. „Es ist
vollbracht“ (Joh. 19, 30). Nur daß das Vollbrachte, sofern
es auch unsere Herrlichkeit in sich schließt, noch ver¬
borgen , noch nicht sichtbar ist. Nur in seiner Offen¬
barung (v. 18 und 19) besteht die erwartete Vollendung.
Eben dieser Offenbarung gilt nun die Hoffnung — gilt
der Glaube, sofern er wie der Glaube Abrahams (Kap.
4, 18 ff.) Hoffnung ist. Hoffnung ist auf die Erfüllung der
göttlichen Verheißung, in deren Besitz wir jetzt und hier
schon leben dürfen. Der Glaube ist Hoffnung, sofern er
die Verheißung kennt und festhält, obwohl er ihre Er¬
füllung noch nicht sehen kann: die von Gott verheißene
Zukunft der Erlösung unseres Leibes, unseres Seins in
der Herrlichkeit des auferstandenen Christus. Der Glaube
ist Hoffnung, sofern wir die Schwachheit, das Leiden, die
Anfechtung des erniedrigten Gottessohnes gerade darum
mit ihm teilen dürfen, weil auch seine Zukunft in der
Herrlichkeit die unsre ist. Der Glaube ist Hoffnung, so¬
fern er (v. 25) in der Geduld besteht, in der Ausdauer
und Beharrlichkeit, mit der wir, seufzend und doch ge¬
tröstet, auf die Erfüllung der Verheißung warten dürfen.
Diese Geduld ist damit notwendig, damit aber auch leicht
gemacht, daß er selbst, Jesus Christus, unsere Hoffnung
ist, daß wir auf etwas Anderes als auf die Offenbarung
des von ihm schon Vollbrachten nicht mehr zu warten
brauchen, daß schon unser Warten als solches erfüllt ist
von der Gegenwart des Erwarteten. Kraft des aufgerichte¬
ten Gesetzes Gottes ist uns das wirklich leicht gemacht.
124
Paulus erklärt sich jetzt (v. 26 — 27) ganz ähnlich wie
vorher in Vers 16: Auf ihre eigene Kraft, geduldig zu
sein, auf den Schwung und Enthusiasmus ihres Höffens
sind gerade die, die in Christus Jesus sind, nicht ange¬
wiesen. Sondern indem sie inmitten und gleich der ganzen
übrigen Welt im Dienst des Vergehens stehen und darum
mit der ganzen Kreatur zu seufzen nicht unterlassen kön¬
nen, kommt der Geist ihrer Schwachheit zu Hilfe. Wie
das? Es wird beim Bleiben in Hoffnung, bei der Geduld
des Wartens offenbar entscheidend darum gehen, daß wir
bleiben und fortfahren in jenem Werk der Anrufung, in
jenem Schreien: Abba, Vater! (v. 15), in welchem die
Gnade als Gnade ergriffen und eben damit das Gesetz
erfüllt wird. Eben zum Tun dieses Werkes kommt der
Geist uns zu Hilfe, ja tritt der Geist selbst für uns ein.
Denn wie sollten wir wissen, was rechtes Beten ist, wie
sollten wir gerade das Abba, Vater! als das eine große
rettende Gebet recht zu beten in der Lage sein? Wie hätten
wir verstanden, daß Gnade Gnade ist, wenn wir gerade
vor diesem Werk nicht erschreckt zurückweichen würden?
Wer kann gerade so beten? Wer kann so mit Gott reden,
um mit dieser Rede Gott angenehm zu sein und von ihm
erhört zu werden? Und nun sagt Paulus, daß eben in
diesem einen entscheidenden Werk Gott selbst für uns ein-
tritt, sich selbst zu unserem Fürsprecher bei sich macht,
daß er den für uns unaussprechlichen Seufzer seufzt, um
eben darum gewiß auch zu hören, was wir selber ja nicht
zu ihm sagen könnten, um dann gewiß auch anzuneh¬
men, was er selbst darzubringen hat. Das ist es zuhöchst
und zuletzt, was mit der Aufrichtung des Gesetzes Gottes
für die, die in Christus Jesus sind, Wirklichkeit wird. Das
ist es, was sie von der Hoffnung nicht weichen läßt, wenn
sie es schon wollten. Das ist das Geheimnis ihrer Geduld.
Daß Gott in ihren freudlosen und kraftlosen Seufzern
die Stimme seines eigenen Sohnes hört, das macht dieses
125
ihr Seufzen zu der Anbetung, die ihm wohlgefällig ist,
und macht es für sie selbst zu dem getrösteten Seufzen, in
welchem sie aus der Hoffnung nie herausfallen werden.
Der letzte Abschnitt von Röm. 8, Vers 28—39*) be¬
schreibt das Leben unter dem Gesetz Gottes als das Leben
in der Unschuld. Wir entnehmen diesen Begriff insbesondere
den Versen 31 — 39, in denen in aller Form eben die Frage
aufgeworfen wird: wer nun etwa gegen die, die in Chri¬
stus Jesus sind, auftreten, ihnen etwas Vorhalten, sie an-
klagen könnte und in denen auf diese Frage in aller
Form die Antwort gegeben wird: niemand kann das, von
nirgendswoher kann das geschehen; denn gerade der, der
gegen sie sein und reden, gerade der Einzige, der sie schul¬
dig sprechen könnte, tut das Gegenteil; gerade er ist und
redet für sie, und indem er das tut — er, der Brunn¬
quell und das Maß aller Gerechtigkeit, er, der ewige Rich¬
ter — sind sie eben unschuldig.
Wir hörten schon in Vers 26 — 27: sie haben inmitten
der Welt, die im Schatten des Kreuzes Christi nur vergehen
kann und als deren Angehörige sie auch selbst sterben
müssen, darin die Kraft zu der Hoffnung, die nach Kap.
5, 5 nicht zuschanden werden läßt: daß der Geist für
sie eintritt, für sie redet, so daß Gott in ihrem schwachen
und gebrechlichen Beten die Stimme seines eigenen Soh¬
nes vernimmt, an dem er Wohlgefallen hat, so daß dieses
Wohlgefallen auch ihnen zugute kommt, so daß er sie hört
als seine Kinder, wenn sie aus großer Tiefe zu ihm rufen
(v. 15): Abba, Vater! Der Geist ist die in ihrem Glauben
über ihre ganze Gefangenschaft unter Sünde und Tod
triumphierende Gnade Gottes. Dieser Geist ist der An¬
walt, der sie freispricht, weil ja eben er auch ihr Gesetz
und ihr Richter ist. Und wir hörten schon in Vers 1 : „So
*) Vgl. dazu KD IV, 2, S. 308 f.
126
gibt es nun keine Verurteilung für die, die in Christus
Jesus sind“. — Das ist die Botschaft, die nun, am Schluß
des Kapitels, ausdrücklich noch einmal aufgenommen wird.
Wenn es in Vers 28 heißt, daß denen, die Gott lieben,
alle Dinge zum Guten mitwirken, so ist bei „allen Dingen“
an alles das zu denken, was, sei es als irdisdi-geschicht-
liches Widerfahrnis (v. 35), sei es als geistlich-überwelt-
licher Einfluß (v. 38), die Macht haben könnte, den Chri¬
sten, die da solchen Widerfahrnissen und Einflüssen nicht
entzogen sind, die Freiheit der Unschuld, in der sie vor
Gott stehen dürfen, wieder zu nehmen. Warum haben sie
sie faktisch nicht? Darum nicht, wird es in Vers 35 und
39 heißen, weil keine von diesen Möglichkeiten auch nur
von ferne so groß ist, um sie von der nach Kap. 5, 5 in
ihre Herzen gegossenen Liebe Gottes — sie heißt in Vers 35
die Liebe Christi, in Vers 39 die Liebe Gottes in Christus
Jesus, unserm Herrn — zu trennen, ihnen diese Liebe
aus dem Herzen zu reißen, so daß sie wieder lieblos und
damit auf sich selbst angewiesen dastehen müßten. Es
handelt sich um die Liebe, die uns Gott damit erweist,
daß wir ihn um seines eigenen Sohnes willen als seine
Kinder wieder lieben dürfen. Wo diese Liebe ist — und
sie ist in denen, die in Christus Jesus sind, sie bleibt in
ihnen — da sind alle jene Gefahren keine Gefahren, son¬
dern Hilfen (v. 28), da kann alle Anfechtung, die von jenen
Möglichkeiten her drohen kann, nur dazu dienen, den
Menschen im Gehorsam und in der Hoffnung und damit
in jenem Stand der Unschuld und also in der Freiheit
der Kinder Gottes erst recht zu bestätigen und zu bestär¬
ken. Das ist das Gute, zu dem ihnen alle Dinge mitwirken
müssen. Ihnen, die Gott lieben! Paulus macht jetzt noch
einmal klar, daß dieses Lieben im Zusammenhang des
Evangeliums nicht etwa bedeuten kann, daß Menschen es
sich selbst gewählt, bereitet und verschafft hätten, sich
Gott zuzuwenden und zu übergeben, daraufhin, daß sie
127
mit Gott etwas anzufangen wüßten, für Gott von sich
aus irgend eine Neigung und Fähigkeit hätten. Von der
lebendigen Kraft des Geistes, des auf Golgatha aufgerich¬
teten Lebensgesetzes ist ja die Rede. Die Gott lieben, sind
die, die Gott nach seinem freien Willen von Ewigkeit her
zu solchem Lieben bestimmt und dann in der Zeit dazu
berufen hat. Er hat für sie und an ihnen gehandelt
(v. 29 — 30): Er wußte um sie, er gab ihnen damit, daß er
um sie wußte und an sie dachte, ihre Bestimmung — bei¬
des im voraus, d. h. bei sich selber, in der Kraft der all¬
mächtigen Barmherzigkeit, welche war, ehe sie waren, ja
ehe die Welt war (Eph. 1,4) — und daraufhin, da sie
noch taub waren, berief er sie durch sein Wort, darauf¬
hin, da sie noch Gottlose waren, sprach er zu ihnen vor
den Ohren der ganzen himmlischen und irdisdien Schöp¬
fung: daß sie gerecht seien, daraufhin, da sic noch mit¬
ten in der Anfechtung standen, bekleidete er sie mit seiner
eigenen Herrlichkeit. Man bemerke, wie Paulus das alles
in der Vergangenheitsform, als ein historisches, ja vor¬
historisches ewiges Faktum beschreibt. Mag es mit dieser
Gefangenschaft unter Sünde und Tod stehen, wie es will!
Mag die Angst, in der sie, dem Gesetz der Sünde und des
Todes unterworfen, am Genügen der göttlichen Gnade
zweifeln, und mag der Hochmut, der an Stelle der Gnade
immer wieder das eigene Werk setzen möchte, noch so
groß sein! Von diesem Faktum kommen sie her, von ihm
her existieren sie als von der neuen, eigentlichen Geburt
her, die ihnen durch Gottes Wort und Willen widerfahren
ist. Das ist die Macht des Gesetzes Gottes über sie, daß
sie von diesem Faktum herkommen, daß sie diese von
neuem Geborenen sind. Weil es darum, weil es um das Ge¬
schehen des Werkes des Heiligen Geistes geht, wenn sie
Gott lieben, weil dieses Lieben ohne sie und gegen sie,
und damit für sie und damit dann auch echt und recht
mit ihnen geschieht und so ihr eigenes, in ihre Herzen
128
ausgegossenes Lieben, das Lieben ihres eigenen Herzens
ist, darum kann es nachher heißen, daß niemand und
nichts sie davon zu trennen vermag. Es geht um die Über¬
macht der Liebe Gottes selbst, wenn Menschen, die ihn lie¬
ben und damit solche sind, denen auch alle Anfechtung
nur helfen kann, erst recht unschuldig vor ihm dazustehen
und zu wandeln. Das hat Paulus in Vers 29 konkret
anschaulich gemacht, daß er die ewige Vorherbestimmung,
die Praedestination, in deren Vollzug es in der Zeit zur
Berufung, zur Rechtfertigung, zur Verherrlichung des
Menschen kommt, dahin beschreibt: Gott hat sie von Ewig¬
keit her gleichgestaltet seinem eigenen Bilde, d. h. aber
— denn das ist das Bild Gottes (Kol. 1,15) — der Gestalt
seines eigenen Sohnes. Er hat ihrer von Ewigkeit her so
gedacht, wie er von Ewigkeit her seines eigenen Sohnes
gedachte, und damit hat er ihnen ihre Bestimmung für
ihre zeitliche Existenz gegeben. Sie sind durch die Liebe,
in der Gott seinen eigenen Sohn liebt, dazu bestimmt,
seine Kinder zu sein und also ihn wieder zu lieben. Dar¬
um hat diese Liebe Übermacht: ohne sie, gegen sie und so
für sie, so in ihnen. Darum ist es unmöglich, sie von dieser
Liebe zu scheiden. Darum kann ihnen alle Anfechtung nur
Hilfe sein.
Und eben darum — wir kommen zu der Hauptstelle in
Vers 31 ff. — stehen sie nun auch unklagbar da vor Gott:
unklagbar, soviel Klage sich immer gegen sie erheben
mag. „Ist Gott für uns, wer mag wider uns sein?“ Es wäre
eigenmächtiger Trotz, wenn die, die in Christus Jesus sind,
dabei verharren wollten, daß irgend jemand und irgend
etwas gegen sie sein, daß ihre Unschuld nicht feststehen
sollte, und daß sie sich darum aufs neue in die Angst
und in den Hochmut flüchten müßten. Indem sie Gott
lieben, steht es fest, wo sie herkommen und damit auch,
wo sie hingehen. Gott ist für sie. Das ist ja nach Vers 29
und Vers 30 das Geheimnis ihrer Liebe. Gott ist für sie.
129
Hat er doch seines eigenen Sohnes — desselben, um des¬
willen er ihrer von Ewigkeit her gedachte als seiner lieben
Kinder — hat er doch in ihm seiner selbst nicht verschont,
sich selbst nicht für zu kostbar gehalten, sondern in ihm
— damit ihre ewige Praedestination vollzogen und er¬
füllt werde! — sich selbst dahin gegeben. Dahin gegeben —
der Ausdruck ist derselbe, den Paulus im ersten Kapitel
(v. 24. 26. 28) für die göttliche Dahingabe der Menschen
an ihr selbstgewähltes Verderben verwendet — in die
Schande der menschlichen Sünde und des menschlichen
Todes hineingegeben: für sie, damit diese Schande von
ihnen genommen werde und also die ihrige nicht mehr
sei. Unter dem Gesetz dieses Ereignisses stehen und leben
sie ja. Wie sollten sie da nicht unschuldig sein? Wie sollte
ihnen da nicht alles geschenkt sein und immer wieder ge¬
schenkt werden, was ihre Unschuld erweisen und beweisen
kann? Denn (v. 34): Wer will, wer kann, wer wird sie
anklagen — sie, die von daher kommen, sie die Erwähl¬
ten Gottes, sie, deren ewige Erwählung in der Mitte der
Zeit auf Golgatha zum Vollzug gekommen ist für alle
Zeiten, sie, die den zum Richer haben, der sie schon ge¬
recht gesprochen hat, und als dessen endgültiges Wort sie
immer wieder diesen Richterspruch hören dürfen? Wer ver¬
dammt, wer verurteilt, wer verwirft diese Menschen?
Paulus bestreitet nicht — wie sollte er? — , daß es solche
Verdammnis, solche Verurteilung, solche Verwerfung des
Menschen — auch dieser Menschen — tatsächlich gibt, daß
sie sie tausendmal verdient haben und daß sie ihr ret¬
tungslos verfallen sind. Aber wer vollzieht sie? Antwort:
Jesus Christus vollzieht sie, hat sie ein für allemal voll¬
zogen für uns und damit auch an uns — damit nämlich,
daß er selber sie getragen und als ihr Träger gestorben
ist — eben er, der auch auferstanden, der zur Rechten
Gottes ist, durch den Gott die ganze Welt regiert und
richtet, der — Paulus braucht denselben Ausdruck, den
130
er in Vers 27 vom Geiste brauchte — für uns eintritt,
in welchem Gott selbst also nicht gegen, sondern für uns
ist, um deswillen wir unsere gerechte Verdammnis, Ver¬
urteilung und Verwerfung hinter uns und nicht mehr
vor uns haben. Weil dem so ist, darum wäre es eigen¬
mächtiger Trotz, wenn die, die in ihm sind, an ihre eigene
Unschuld, an ihre Freiheit als Kinder Gottes nicht glau¬
ben, wenn sie mit diesem Geschenk nicht vollen Ernst
machen würden. Sie würden nicht an Gott glauben, wenn
sie nicht an diese ihre Freiheit glauben würden.
Sie, die Gott lieben! Noch einmal kommt Paulus zum
Schluß in Vers 35 ff. auf diese ihre Bestimmung zurück,
um jetzt eben das zu unterstreichen: sie ist unverlierbar.
Sie gehört nicht zu den Bestimmungen des Menschen, die,
weil sie geschöpflich sind, mit dem Vergehen des Geschöpfs,
kraft der Anfeditung, die auch dem Christen von der
Erde wie vom Himmel her täglich widerfahren kann und
tatsächlich widerfährt, auch wieder dahinfallen könnten
und irgend einmal dahinfallen. Es gibt niemand und
nichts, was sie von der Liebe Christi scheiden könnte. Die
Verse 35 — 37 erinnern zunädist — es ist das einzige Mal
im Römerbrief, daß das geschieht — daran, daß die Chri¬
sten, mit denen Paulus es zu tun hat, offenbar auch die
Christen in Rom, in der Verfolgung leben. Das ist der In¬
begriff der irdischen Anfechtung. In der Verfolgung als
dem handgreiflichen Ausdruck ihres Mißerfolges in der
Welt und ihrer eigenen Teilnahme an deren Verderblich¬
keit (v. 19 f.) laufen sie Gefahr, ihrer Unsdiuld verlustig
zu gehen, das Gesetz des Lebens, unter dem sie stehen, aus
den Augen und Ohren zu verlieren, der natürlichen Angst
und auch dem natürlichen Hochmut einen Raum zu ge¬
ben, der ihnen nicht zukommen kann. Die Verfolgung
könnte sie von Jesus Christus wegtreiben, könnte sie des
Geistes berauben, könnte ihnen die Liebe zu Gott nehmen
wollen. Paulus sagt dazu nicht, daß dies nicht geschehen
131
darf und daß sie sich davor hüten sollen, sondern er sagt,
daß das nicht geschehen kann. Ein Beweis dafür ist nun
nicht mehr nötig, oder wenn man einen sucht, liegt er in
dem Zitat aus Ps. 44: „Um deinetwillen werden wir ge¬
tötet den ganzen Tag, sind wir geachtet wie Schlacht¬
schafe“. Um deinetwillen: also gerade in ihrer Verbindung
und Einheit mit Jesus Christus, gerade weil sie unter
Gottes Gesetz, wie es auf Golgatha aufgerichtet wurde,
leben, leiden sie Verfolgung, wie ja heimlich alles Leiden
der ganzen Schöpfung die Ausstrahlung des Leidens des
Sohnes Gottes, eben darum aber auch ein Leiden auf
Hoffnung ist. Anfechtung in der Verbindung und Einheit
mit der Anfechtung, die Jesus Christus selber erlitten und
ertragen hat, kann aber von ihm nicht wegführen, kann
diese Verbindung und Einheit, kann also auch die Liebe
nur stärker machen. „In diesem allem überwinden wir
weit“ — nicht kraft unseres Mutes und unserer Aus¬
dauer, aber „um deswillen, der uns liebte“, mit jener
ewigen und in der Mitte derZeit verwirklichten und offen¬
barten Liebe, die die Verfolgten im Stande ihrer Unschuld
unmöglich erschüttern, sondern eben nur bestätigen und
bestärken kann, durch die alle absteigende Angst und
aller aufsteigende Hochmut immer schon im voraus in
ihre Schranken gewiesen sind. Hinter und über der irdi¬
schen Anfechtung und in dieser verhüllt droht nun frei¬
lich die größere und gefährlichere durch die unsichtbaren,
die himmlischen Mächte dieser Welt. Von ihnen ist inVers
38 — 39 die Rede: Tod, Leben, Engel, Gewalten, Gegen¬
wart, Zukunft, Kräfte, Höhe, Tiefe. Man muß damit
rechnen, daß Paulus hier einen ganzen Aufruhr geistiger
Wirklichkeiten, einen ganzen bewegten Ozean verborgenen
und in der, den Christen zuteil werdenden Verfolgung nur
zu Tage tretenden höheren Widerstandes gar nicht ab¬
strakt, sondern in höchst persönlichen Gestalten vor sich
gesehen hat, jene „viele Götter und viele Herren“ (1. Kor.
132
/
8, 5), jene „Herrscher dieser Welt“ (1. Kor. 2, 6 ff.), die
es letztlich und im Grunde waren, die den Herrn der
Herrlichkeit gekreuzigt haben, weil sie die Weisheit Got¬
tes nicht erkannten. Sie werden uns von der Liebe Gottes
nicht trennen können, sagt Paulus auch von ihnen. Schon
darum nicht, weil sie — wir hören das in Vers 39 ganz
beiläufig — allesamt und in ihrer ganzen Macht mit allen
ihren Möglichkeiten nur Geschöpfe, nur „sogen. Götter“
(1. Kor. 8, 5) sind, weil auch ihr Aufruhr die Christen
nur noch mehr mit dem verbinden kann, dem er eigentlich
gilt, weil er durch den, dem er eigentlich gilt, längst ge¬
stillt und überwunden ist, weil alles, was ihnen von dort
her widerfahren kann, nur noch die Nachwehen dessen
sind, was sie ihm gegenüber längst und zwar vergeblich
auszurichten versucht haben, weil sie gerade in diesem ih¬
rem frevelhaftesten Werk gar nicht als Götter und Herren
eigenen Rechtes, sondern im Ergebnis nur als Diener des¬
sen handeln konnten, der an dem von ihnen aufgerichte¬
ten Kreuz die Unschuld derer, die an ihn glauben, so an
den Tag gebracht hat, daß jene zu spät kommen, wenn sie
sie ihnen heute noch nehmen wollen. Es bleibt also bei
Vers 1: So gibt es denn keine Verurteilung derer, die in
Christus Jesus sind! Keine Verurteilung! — das ist das
endgültig Frohe der frohen Botschaft des Evangeliums.
133
9, 1 — 11, 36
Das Evangelium unter den Juden"’)
Es ist deutlich, daß wir es in diesen Kapiteln mit einem
zweiten, verhältnismäßig selbständigen Teil des Briefes
zu tun bekommen. Um eine weitere Erklärung des Satzes
1,16 vom Evangelium als dem allmächtigen Rettungswerk
Gottes für jeden Glaubenden und also um eine einfache
Fortsetzung des Gedankenganges 1, 18 — 8, 39 kann es
sich hier nicht mehr handeln. Hier nicht und so auch nicht
in dem auf diesen Teil in Kapitel 12 — 16 folgenden
Schlußteil des Ganzen. Über jenes Rettungswerk, über das
dem durch seinen Glauben Gerechten im Evangelium zu¬
gesagte Leben ist im Bisherigen alles gesagt, was zu sagen
ist. Was wir jetzt noch vor uns haben, ist die Antwort
auf die Frage: Was bedeutet es, wenn das so beschriebene
Evangelium — also das Evangelium als die göttliche Ver¬
urteilung des Menschen, als die göttliche Gerechtsprechung
des Glaubenden, als des Menschen Versöhnung mit Gott,
als seine Heiligung und Befreiung, als die Aufrichtung des
göttlichen Gesetzes — auf Ungehorsam und was bedeutet
es, wenn es auf Gehorsam stößt?
Wie das ist, wenn das Evangelium auf Gehorsam stößt,
das wird Paulus Kap. 12 — 15 nicht in Form einer Theorie,
sondern bemerkenswerter Weise — wie sollte von Ge¬
horsam anders gesprochen werden können? — in Form
einer Reihe von bestimmten Ermahnungen und Weisungen
zur Darstellung bringen. Aber nun ist es ebenso bemer-
*) Vgl. zu diesen drei Kapiteln KD II 2, S. 222 f, 235 f, 264 f, 294 f.
134
kenswert, daß das Problem des Ungehorsams dem Evan¬
gelium gegenüber nicht etwa in Form einer entsprechenden
Reihe von Anklagen und Beschuldigungen, nicht in Form
einer Büßpredigt, sondern nun gerade — im besten Sinn
des Wortes — in Form einer Theorie, d. h. in Form einer
anbetenden und lobpreisenden Betrachtung des auch dem
Ungehorsam gegenüber sich bewährenden und letztlich
triumphierenden Werkes und Weges Gottes — eben des
Gottes, von dem das Evangelium redet — zur Darstel¬
lung bringt. Wenn man sich darüber verwundern möchte,
so mag man sich fragen, ob von dem, der das Evangelium
selbst und als solches so verstanden und ausgelegt hat, wie
es gerade zuletzt im achten Kapitel geschehen ist, etwas
Anderes zu erwarten ist, als daß er gerade angesichts des
Ungehorsams diesem Evangelium gegenüber das Werk
und den Weg Gottes sein einziges Thema sein lassen, den
Ungehorsam selbst und als solchen zum vornherein und
zuletzt endgültig von diesem Thema her überhöht und in
den Schatten gestellt sehen und verstehen wird. Daß die,
die in Christus Jesus sind, von der Liebe Gottes nicht zu
scheiden sind, das war ja das Letzte, was wir gehört
haben. Wie sollte Einer, der das von sich selber zu sagen
gewagt hat, die Wahrheit dieser Aussage nicht damit
beweisen müssen, daß auch der Blick auf den dem Evan¬
gelium begegnenden Ungehorsam ihn in seiner Liebe zu
Gott nicht irre machen, sondern nur erst recht zur An¬
betung und zum Lobpreis Gottes anspornen kann. Er
wird die Wahrheit jener Aussage damit beweisen, daß
er auch und gerade die Behandlung dieses Problems nicht
zu einer Beschwerde über die menschliche Unart, sondern
zu einer Verherrlichung Gottes und seiner Art gestaltet.
Das ist es, was Paulus in diesen Kapiteln getan hat. Man
vergewissere sich angesichts des Schlusses von Kap. 11,
auf was er in dieser Sache hinaus will. „Gott hat Alle
verschlossen unter den Ungehorsam, auf daß er sich Aller
135
erbarme“ (11,32). „Von ihm und durch ihn und zu ihm
sind alle Dinge“ (11, 36). Daß er dort das Problem des
Ungehorsams nicht ernst nehme, wird man angesichts von
allem, was vorangeht, bestimmt nicht sagen können. Er
nimmt es aber dort und in diesen ganzen Kapiteln damit
ernst, daß er Gott — eben den Gott, von dem das
Evangelium redet — ernst nimmt und ihm und also nicht
dem ungehorsamen Menschen die Ehre des ersten und
letzten Wortes gibt.
Man kann, wenn man genau zusieht, schon der Ein¬
leitung zu Kap. 9, 1 — 5 entnehmen, in welcher Gesinnung
und mit welchem Ergebnis Paulus sich in diesen Kapiteln
mit dem Problem des Ungehorsams dem Evangelium ge¬
genüber auseinandersetzen wird. Wir lernen aus diesen
Versen folgendes:
1) Dieses Problem ist für Paulus ohne weiteres iden¬
tisch mit dem Problem des Ungehorsams Israels: der gro¬
ßen Mehrheit Israels nämlich, die sich auch nach der Auf¬
erstehung Jesu Christi, auch nach der Ausgießung des
heiligen Geistes dem Evangelium verweigert. Warum ge¬
rade Israel? Darum Israel, lesen wir in Vers 4—5, weil
Israel und das Evangelium gewissermaßen natürlich und
von Hause aus zusammengehören — weil Israel als sol¬
ches von Gott schon angenommen ist an Sohnes Statt, weil
die Herrlichkeit Gottes in seiner Mitte wohnt, weil der
Bund Gottes mit ihm geschlossen und immer wieder be¬
stätigt wurde, weil es das Gesetz hat, den Opferdienst,
die Verheißungen und die Väter von seinen Anfängen und
bis auf diesen Tag und in dem Allem Jesus Christus
selber, der ja nach dem Fleische eben aus ihm hervor¬
gehen sollte und hervorgegangen ist: er, der zugleich
Gott selber ist, der Gott, der über allem und allen ist
und herrscht. Darum, weil das Heil zu den Juden und
von den Juden in die Welt gekommen ist, darum, weil die
136
Gnade Gottes, die den Juden, und nur durch die Juden
audi den Heiden zugewendete Gnade ist — darum entschei¬
det es sich hier, was es mit dem Ungehorsam dem Evan¬
gelium gegenüber auf sich hat. Es braucht die volle ur¬
sprüngliche Gegenwart eben der Gnade Gottes, zu der Wirk¬
lichkeit und zu der Offenbarung des menschlichen Unge¬
horsams.
2) Dieser Ungehorsam kann für den, der selber zum
Gehorsam gegen das Evangelium gekommen ist, für den
Apostel also und mit ihm für die aus vielen Heiden und
aus so merkwürdig wenig Juden bestehende Kirche nicht
ein Gegenstand der Entrüstung und der Anklage sein. Die¬
ser Ungehorsam bedeutet ja für die Ungehorsamen Aus¬
schluß von der ganzen Wohltat des Evangeliums und
damit Ausschluß von dem, was Gott durch das Evan¬
gelium will mit dem Menschen: Ausschluß von der Teil¬
nahme an seiner Verherrlichung in der Welt. Die Un¬
gehorsamen sind also geschlagen und bestraft mit ihrem
Ungehorsam: doppelt gestraft, da er in ihrem schlechthin
unbegreiflichen Versagen gerade gegenüber der ihnen zu¬
gewendeten Gnade Gottes besteht. Nicht anzuklagen, son¬
dern zu beklagen sind sie. Daß er — nicht als israeliti¬
scher Patriot, sondern als Apostel „große Traurigkeit und
unablässigen Schmerz“ um sie habe, das ist es, was Paulus
in Vers 2 in dieser Sache als seine Stellungnahme zu be¬
kennen hat.
3) Paulus hat diesen seinen Schmerz nach Vers 1 in
der feierlichsten Weise zum Gegenstand seiner Verkündi¬
gung gemacht. Er redet in dieser Sache „die Wahrheit in
Christus“; er beruft sich gerade für das, was er hier zu
sagen hat, auf das Zeugnis des Heiligen Geistes. Er hält es
für der Mühe wert und für notwendig, die römische Ge¬
meinde, die sich in ihrer Mehrzahl aus Heiden zusammen¬
setzte, diese Gläubigen, diese Gehorsamen, drei Kapitel lang
mit dem Problem des Ungehorsams, dem Problem Israels
137
zu beschäftigen und zwar in diesem Sinn zu beschäftigen:
sie zur Teilnahme an seinem Schmerz aufzurufen. Aber
er sagt ihnen ja noch mehr als das. Er wagt in Vers 3
das Wort: daß er zum Besten seiner ungehorsamen Brü¬
der aus Israel von Christus weg verflucht zu werden
wünschte. Wenn das keine verwegene Übertreibung ist,
dann ist mit diesem Wort gesagt: er, der gehorsam Ge¬
wordene, er, der Apostel Jesu Christi, kann sich auf kei¬
nen Fall und in keiner Weise mit der Tatsache des Un¬
gehorsams und des Ausschlusses Israels abfinden. Er steht
und fällt gerade als Gehorsamer damit, daß die Unge¬
horsamen nicht ungehorsam bleiben. Würden sie es blei¬
ben, dann wollte und würde auch er vom Evangelium,
von seiner Herrlichkeit und von dem Dienst der Verherr¬
lichung Gottes ausgeschlossen sein. Nochmals: nicht irgend
eine menschliche Treue führt hier das Wort. Die Sache
selbst, das Evangelium verlangt die volle vorbehaltlose
Solidarität der Gehorsamen mit den Ungehorsamen. Denn
das ist nicht des Paulus Privatsache, sondern das ver¬
kündigt er den römischen Christen als „Wahrheit in Chri¬
stus“, die für sie ebenso gilt wie für ihn.
Und nun sind es drei Gedankenreihen, in denen Paulus
seine Stellungnahme bzw. die vom Evangelium her ge¬
botene Stellungnahme der christlichen Kirche dem in Is¬
rael verkörperten Ungehorsam diesem Evangelium gegen¬
über sichtbar macht. Sie haben alle drei das Gemeinsame,
daß sie zeigen, auch dieser Ungehorsam steht in seiner
ganzen Furchtbarkeit im Licht — wirklich im Licht! —
des Evangeliums, gegen das er sich richtet. Alle drei Ge¬
dankenreihen sagen: nicht daß es eine diesem Ungehor¬
sam entsprechende Verdammnis gibt, sondern daß dieser
Ungehorsam samt der ihm entsprechenden Verdammnis
umschlossen ist von Gottes Weg und Werk: von dem Weg
und Werk seiner Barmherzigkeit — derselben göttlichen
138
Barmherzigkeit, deren eben die, die in Christus Jesus sind,
eben die dem Evangelium Gehorsamen, sich jetzt schon
rühmen dürfen. Wie könnten sie das tun, wenn sie ihr
nicht auch im Blick auf die Ungehorsamen das erste und
das letzte Wort geben und lassen würden?
Paulus sagt 9, 6 — 29: daß auch das furchtbare Ereignis
des Ungehorsams sich darin als eingeschlossen in das Werk
der göttlichen Barmherzigkeit verrät, daß es sichtbar
macht: die Menschen wählen nicht, was sie für gut halten,
sondern sie wählen den souveränen Willen Gottes, wenn
sie dem Evangelium gehorsam werden. Sie sind erwählt,
indem sie das tun! So können wir keinen letzten Anstoß
daran nehmen, wenn wir Viele, die Ungehorsamen, sehen,
die eben das nicht tun. Paulus sagt in Kap. 9, 30 — 10,
21: Was diese mit ihrem Ungehorsam tun, ist darum un¬
entschuldbar, ist aber auch gerade darum nicht hoffnungs¬
los, weil ja eben der Gott, an welchem sie sich damit ver¬
sündigen, der Gott ist, der mit seiner Gerechtigkeit auch
für ihre Ungerechtigkeit einzustehen beschlossen hat und
bereit ist und der den Glauben an ihn auch ihnen so
nahe gelegt hat, daß es ihnen objektiv unmöglich gemacht
ist, ihn zu verfehlen. Und Paulus sagt in Kap. 11, 1 — 36,
daß Gott auch unter den Ungehorsamen immer wieder Ge¬
horsam erweckt, daß umgekehrt die Gehorsamen ange¬
sichts der Ungehorsamen nur dazu Anlaß haben, der
ihnen widerfahrenen Barmherzigkeit um so dankbarer zu
sein in erneuertem Gehorsam und daß gerade sie die Ver¬
heißung, von der sie selber leben, notwendig auch auf die
Ungehorsamen beziehen werden. — Das ist in Kürze die
paulinische Anwendung des Evangeliums auf das Pro¬
blem des Ungehorsams diesem Evangelium gegenüber.
Der Zusammenhang in Kap. 9, 6 — 29 steht unter dem
Zeichen von Vers 6a: daß Gottes Wort, das auch Israel
139
und ursprünglich und zuerst gerade Israel gegebene
Evangelium durch Israels Ungehorsam ihm gegenüber
nicht hinfällig, nicht suspendiert, nicht mattgesetzt ist, daß
es sich vielmehr in seiner Weise auch in der Existenz
dieser Ungehorsamen seine Bestätigung verschafft. Unge¬
horsam bedeutet — das ist die Voraussetzung dieses ersten
Gedankengangs und daran ist ja Paulus nach Vers 1 — 5
vor allem interessiert — den Ausschluß der Ungehorsa¬
men wie von Gottes Wohltat im Evangelium so auch von
der dem Menschen mit dem Evangelium zugewiesenen
aktiven Teilnahme an Gottes Verherrlichung. Solches Aus¬
schließen gehört aber zur Erfüllung des Wortes Gottes,
zum Werk des Evangeliums. Es schließt den Menschen,
wie wir in Kap. 1 — 8 wahrhaftig deutlich genug gehört
haben, auf der ganzen Linie von Gott aus, d. h. es kenn¬
zeichnet ihn auf der ganzen Linie als Ungehorsamen, um
ihn dann als solchen einzuschließen und zu bejahen, um
ihm als solchem Gottes Gabe und Aufgabe zuzuweisen.
Daß er in Jesus Christus getötet und nur in ihm aufer¬
weckt ist von den Toten, das ist der Inhalt des Wortes
Gottes an jeden Menschen. Sehen wir Ausgeschlossene,
dann sollen wir sie unter allen Umständen nicht als vom
Evangelium, sondern als durch das Evangelium selbst
Ausgeschlossene ansehen. Sehen wir die durch ihren Un¬
glauben ausgeschlossene Synagoge, dann sollen wir weder
am Evangelium noch auch an den dort in der Finsternis
versammelten Menschen verzweifeln, dann sollen wir uns
vielmehr klar machen, daß eben durch das Evangelium ge¬
rade dort, wo es herkommt, gerade dort, wo es zuhause
war, immer dieses Ausschließen vollzogen wurde: nicht
um des Ausschließens, sondern um des Einschließens wil¬
len: aber dieses Ausschließen. „Nicht alle, die aus Israel
sind, sind Israel. Und wenn sie Nachkommen Abrahams
sind, sind sie darum nicht alle seine Kinder“ (v. 6 f.). Es
geht ja in Israel nicht um Israel, sondern um den Israel
140
verheißenen Christus und nur um seinetwillen dann auch
um Israel. Israel muß mit ihm sterben, um mit ihm zu
leben. Und Gottes souveräner Wille verfügt über Beides.
Das ist es, was sich in Israels Geschichte von Anfang an
ankündigt in jenem Ausschließen: darin, daß dem gött¬
lichen Erwählen immer auch ein Nichterwählen, seinem
Annehmen immer auch ein Verwerfen zur Seite geht.
Nicht irgend ein Sohn Abrahams, nicht Ismael, sondern
Isaak wird durch Gottes Verheißung selbst zum Stamm¬
vater Christi und damit zum Träger der Hoffnung für
ganz Israel gemacht (v. 8 — 9). Und wiederum unter den
Zwillingssöhnen der Rebekka nicht der Ältere, Esau, son¬
dern der Jüngere, Jakob (v. 10 — 13). Wer schließt jenen
aus und diesen ein? Nicht der gute oder böse Wille des
Einen oder des Anderen, sondern das tötende und leben¬
digmachende Wort Gottes, das Wort seines Hasses und
seiner Liebe (v. 13), das Israels Hoffnung, aber eben dar¬
um auch Israels Richter ist von Anfang an. Dieses Wort
verfügt nach beiden Seiten souverän. Dieses Wort ist das
persönliche Wort der freien Barmherzigkeit Gottes. Und
darum bestimmt es selbst, wo es wohnen und wo es nicht
wohnen, wo es seinen Ursprung in der Geschichte nehmen
und wo es das nicht tun will. Darum das doppelte Zei¬
chen des Annehmens und Verwerfens schon in der Väter¬
geschichte. Es ist dasselbe Wort und was da geschieht, ist
die Bestätigung desselben Wortes nach beiden Seiten.
Die Frage in Vers 14 ist naheliegend: ob diese durch das
Evangelium selbst vollzogene Ausschließung nicht be¬
deute, daß Gott den Ausgeschlossenen, deren guter oder
böser Wille nach Vers 10 — 13 gar nicht in Betracht gezogen
wird, Unrecht tue? Wenn Paulus darauf mit jenem ent¬
setzten Unmöglich! antwortet, so ist zu beachten, daß das
nicht etwa damit begründet wird, daß Gott vermöge seiner
Souveränität das Recht habe, es in jeder Sache und so
auch jedem Menschen gegenüber so zu halten, wie es aus
141
einem nur ihm bekannten Grunde sein Belieben ist. So hat
man freilich in der späteren kirchlichen Prädestinations¬
lehre auf die Frage nach der Gerechtigkeit der göttlichen
Erwählung geantwortet. Paulus aber antwortet in Vers 15
mit der Anführung dessen, was zu Mose gesagt wurde:
„Wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich und
wem ich barmherzig bin, dem bin ich barmherzig!“ Das
bedeutet aber: die Gerechtigkeit der göttlichen Erwäh¬
lung, nach der man auf den ersten Blick fragen möchte,
besteht darin, daß sie die Gerechtigkeit der göttlichen
Barmherzigkeit ist. Was Gott tut — und gerade das was
er an den Söhnen Abrahams und dann wieder an den Söh¬
nen Isaaks tut mit jenem Annehmen und Verwerfen — ,
das ist das Werk seines Erbarmens, dessen Grund wieder
nichts anderes als eben sein Erbarmen ist. Eine nackte
Souveränität würde den erwählenden Gott von einem
tyrannischen Dämon allerdings nicht unterscheiden. Sein
Erbarmen aber — und darum handelt es sich in der Ge¬
schichte Israels — erweist ihn als Gott, der gerecht ist.
Denn eben Barmherzigkeit und ihre Ausübung ist Gottes
Recht. Das ist es, was nun auch in der Aussage in Vers
16 das Entscheidende ist. Daß es bei dem wählenden
Willen Gottes aller Willkür des Menschen gegenüber sein
Bewenden haben müsse, hieß es schon in Vers 11. Und
das wird nun allerdings wiederholt: Es gibt dem Willen
Gottes gegenüber kein Recht und keinen Anspruch mensch¬
lichen Wollens und Laufens, menschlichen Beschließens
und Leistens. Dem barmherzigen Gott können Isaak und
Ismael, können Jakob und Esau mit allem, was sie sind
und werden, nur zur Verfügung stehen. Wo er offenbar
wird und handelt, wie es in Israel von Anfang an ge¬
schehen ist, da kann kein Mensch ihm zuvorkommen, da
kann jeder Mensch nur zu seinem Dienst bereit sein: an¬
spruchslos der angenommene und anspruchslos auch der
verworfene Mensch. Beide darum anspruchslos, weil beide
142
in ihrer Weise dem guten Willen Gottes dienen dürfen,
weil er in ihrer Weise beide braucht, beider sich bedienen
will. Auch der gehaßte Esau!
Das ist es, was nun — immer im Gedanken an die
durch ihren Ungehorsam ausgeschlossene Synagoge der
Gegenwart — an der Gestalt des schlimmsten Verfolgers
und Feindes Israels, des Pharao des Auszugs, klar ge¬
macht wird. Die Nennung dieses Namens — sie ist in
Parallele zu der widerspenstigen Synagoge der Gegen¬
wart vernichtend für diese! — zeigt: die Ausgeschlossenen
sind die Ungehorsamen. Man beachte aber, daß der
Satz nicht mit einem „Dagegen“, sondern mit einem
„Denn“ beginnt und also nicht als Gegensatz zum Voran¬
gehenden, sondern als dessen Fortsetzung und Erklärung
zu verstehen ist. Die Existenz des Pharao bzw. das
an ihn gerichtete Wort entspricht der Gerechtigkeit des
göttlidien Erbarmens ebenso wie Gottes Entscheidung dem
Mose gegenüber. Gott hat auch ihn „erwedtt, damit ich
durch dich meine Macht erweise und damit mein Name
verkündigt werde auf der ganzen Erde“. Also: auch der
Pharao dient der „Macht Gottes“, die in Röm. 1, 16 das
Evangelium, in 1. Kor. 1, 18 das Kreuz Christi, 1. Kor.
1, 24 Jesus Christus selber heißt, der Verkündigung des
Namens, d. h. der in seiner Offenbarung stattfindenden
Vergegenwärtigung Gottes selber. Er steht gut neben
Mose. An der Vollstreckung desselben barmherzigen Wil¬
lens Gottes wie dieser hat audi er Anteil. Er macht in
seinem Gegensatz zu Mose und in dieser Gemeinschaft
mit ihm klar, daß dieser Wille Gottes tatsächlich nicht an
das Beschließen und Vollbringen irgend eines Menschen,
daß alles, auch das böse menschliche Beschließen, an ihn
gebunden ist. Will Gott, indem er sich dem Mose zuwendet,
sein Erbarmen als solches, als die Macht lebendig zu ma¬
chen, offenbaren, so, indem er sich von dem Pharao ab¬
wendet, ihn verhärtet, verstockt und verschließt gegen sich
143
selber, das Andere, daß es sein Erbarmen ist, das er nie¬
mandem schuldig ist — so an ihm das Töten des Men¬
schen, ohne welches es nicht sein und darum auch nicht
wirkliches Erbarmen wäre (V. 18). So wie dort den Pharao
will Gott heute die ungehorsame Synagoge. So wie Pha¬
rao muß und wird auch sie sich als ein Werk der gött¬
lichen Barmherzigkeit verraten, das in seiner Weise nicht
geringer ist als die gehorsame Kirche.
Sollte sie wirklich Lust haben, darauf zu antworten, wie
in Vers 1 9 angegeben: „Was hat Gott uns dann vorzuhalten?
Wer widersteht dann eigentlich dem Willen Gottes?“ Sollte
ihr Ungehorsam darum, weil auch er der Barmherzigkeit
Gottes dienen muß, Gehorsam sein? Die Frage wäre unbe¬
antwortbar oder sie müßte geradezu bejaht werden, wenn
Paulus in Vers 15 f. an die formale Freiheit, an das Recht
der Gewalt Gottes appelliert hätte. Das hat er aber nicht
getan. Er hat von dem Recht seiner Barmherzigkeit ge¬
sprochen und darum stehen die Dinge nun so, wie mit der
Gegenfrage in Vers 20 ausgesprochen ist: „Oh, Mensch,
wer bist du, daß du mit Gott rechten willst?“ Du bist ja
dodi der Mensch, will Paulus sagen, der als Gegenstand
der göttlichen Barmherzigkeit gar nicht die Möglichkeit,
gar keine Stimme und gar kein Wort hat, um an Gott
auch nur die Frage zu richten: ob er ihm etwas vorzu¬
halten habe? Du bist der Mensch, der vor dem Gott steht,
der (Kap. 8, 32) seines eigenen Sohnes nicht verschont
hat, sondern hat ihn für uns alle — auch für dich —
dahingegeben. Du bist der Mensch, dem Gott darum in
der Tat nichts vorzuhalten hat, weil er alles, was ihm vor¬
zuhalten ist, seinem eigenen Sohne vorgehalten hat, dem
Gott nun nur nodi seine eigene Güte vorhält. Jawohl, du
kannst ihm nicht widerstehen, wenn er dich und deinen
Widerstand brauchen will, wie er den Pharao gebraucht.
Wie aber kannst du damit deinen Widerstand entschuldi¬
gen oder gar rechtfertigen? Du vor diesem Gott?! Daß sie
144
aus dem Schild, mit welchem Gott uns schützt, einen
Schild machen will, um uns selbst vor Gott, vor der Güte
Gottes zu schützen, das ist das zutiefst Unsinnige der Frage
inVers 19. Das Gleichnis vom Töpfer, das nun (v. 20b — 21)
folgt, wiederholt und bestätigt den Inhalt von Vers 18:
der Gott, der in Jesus Christus als dem Ursprung und Ziel
aller seiner Wege dem Menschen nichts als seine Güte
entgegenzuhalten hat, ist frei und ist berechtigt, auf die¬
sen seinen Wegen, wie sie in der Geschichte Israels wirk¬
lich und offenbar sind, Gefäße zur Ehre und Gefäße zur
Unehre zu schaffen und zu gebrauchen, d. h. Zeugen der
Erfüllung seines göttlichen Vorsatzes und Zeugen der
menschlichen Ohnmacht diesem Vorsatz gegenüber zu er¬
wecken und auf den Plan zu führen. Der Töpfer von
Jer. 18, auf den Paulus hier anspielt, ist nun einmal nicht
irgend ein allmächtiger Gott, der als solcher tun kann,
was ihm beliebt, sondern der Gott Israels, welcher als sol¬
cher mit seinem Annehmen und Verwerfen, mit den Ge¬
fäßen beider Art, tut, was recht ist, weil es der Verwirk¬
lichung und Offenbarung seiner Barmherzigkeit dient,
und welcher in dieser Absicht nicht aus einer indifferenten
Mitte heraus dieses und jenes nebeneinander tut, dem es
nicht dasselbe ist, Zeugen seines Lichtes und Zeugen der
menschlichen Finsternis auf den Plan zu führen. Weil die¬
ser Gott die Einen und die Anderen in so ganz verschie¬
dener Weise will und erweckt, weil (Ps. 30, 6) sein Zorn
einen Augenblick währt, seine Huld aber lebenslang, dar¬
um kann das Gebilde den Bildner nicht fragen: Warum
machtest du mich so? Darum hat Gott als der Töpfer die
Macht nicht nur, sondern das Recht zum Vollzug seines
Willens, seinem Handeln hier diese, dort jene Gestalt zu
geben. Daß Einer wie der Pharao jetzt nur Zeuge der
Ohnmacht aller Menschen ist, das zwingt ihn nicht, das
legitimiert ihn nicht, dies zu sein und zu bleiben, das er¬
laubt ihm nicht, das göttliche Nein, unter dem er steht,
145
gegen das göttliche Ja auszuspielen, das ihm ja gleich¬
zeitig in der Existenz der positiven Zeugen der göttlichen
Güte — das etwa dem Pharao bis zuletzt durch Mose ent¬
gegengehalten wird. Nur um des göttlichen Erbarmens
willen hat ja ein solcher negativer Zeuge die menschliche
Ohnmacht zu bezeugen. Wie sollte er, gerade als das „Ge¬
fäß der Unehre“, das er ist, seine Bestimmung anders er¬
füllen, als indem er mit den „Gefäßen zur Ehre“ zusam¬
men das göttliche Erbarmen preist, statt es anzuklagen
und sich selbst zu rechtfertigen.
Daß diese Erklärung von Vers 19 — 21 nicht nur
möglich, sondern die allein mögliche ist, zeigt die in
Vers 22 — 24 folgende paulinische Erklärung des Töpfer¬
gleichnisses. Die Verse sind folgendermaßen zu um¬
schreiben und zu übersetzen: „Wie aber wenn (es sich mit
dem rechten Verständnis dieses Gleichnisses so verhielte,
daß) Gott, indem er seinen Zorn erweisen und seine Macht
offenbaren wollte, die Gefäße des Zornes, bereitet zum
Untergang, in großer Langmut ertragen hat, zur Offen¬
barung nämlich des Reichtums seiner Herrlichkeit an den
Gefäßen seines Erbarmens, die er zur Herrlichkeit vorbe¬
reitete — als welche er auch uns berufen hat: nicht nur
aus den Juden, sondern auch aus den Heiden?“ Man be¬
merke, daß die Reihenfolge von „Erbarmen“ und „Ver-
stocken“ (v. 18) von „zur Ehre“ und „zur Unehre“ (v. 21 b)
jetzt umgekehrt und daß beide jetzt ganz ausdrücklich
miteinander in Beziehung gebracht, daß es jetzt deutlich
wird: es handelt sich um den einen Weg Gottes, auf dem
er in Erfüllung seiner einen Absicht jenes Doppelte will.
Nicht daß es Gefäße des Erbarmens gibt, ist nach Vers 23
das Ziel des einen göttlichen Weges, sondern dies: daß
Gott den Reichtum seiner Herrlichkeit an ihnen offenbaren
will. Um dieser Offenbarung willen bedarf es ihrer, bedarf
es der Gefäße des Erbarmens! Und so sagt Vers 22 nicht,
daß es Gefäße des Zornes gibt, daß Gott sie zu solchen
146
und damit zum Untergang bereitet habe, und nicht ein¬
mal das, daß er das zum Erweis seines Zornes getan habe,
sondern das sagt er in Vers 22: daß Gott diese Gefäße
seines Zornes, als solche zubereitet, in großer Langmut
getragen habe. Und das sagen die Verse 22 — 23 in ihrem
Zusammenhang: Gott trug die Einen, um durch die Ande¬
ren den Reichtum seiner Herrlichkeit zu offenbaren. Wohl
hat sein Wille auch den Charakter des Zornes. Wie sollte
er sich erbarmen über den Menschen, ohne seiner Ver¬
kehrtheit zu zürnen? Wie sollte er ihm gnädig sein, ohne
ihn zu richten? Aber eben mittels des Gerichts, in allen
jenen Gefäßen des Zornes angekündigt und auf Golgatha
vollzogen, will und wird Gott den Menschen retten. Die
Ankündigung dieses rettenden Gerichtes ist die Geschichte
Israels. Darum die lange Reihe der „Gefäße des Zornes,
bereitet zum Untergang“ im Lauf dieser Geschichte. Israel
wäre nicht Gottes, um seines Christus willen erwähltes
Volk, wenn es in seinem Bereich nicht dauernd zu solcher
Ausscheidung und Bestimmung zum Verderben käme,
wenn es nicht immer wieder solche „Gefäße des Zornes“
in seiner Mitte hätte und schließlich laut der prophetischen
Botschaft zu einem einzigen Gefäß des Zornes werden
müßte. Man darf aber über dem allem das Ziel dieses
göttlichen Gerichtes nicht aus den Augen verlieren: Gott
wird an dessen Ziel, verhüllt unter dem furchtbarsten
Nein zu dessen Opfer er in seinem Sohne sich selbst ma¬
chen wird, nicht Nein, sondern Ja sagen zu Israel und in
Israel zu allen Menschen. Von diesem Ziel her gesehen
muß die entscheidende Aussage auch über jene „Gefäße
des Zornes“ eben dahin lauten, daß Gott sie in großer
Langmut getragen, sie in den Plan seines barmherzigen
Wollens und Waltens aufgenommen und einbezogen hat.
Um des Künftigen willen, den Gott hindurchtrug durch
die Schmerzen der gerade ihn treffenden Verwerfung, trägt
er alle Verworfenen, trägt er auch den Pharao. Er trägt
147
sie ihm, diesem Künftigen, entgegen. In diesem Sinn dul¬
det er sie nicht nur, sondern will er sie, so gewiß eben
Gottes Geduld kein bloßes Zulassen, sondern eine Gestalt
seines schöpferischen mächtigen Willens ist. Das ist die
Rechtfertigung seiner Langmut gegenüber den Ungehor¬
samen. Jenseits dieses Zieles seiner Langmut steht aber die
Offenbarung des Reichtums seiner Herrlichkeit an den
Anderen, an den zur Herrlichkeit zubereiteten „Gefäßen
des Erbarmens“, welche in Vers 24 ausdrücklich mit der
aus Juden und Heiden versammelten Gemeinde der dem
Evangelium Gehorsamen gleichgesetzt werden — der Ge¬
meinde, die doch praeexistent schon in allen Erwählten
des alten Bundes versammelt ist. Der die Kirche berufen
hat, ist kein Anderer als jener Töpfer, der Gott Israels,
der auch die Gefäße des Zornes nur dazu schafft, weil
er Gefäße des Erbarmens schaffen will: damit diese nichts
anderes seien als eben Gefäße des Erbarmens, damit unter
ihnen allein die Herrlichkeit Gottes und kein Mensch ge¬
rühmt werde. Gerade in der Existenz der Kirche recht¬
fertigt also Gott jene Doppeltheit seines Handelns, recht¬
fertigt er es, daß er der Gott auch der Gottlosen ist.
Der Sinn von Vers 24 ist dieser: Wie Gott es in Israel
immer gehalten hatte, so hält er es auch heute. Er hat
uns, die Gemeinde Jesu Christi, zum Gehorsam erwählt
und berufen, wie einst Isaak, wie Jakob, wie Mose: offen¬
kundig in seinem Erbarmen und also nicht in seinem Zorn.
Aber wie ist es, wenn man näher zusieht, gerade bei uns?
Sind gerade unter uns, die wir heute Gegenstand des gött¬
lichen Erbarmens sein dürfen, nur solche, die als Kinder
Abrahams, als Juden dazu prädestiniert und befähigt
waren? Oder hat nicht gerade unter uns das Geheimnis
der göttlichen Prädestination und Befähigung sich wun¬
derbar eröffnet, so daß nun Heiden mit uns gehorsam,
mit uns des Erbarmens Gottes teilhaftig, mit uns zur
Herrlichkeit bestimmt sind: Heiden, d. h. Menschen aus
148
dem großen Bereich der Sünde, des Abfalls und des Un¬
gehorsams, aus dem Bereich der Moabiter und Philister,
der Ägypter und Assyrer, aus eben dem Bereich, in den
Gott den Ismael, den Esau und so viele andere in Israel
bis hin zu der ungläubigen Synagoge der Gegenwart
scheinbar so grausam, so ungerecht zurückgestoßen hat?
Die Existenz der Kirche, in der Juden und Heiden im
Gehorsam beieinander sind, zeigt, daß auch jener Bereich
dort draußen dem Erbarmen Gottes nicht verschlossen ist,
und so beweist die Kirche Gottes Gerechtigkeit, so beweist
sie, wie Gott es auch in Israel mit seinem Erwählen der
Einen und seinem Verwerfen der Anderen immer gemeint
hatte: er wollte wirklich durch dieses Volk in seiner Ge¬
samtheit, mit Inbegriff der Verworfenen, indem es end¬
lich und zuletzt in der Hervorbringung Jesu Christi seine
Bestimmung erfüllt, seine Barmherzigkeit gegen die ganze
Welt offenbar machen. Durch dieses Volk gegen die ganze
Welt — und so offenbar auch gegen dieses Volk selber:
Paulus hat im Blick auf die wunderbar zur Kirche ver¬
sammelten Gläubigen aus den Heiden in Vers 25 — 26 die
Worte des Hosea von dem Volk Gottes, von den Söhnen des
lebendigen Gottes angeführt, die einst „Nicht-mein-Volk
hießen, von der Geliebten, die einst die Nicht-Geliebte
war. Wem galten diese Worte ursprünglich? Dem von
Gott verworfenen und nun doch solcher Verheißung teil¬
haftigen Israel der Könige von Samarien. Gerade indem
diese Worte heute in der Berufung der Heiden zur Kirche
Jesu Christi erfüllt sind, reden sie offenbar mit neuer
Kraft auch in ihrem ursprünglichen Sinn: auch von dem
verworfenen, ungehorsamen Israel. Wie sollte Gottes Zu¬
sage, nachdem er sie überreichlich an den Verworfenen da
draußen erfüllt hat, nicht gelten auch für die Verworfe¬
nen da drinnen, an die er sie einst gerichtet hat? Und
Paulus hat in Vers 27 — 29 im Blick darauf, daß nach Vers
24 doch auch gläubige Juden zur Kirche versammelt sind,
149
zwei Jesaja-Worte angeführt. Sie reden von einem wun¬
derbar erretteten „Rest“ des von Gott abgefallenen und
seinem Gericht verfallenen Israel. Es lag in den Tagen
des Jesaja an Gottes Erbarmen ganz allein, wenn es einen
solchen Rest gab, wenn das Schicksal von Sodom und Go¬
morrha nicht auch das Schicksal von ganz Israel wurde.
Aber eben dieses Erbarmen Gottes war auf dem Plan
und so gab es damals diesen Rest! So ist es zu ver¬
stehen, wenn heute auch Juden zur Kirche versammelt
sind. Gottes Gnade und nicht ihr Verdienst hat das ge¬
schafft. Gottes Gnade wird durch ihre Existenz in der
Kirche den Anderen, den Gläubigen aus den Heiden ver¬
kündigt. Wie sollte, was ihnen gilt, daß sie allein durch
Gottes Gnade errettet sind, nicht noch viel mehr von die¬
sen Anderen, den Heiden, gelten? Aus welchem Feuer
sind erst diese herausgerissen! So ist das Ende und Ziel
der Wege Gottes wirklich durch ganz Israel: durch die
Verworfenen wie durch die Erwählten — und darum
auch für beide gültig! — in der Kirche Jesu Christi als
Gottes Erbarmen offenbar geworden. Und eben damit als
die Gerechtigkeit aller seiner Wege mit diesem ganzen
Volke! Diese offenbare Gerechtigkeit Gottes verbietet es
uns jedenfalls, gegenüber dem Phänomen des Ungehorsams
gegen das Evangelium die Trotzfragen von Vers 14, 19
und 20 fernerhin geltend zu machen.
In dem zweiten Zusammenhang Kap. 9, 30 — 10, 21
kommt nun dasselbe Phänomen unter dem Gesichtspunkt
zur Sprache, daß es sich dabei tatsächlich und offenkun¬
dig um menschliche Widersetzlichkeit gerade gegen die in
Jesus Christus erschienene Gnade Gottes handelt, die doch
schon das Geheimnis der ganzen Geschichte Israels gewesen
war. Wie furchtbar und wie tröstlich das ist, davon wird
jetzt die Rede sein. Indem Gott sich offenbart als der
Herr, der sich des Menschen annimmt in Barmherzigkeit
150
um seiner selbst willen aus freier Güte, wird es offenbar,
wer der Mensch ist, was es ist um die menschliche Schuld,
Unfähigkeit und Unwürdigkeit Gott gegenüber. Das ist
das Furchtbare und zugleich das Tröstliche des Phänomens
des Ungehorsams dem Evangelium gegenüber. Daß des
Menschen eigenes Wollen und Laufen (v. 16) ihn nur
verdammen, daß er für seine Errettung nie sich selbst,
sondern nur Gott preisen kann, nun aber Gott wirklich
preisen darf, das sollen die Gehorsamen lernen an dem
Phänomen des Ungehorsams, das lerne die Kirche aus
dem Anblick der renitenten, Jesus Christus bis auf diesen
Tag verwerfenden Synagoge.
In Vers 30 wird offenbar die Frage von Vers 14
wieder aufgenommen und nun richtig beantwortet. Wir
sollen Gottes Gerechtigkeit nicht in Zweifel ziehen —
wir haben nach dem bisher Gesagten keinen Anlaß
dazu — , sondern wir sollen uns an das halten, was in
der Kirche Jesu Christi Ereignis geworden ist: Da sind
Heiden, die diese Gerechtigkeit Gottes, seinen barm¬
herzigen Willen faktisch begriffen und ergriffen haben,
ohne daß ihr Wollen und Laufen sie dahin geführt
hätte. Es geschah einfach. Es war eine Totenerweckung:
sie glaubten an sie und damit ist sie ihnen zugute ge¬
kommen. Das ist der Gehorsam der Gehorsamen. Dem steht
(v. 31) gegenüber Israels bis heute fortgesetzter Versuch,
das Gesetz der Gerechtigkeit, d. h. die Israel als dem Volk
der Verheißung und des Bundes gegebene Lebensordnung,
durch sein Wollen und Laufen, kraft seiner Entschlüsse
und Leistungen zu erfüllen: mit dem Resultat, daß es
eben damit nicht nur Gottes Gerechtigkeit nicht ergriff und
begriff, sondern auch das Gesetz, die ihm gegebene Lebens¬
ordnung faktisch nicht erfüllte. Ihm fehlt alles das nicht,
was jenen Heiden fehlte. Ihm fehlt aber nach Vers 32 a
dieses und damit das Entscheidende, daß es wollte und
lief, um dem Gesetz durch eigene Erfüllung seiner Werke
151
Genüge zu tun, statt im Glauben an die ihm gegebene
Verheißung, die der Sinn des Gesetzes ist, das Werk aller
Werke zu leisten, nämlich zu glauben an das, was Gott
mit ihm wollte. Indem ihm dies fehlte, hat es das Gesetz
übertreten, gerade indem es das Gesetz erfüllen wollte.
Es stolperte nach Vers 32 b — 33 an dem Stein, es zer¬
schellte an dem Felsen, auf dem es stehen sollte, an Gottes
Erbarmungswillen, der ihm damit, daß es ihm nicht Glau¬
ben schenkte und so Gehorsam bewies, zum Verderben
werden mußte. Es wurde gerade an dem ihm von Gott
zubereiteten Heil zu Schanden. Das ist es, was das mensch¬
liche Wollen und Laufen als solches, auch unter den
besten von Gott selbst vorgegebenen Bedingungen, ja ge¬
rade dann fertig bringt: sein Werk ist das verderbliche
Werk des Unglaubens. Gottes im Glauben ergriffenes Er¬
barmen allein könnte Gott und Menschen Zusammen¬
halten und so die Menschen retten. So steht das Erbar¬
men Gottes ganz allein den Menschen gegenüber: ihre
Anklage, aber auch ihre Hoffnung, so gewiß es eben die
Gerechtigkeit seines Richters ist.
Wie wenig Paulus daran denkt, das in seinem Un¬
glauben ungehorsame Israel fallen zu lassen, zeigt
Kap. 10, 1, wo er die Erklärung von Kap. 9, 1 — 5
wiederholt: daß er auch und gerade als Apostel der
Kirche der mit seinem ganzen Wünschen und Beten
diesen Ungehorsamen zugewendete Prophet Israels ist
und bleiben will. Paulus würde das nicht tun, wenn
er sich nicht bewußt wäre, eben damit das dem Ratschluß
und Willen Gottes selbst (v. 22!) Entsprechende zu tun.
Und nun bemerke man, daß Paulus diesen Ungehorsamen
(v. 2) durchaus zubilligt, daß sie den „Eifer um Gott“
haben, daß er ihren Ungehorsam also nicht etwa als eine
„falsche Willensrichtung“ und dergleichen, daß er ihren
Eifer nicht als gegenstandslos und nichtig, sondern als
Eifer um den wahren Gott ansicht und beurteilt, daß er
152
also auch die Ungehorsamen als solche sieht, welche in
ihrer Weise die ihnen gegebene Verheißung bzw. den in
Jesus Christus erfüllten Bund Gottes bestätigen müssen.
Ihr Eifer ist aber darin ungehorsam, daß er eben Gottes
Verheißung nicht als solche erkennt und nicht dementspre¬
chend mit ihr umgeht. Gerade auf Gott gerichtet, gerade
im Widerspruch zu diesem seinem Gegenstand, ist ihr Wille
(v. 3) ein verdrehter und verkehrter, ein dummer Wille.
Sie erkennen nämlich Gottes Gerechtigkeit nicht: nicht als
die Gerechtigkeit seines Erbarmens. Sie erkennen Gott
nicht als den für sie Wollenden und Handelnden. Sie sind
unwillig, sich das Eintreten Gottes für sie gefallen zu las¬
sen. Sie suchen statt dessen „ihre eigene Gerechtigkeit
aufzurichten“, d. h. sich selbst als solche zu betätigen und
zu bewähren, die der Verheißung würdig sind, die also
auf deren Erfüllung Anspruch haben. Eben das ist ihre
Rebellion, ihr Ungehorsam gegen Gottes Gerechtigkeit.
Denn die ihnen gegebene und bekannte Verheißung des
Gottes Abrahams, Isaaks und Jakobs wartet auf ihren
Glauben. Fehlt der Glaube, dann ist auch sein Gesetz ge¬
brochen bei allem Eifer um dessen Erfüllung und gerade
durch diesen Eifer. Indem sie, die die Verheißung haben,
nicht glauben, wird, was Sünde ist, gerade an ihnen offen¬
bar. Es braucht Gottes Erwählung und Berufung, es
braucht die ganze, gerade Israel zugewendete Gnade Got¬
tes, dazu, damit dies geschehe, damit es zu diesem echten,
rechten, eigentlichen Ungehorsam komme.
Der Beweis dafür wird in Vers 4 — 13 zunächst in der
Weise geführt, daß gezeigt wird: Israel ist das Volk, dessen
Verheißung von Anfang an Jesus Christus war, so daß die
Ordnung, das Gesetz, unter der es lebte, von Anfang an nur
das Gesetz des Glaubens („Das Gesetz des Geistes des Le¬
bens“ von Kap. 8, 2!) sein konnte. Indem es statt zu glau¬
ben, seine eigene Gerechtigkeit aufzurichten strebte, mußte
es Jesus Christus verwerfen. Und indem es Jesus Christus
153
verwarf, mußte es offenbar machen, daß es in seinem Stre¬
ben nach der Aufrichtung eigener Gerechtigkeit den Glau¬
ben verfehlt und damit das ihm gegebene Gesetz ge¬
brochen hat, muß gerade es den Menschen als Rebellen
gegen Gottes Gerechtigkeit und damit seine völlige Be¬
dürftigkeit dieser Gerechtigkeit und also dem Erbarmen
Gottes gegenüber offenbar machen. Es heißt nämlich in
Vers 4 nicht, daß Christus das „Ende“, sondern daß er das
Ziel“, Inhalt, die Substanz, die Summe des Gesetzes, sein
Sinn und zugleich der Weg zu seiner Erfüllung sei. Paulus
hat sich schon im bisherigen Römerbrief (Kap. 3, 31; 7,
12) im Einklang mit Matth. 5, 17 deutlich genug darüber
erklärt, daß er das Gesetz des Alten Testamentes durch
Jesus Christus wahrhaftig nicht für antiquiert und ab¬
geschafft, sondern eben für erfüllt angesehen hat. Er wird
auch gleich nachher mit keinem Wort gegen das Gesetz —
als wäre es zu Ende — , sondern aus und mit dem Gesetz
argumentieren, dessen Inhalt und ewige Gültigkeit in
Jesus Christus erst recht offenbar geworden ist, nachdem
er von Anfang an sein Inhalt und seine Kraft gewesen
war. An Christus glauben, heißt dem Gesetz Gottes ge¬
horsam sein. Und hier sagt Paulus nun in der umge¬
kehrten Richtung: unter dem Gesetz Gottes stehen, wie
es Israels besonderer Fall ist, dem Gesetz gehorchen, wie
es gerade von ihm erwartet ist, heißt an Christus glauben
als an das Ein und Alles des Gesetzes als an dessen
Sinn und Erfüllung. Eben darin hat Israel versagt und
eben daran, an dem gerade ihm von Anfang an gegebenen
Worte Gottes, an dem in Zion selbst gelegten Eckstein
(Kap. 9, 32 f.) ist es zuschanden geworden. Eben darum
ist sein Mangel an Erkenntnis (v. 2 — 3), ist seine Dumm¬
heit Sünde, Ungehorsam. Der Mensch, von dem Mose
(v. 5) sagt, daß er in Erfüllung des Gesetzes leben wird,
der Mensch also, den das Gesetz meint und will, ist eben
Christus: er wird das Gesetz in seinem Tode erfüllen
154
und von den Toten auferweckt, leben. Und darum ist Vers
6 nicht als Protest gegen den Inhalt von Vers 5 oder als
dessen Widerlegung zu verstehen. Denn die „Gerechtigkeit
des Glaubens“, die da wie eine Person redend eingeführt
wird, ist noch einmal Christus: seine Stimme hört der,
der Mose recht hört; wer ihn aber hört, hört unweiger¬
lich den Ruf zum Glauben an ihn, um in diesem Glau¬
ben an seiner Erfüllung des Gesetzes und so auch an
seinem Leben, an seinem Tod und an seiner Auferstehung
als an dem Werk der göttlichen Barmherzigkeit Anteil zu
bekommen. Alles, was in Vers 6 f. zu lesen ist, ist eine
einzige Aufforderung nicht zur Mißachtung, sondern zu
dieser Teilnahme an der Erfüllung des Gesetzes. Eben
darum hat Paulus hier in lauter Mose-Worten weiter¬
geredet. Es ist Israel durch sein Gesetz, nämlich durch
den, der seines Gesetzes Sinn und Erfüllung ist, durch die
unüberhörbare Stimme der Glaubensgerechtigkeit in sei¬
nem Gesetz, verboten, die Erfüllung der ihm gegebenen
Verheißung: seinen Messias und seine Errettung durch
eigenes Bemühen aus dem Himmel herunter oder aus der
Unterwelt heraufholen zu wollen. Solches himmel- und
höllenstürmende Denken und Tun ist durch das Gesetz als
Sünde verworfen und unmöglich gemacht. Gerade die
wirkliche Erfüllung der Israel gegebenen Verheißung
kann durch solches Denken und Tun nur verkannt und
versäumt werden, wie es Jesus Christus durch das in die¬
sem Denken und Tun begriffene Israel tatsächlich wider¬
fahren ist. Indem jene Stimme redet, indem Jesus Chri¬
stus sich selbst in Israels Gesetz anzeigt, ergibt sich als die
eine von ihm zu erfüllende Forderung dies: es soll das
tun, was sich nachträglich daraus ergibt, daß ihm (v. 8a)
das Wort, indem es sein eigenes Gesetz, das Gesetz des
Mose, liest, nahe, daß es schon in seinem Mund, schon in
seinem Herzen ist. Welches Wort? Eben das „Wort des
Glaubens“ (v. 8b), eben das Evangelium, das wir, die
155
Apostel, die ganze Kirche jetzt der Welt und so auch
Israel verkündigen. Und was ist dieses Nachträgliche, das
zu tun ist? Wir hören es in Vers 9: es geht darum, daß
der Mund bekenne, was das Herz glaube. Was bekenne
und glaube? Eben das, was im Gesetz zu lesen ist, eben
den, der aus dem Gesetz zu seinen Lesern redet, eben ihn,
den Inhalt des christlichen Tauf- und Glaubensbekennt¬
nisses: eben seine Erfüllung des Gesetzes und eben sein Le¬
ben als das Leben dessen, den Gott von den Toten erweckt
hat. Zur Erfüllung dieser einen Forderung wollen alle
Gebote des Gesetzes seines Leser anlciten, dazu ihnen
helfen und dienlich sein. Das wollen die Zehn Gebote
von ihnen, das das ganze Heiligkeits- und Opfergesetz.
Daran hängt alles, was es dem Menschen verheißt als seine
Errettung, als seine Befreiung von der Schande unter der
Bedingung, daß er ihm gehorsam sei. (v 10 — 11). Der
Gehorsam ist der Glaube. Indem Israel nicht glaubt, eben
an den nicht glaubt, der doch im Gesetz sich selber an¬
zeigt, der dem Leser des Gesetzes das Bekenntnis zu ihm
in den Mund und den Glauben an ihn ins Herz legt —
indem es das unterläßt, ja empört von sich weist, ist es
dem Gesetz, ist es seinem Gott ungehorsam, ist es ein
sündiges Volk. Wenn die Synagoge heute aus dem Munde
der Kirche jenes Tauf- und Glaubensbekenntnis ver¬
nimmt, dann sollte sie sich gerade nicht auf ihr Gesetz
berufen, das ihr verbiete, in einem Geschöpf den Schöpfer,
in einem Menschen den Herrn über Alle und Alles an¬
zurufen und anzubeten. „Es ist hier kein Unterschied zwi¬
schen den Juden und den Hellenen“. Was der Jude jetzt
aus dem Munde so manches Hellenen vernimmt, das geht
auch ihn, ja das geht ihn zuerst an, das müßte, wäre
er gerade dem ihm besonders gegebenen Gesetz wirklich
gehorsam, gerade sein Glaube und sein Bekenntnis sein:
Ein Herr ist wirklich über Allem und Allen und eben der
Mensch Jesus ist dieser Herr — als Vollstrecker der
156
Barmherzigkeit und so der Gerechtigkeit Gottes reich über
Allen und für Alle, die ihn als solchen anrufen. Und ihm
gegenüber sind Alle arm, auf seinen Reichtum sind Alle
angewiesen: die Heiden nicht weniger als die Juden, aber
auch die Juden nicht weniger als die Heiden. Es besteht
die Ehrung des Schöpfers durch das Geschöpf, es besteht
aber auch die Errettung des Geschöpfes durch seinen
Schöpfer für alle Welt darin, daß Jesus als der Herr an¬
gerufen wird. Der Jude müßte das nicht nur auch wissen
daraufhin, daß es ihm wie den Heiden durch das christ¬
liche Bekenntnis verkündigt wird. Er müßte es zuerst wis¬
sen. Er müßte es als Jude sozusagen von Haus aus und
von sich aus wissen. So hat sich die Anklage gegen den jü¬
dischen Ungehorsam dem Evangelium gegenüber, Vers
9 — 13, ohne daß sie besonders wiederholt wird, verschärft.
„Jeder, der an ihn glaubt, wird nicht zuschanden wer¬
den“ (v. 11), „Jeder, der den Namen des Herrn anrufen
wird, wird gerettet werden“ (v. 13). Das sagt die Schrift
gerade dem Juden, gerade der Synagoge, in der sie so eif¬
rig gelesen wird. Sie sagt eben damit, daß Jeder, der nicht
glaubt, zuschanden wird, daß Jeder, der diese Anrufung
versäumt, verloren geht.
Aber noch hat Paulus die Schlußfolgerung nicht aus¬
drücklich gezogen. Er antwortet in Vers 14 f. auf eine
Frage, die man von Kap. 9, 30 ab als in der Luft liegend
empfinden kann: ob denn die behauptete, notwendige
Verpflichtung der Juden zum Glauben und zum Be¬
kenntnis Jesus Christus gegenüber und damit die Un¬
entschuldbarkeit ihres Ungehorsams wirklich feststehe?
„Wie sollen sie den anrufen (zu dem sich als Herrn
bekennen), dem gegenüber sie nicht zum Glauben ge¬
kommen sind?“ (v. 14a). Daß die Leser des Mose zu
diesem Glauben und von da zu diesem Bekenntnis kom¬
men können, das hängt daran, daß sie den, von dem
Mose redet, hören können: „Wie sollen sie an den glau-
157
ben, den sie nicht gehört haben?“ (v. 14b). Haben sie ihn
denn gehört, indem sie Mose gelesen haben? War da seine
Stimme wirklich laut? War da Erklärung, Auslegung,
Verkündigung? „Wie sollten sie ihn hören ohne Verkün¬
diger?“ (v. 14c). Ist ihnen das Geschriebene wirklich zum
Geredeten, zur Botschaft geworden? So daß sie selbst zu
Hörern, zu wirklichen Hörern und also, außerstande sich
dem Gehörten zu entziehen, gehorsam werden mußten?
Soll es aber gelten, daß das Alles der Fall ist bei den
Juden, daß sie also nach Vers 4 — 13 dabei zu behaften
sind, daß sie glauben und bekennen müßten, dann mußte
die Verkündigung, die ihnen tatsächlich widerfahren, statt¬
gefunden haben im Auftrag, in der Sendung und in der
Vollmacht dessen, der der Herr der Schrift ist und als
solcher durch die Schrift verpflichtend mit ihnen reden
will. „Wie sollte ihn verkündigen, wer dazu nicht gesendet
wäre?“ (v. 15a). Scheinbar fragt Paulus nur in Vers
14 — 15a. Es klingt wie eine Entschuldigung des Synagogen¬
juden. Ist dieser wirklich verpflichtet zum Glauben und
zum Bekenntnis, ist er wirklich unentschuldbar ungehor¬
sam, weil alle jene Bedingungen zum Gehorsam erfüllt
sind? In Wirklichkeit hat Paulus mit jener ganzen Reihe
von Fragen doch auch schon Antwort gegeben: Ja, ist seine
Meinung, jene Bedingungen sind erfüllt und so ist der
Jude verpflichtet, so wirklich unentschuldbar ungehorsam.
Daß er es so meint, zeigt in Vers 15b das Zitat aus Jesaia
52: „Wie lieblich sind die Füße derer, die das Evangelium
als das Gute verkündigen!“ Eben die Schrift selbst, der
Prophet Jesaia jetzt, weissagt wie die Notwendigkeit des
Glaubens (v. 11) und des Bekenntnisses (v. 13) so auch
die Wirklichkeit vollmächtiger Botschaft, die die Schrift
erklärt, die sie laut zur Sprache und bindend zu Gehör
bringt. Die Juden mußten auch von dieser Wirklichkeit
schon als Juden und insofern von Haus aus wissen. Vers
15b ist also kein erbauliches Ornament, sondern gerade
158
hier hat Paulus das Entscheidende gesagt. Er hat näm¬
lich in diesem unentbehrlichen Glied seines in Vers 14 be¬
gonnenen Gedankens vom Apostolat der Kirche, und also
von seinem eigenen Amt geredet. Er beweist das, was er
von der Verpflichtung und Unentschuldbarkeit der Juden
sagen will, in diesem letzten Glied seines Beweises mit
seiner eigenen Existenz als Vertreter der auf Sendung be¬
ruhenden, von dem auferstandenen Jesus Christus her¬
kommenden, befohlenen, ins Leben gerufenen, autorisier¬
ten und legitimierten Verkündigung. Er beweist die Er¬
füllung dieses letzten Teiles der alttestamentlichen Weis¬
sagung, indem er ihr entsprechend da ist und handelt.
Er ist in seiner Person oder vielmehr als Träger seines
Amtes die positive Antwort auf die Frage, ob die Juden
glauben und bekennen können. Sie können es, sie sind
also dazu verpflichtet, so gewiß sie nicht leugnen können,
der Erfüllung jener Verheißung von den Boten, die das
Evangelium als das Gute verkündigen, ansichtig zu sein.
Da steht er selber, ein Jude wie sie, die lebendige Er¬
füllung jener Verheißung. Und nun können sie nicht mehr
sagen, daß jene Bedingungen nicht sämtlich erfüllt seien.
So ist nun der Weg frei zu dem Satz, der gewissermaßen
die nüchterne Tatsadie ausspricht, um die diese ganzen
drei Kapitel kreisen: „Aber nicht alle gehorchten dem
Evangelium“ (v. 16a). Daß sie dem Wort der Schrift und
damit Gott in unentschuldbarer Weise nicht gehorchen, das
ist darin furchtbare Wirklichkeit, daß sie — indem sie sich
ausnehmen von den „Allen“ in Vers 11 und Vers 13 —
dem Evangelium nidit gehordien. Das Evangelium ist
auch zu ihnen, gerade zu ihnen gekommen, nicht nur
gesdirieben in der Schrift, sondern geredet und von ihnen
gehört, nicht nur in Worten, sondern in Kraft, als Ver¬
kündigung, getragen und ausgewiesen durch die Sendung
seiner Verkündiger. Der Vorwand, daß man nicht glauben
und bekennen könne, ist unmöglich gemacht. So ist ihre
159
Verweigerung des Glaubens und des Bekenntnisses kein
Mißgeschick, kein Schicksal, sondern eben: Gesetzesüber¬
tretung, Ungehorsam. Aber Paulus will auch diese Fest¬
stellung nicht anders gemacht haben als so, daß der Syna¬
gogenjude sie von seinen eigenen Voraussetzungen aus
als legitim anerkennen muß. Darum in Vers 16b — 17 das
Jesaiazitat und dessen Erklärung. Auch jene Schlußfolge¬
rung in Vers 16a ist von der Schrift selbst schon gezogen.
Es ist auch das Weissagung, daß eben die Boten, die die
gute Nachricht von der Erfüllung aller Weissagung brin¬
gen, auf Unglauben stoßen werden. Es war schon einmal
so, daß eben der autorisierte und legitimierte Bringer der
Botschaft von dem für seine Brüder leidenden Gottes¬
knecht sich endlich und zuletzt nur Gott zuwenden
konnte, der ihn gesandt, um ihn zu fragen: Wozu
hast du mich eigentlich gesandt? „Herr, wer hat unserer
Kunde Glauben geschenkt?<c Es war schon einmal so,
daß der Prophet und nicht nur der Prophet, sondern
Gott selbst und seine Sache ganz einsam war seinem
Volk gegenüber. „Der Glaube kommt aus der Kunde, so
gewiß die Kunde geschieht durch das Evangelium“ (v. 17).
Was der Prophet und was heute der Apostel verkündigt,
das hat (wie die Worte des Mose) seine Macht von seinem
Gegenstände her; sie ist die Macht seines Auftraggebers
und Ursprungs, des Gottesknechtes selber, und darum ist
sie notwendig bewegender Grund zum Glauben. Darum
ist der Unglaube ihm gegenüber unmöglich, darum ist die
Haltung der ungläubigen Hörer seines Wortes das in sich
Unmögliche, der Ungehorsam, der sich nicht dem Propheten,
nicht dem Apostel, sondern der sich Gott selbst widersetzt.
Zu dem, was in dieser Haltung geschieht, kann also nur
Gott selbst das lösende Wort sagen. Sein erbarmendes Ein¬
greifen hat in dieser Situation schon der Prophet mit jener
Klage angerufen. Wer glaubt? Vom Menschen her ge¬
sehen und gesagt: Niemand! Der wird glauben, den
160
Gottes Erbarmen aus dem allgemeinen Unglauben auf-
rufen und erwecken wird — keiner vorher und keiner
sonst. Auch das, daß der Apostel jetzt wieder so klagen
muß wie einst der Prophet, muß so sein, wenn die Schrift
erfüllt, wenn der Apostolat wirklich als die Erfüllung
der prophetischen Weissagung sich erweisen soll. Es gehört
also auch die offenkundige Schuld der in der Synagoge
gegen die Kirche streitenden Judenschaft in ihrer Weise
zur Erfüllung der Weissagung, aber damit in ihrer gan¬
zen Furchtbarkeit auch zur Bestätigung der Erwählung
des ganzen Israel. Eben dieses dem Evangelium ungehor¬
same Volk ist Gottes erwähltes, zur Hervorbringung Jesu
Christi, des Herrn über Alle und Alles, bestimmtes Volk.
„Aber, sage ich, haben sie etwa nicht gehört?“ (v. 18). Das
ist keine bloße Wiederholung, obwohl diese Frage schon
in Vers 14 — 15 gestellt und beantwortet scheint. Die Ant¬
wort in Vers 18 zeigt doch, daß unter „Hören“ hier noch
etwas Anderes verstanden ist als dort. Die Frage lautet
hier: ob sich eine Entschuldigung des jüdischen Ungehor¬
sams vielleicht in letzter Stunde aus dem Umstand er¬
geben sollte, daß die lebendige Auslegung des Gesetzes
durch den, von dem das Gesetz redet, sie rein praktisch
und äußerlich nicht erreicht habe. Die mit dem Zitat aus
Ps. 19 gegebene Antwort zeigt zunächst, daß es nicht nur
möglich, sondern notwendig ist, bei der Erklärung des Be¬
griffs der Sendung (v. 15) nicht nur im allgemeinen an
den Apostolat der Kirche, sondern im besonderen an das
Apostelamt des Paulus zu denken. Denn die Antwort in
Vers 18 redet ja nicht etwa davon, daß es, wie Gal. 2 es
ausdrückt, einen besonderen „Apostolat der Beschneidung“,
die dem Petrus und den anderen Uraposteln übertragene
„Judenmission“ gab, durch welche den Juden das Evan¬
gelium nahegebracht wurde, so daß sie es sehr wohl hören
könnten. Sonder das sagt Paulus mit dem Psalmwort
von dem über die ganze Erde ausgegangenen Schall: daß,
161
was alle gehört haben, die Juden auch gehört haben müs¬
sen. Er bezieht sich also gerade auf sein besonderes Amt
als Heidenapostel, in welchem er trotz jener Arbeitsteilung
die eigentliche Beziehung zwischen dem auferstandenen
Christus und der Welt und in welchem er die Verkündi¬
gung an die Juden eingeschlossen gesehen hat: als die
notwendige und praktisch sogar erste Rückwirkung des
Vollzugs jener Beziehung. Und man wird hier weiter dar¬
an denken müssen, daß für Paulus alle Mission nur die
menschliche und gewissermaßen indirekte Anzeige dessen
war, was am Kreuz auf Golgatha allererst objektiv für
die ganze Welt geschehen und durch Jesu Auferstehung
von den Toten allererst objektiv der ganzen Welt bekannt
gemacht ist. Von der Souveränität des in Vers 17 erwähn¬
ten Wortes Christi her weiß er, daß die ganze Welt es ver¬
nommen hat und sagt er nun auch der Judenschaft auf
den Kopf zu, daß auch sie es tatsächlich gehört hat, weil
sie mit dem ganzen übrigen Kosmos objektiv damit kon¬
frontiert worden ist.
In Vers 19 — 20 wird eine zweite Ergänzungsfrage
gestellt und beantwortet. Sie kommt in der Reihe Vers
14 — 15 nicht vor und lautet: „Aber, sage ich, hat
Israel etwa nicht verstanden?“ Wir denken an Vers
2 — 3. Was ist es mit jenem Nichterkennen der Gerechtig¬
keit Gottes? Was dort gesagt wird, wird hier nicht zurück¬
genommen. Sondern das hören wir hier: sie haben ver¬
stehend nicht verstanden, wie sie nach Vers 18 hörend
nicht gehört haben. Beweis: das, was unterdessen im Zu¬
sammenhang mit der Verkündigung des Evangeliums in
der Heidenwelt vor sich gegangen ist. Man bemerke, daß
Paulus nicht etwa darüber diskutiert, ob das Evangelium
eine verständliche Sache sei. Die Antwort von Vers 19 — 20
setzt vielmehr voraus, daß das Evangelium dem Menschen
gar keine verständliche Sache ist. Sondern von einem un-
162
verständigen, Gott nicht suchenden, nach ihm nicht fragen¬
den Volk ist ja in dieser Antwort die Rede: von einem
Volk, durch das Gott sich kraft des durch den ganzen
Kosmos gehenden Schall seines Wortes finden ließ und
mit dessen Existenz er darum Israel Anlaß zur Eifersucht
geboten hat. Unverständige verstehen! Gott nicht Suchende
finden ihn, das ist es, was in der Berufung und Bekeh¬
rung der Heiden zur Kirche Ereignis geworden ist. Ihr
Glaube, ihre Existenz in der Kirche ist der Beweis dafür,
daß sie verstanden haben. Können nun die Juden noch
geltend machen, daß sie nicht verstehen können? Sind die
Juden nicht erwählt und bestimmt dazu, das verständige,
das Gott suchende und nach ihm fragende Volk zu sein?
Geschieht das nicht, so kann das gerade bei ihnen nicht
daran liegen, daß sie das nicht können. Sie könnten wohl,
aber sie wollen und tun es nicht. Man beachte, wie hier
wieder die apostolische Arbeit, das Leben des im Auftrag
seines Herrn in die Heidenwelt hinausgesandtenBoten der
Ort ist, von dem aus argumentiert, wie aber eben dieses
Argument auch hier in der Form des Schriftbeweises und
nicht etwa in der naheliegenden Form des Berichtes von
allerhand paulinischen Missionserfahrungen vorgebracht
wird. Das ist keine Schrulle schriftgelehrter Gesetzlichkeit,
sondern das geschieht darum, weil Paulus mit Allem, was
er in diesem Kapitel gesagt hat und so auch mit diesem
letzten die Erwählung und Berufung von ganz Israel
nicht bestreiten, sondern angesichts seins Ungehorsams be¬
haupten will: seine Erwählung und Berufung durch den
Gott, der sein, dieses ungehorsamen Volkes Erbarmer ist.
Gerade um dieses Ziel aller seiner Gedanken festzuhalten,
durfte Paulus das Geländer des Schriftwortes keinen
Augenblick loslassen. Es ist also gerade der scheinbare
Rabbinismus dieses Kapitels, der ihm, dem furchtbaren
Satz, den er ausspricht, zum Trotz, seinen besonders
evangelischen Charakter gibt.
163
Vers 21 setzt in diesem Sinn den Schlußstrich unter das
Ganze. Nicht das schuldhafte Nichthören und Nichtver¬
stehen und also nicht der Ungehorsam der Juden ist das
Faktum, an das die Kirche sich endlich und zuletzt halten
soll, sondern das, was Gott den Juden gegenüber von jeher
„den ganzen Tag lang“ getan hat: eben nach diesem Volk
hat er nämlich seine Hände ausgestreckt, eben ihm gegen¬
über wurde er nicht müde, sich ihm zuzuwenden, sich zu
ihm herniederzulassen, sich selbst ihm anzubieten. Deut¬
licher und schärfer kann seine Schuld nicht festgestellt und
deutlicher und tröstlicher kann nicht von dem geredet wer¬
den, an dem es schuldig geworden ist und der es zum Ge¬
genstand seines Erbarmens gemacht — der es als solches
nicht fallen gelassen hat, weil sein Erbarmen größer ist als
seine und als alle menschliche Schuld.
Der dritte Zusammenhang: Kap. 11, 1 — 36 steht unter
dem Zeichen der Frage in Vers 1 „Hat Gott sein Volk
verstoßen?“ und ihrer kategorischen Beantwortung in
Vers 2 „Gott hat sein Volk, das er zuvor ersehen hat,
nicht verstoßen“. Man kann die Frage in Vers 1 als eine
Fortsetzung der Fragenreihe in Kap. 10, 18 und 19 auf¬
fassen: Sollte der Grund der Verweigerung des Glaubens
und des Bekenntnisses durch die Juden darin zu suchen
sein, daß Gott auf die Kreuzigung Jesu Christi damit
geantwortet hat, daß er seinen Willen dem Volk Israel
gegenüber verändert, seine ihm gegebene Verheißung zu¬
rückgezogen und sich nun ausschließlich den Heiden zu¬
gewendet hat, denen ja Jesus Christus von den Juden
selbst damals ausgeliefert worden ist? Sind sie darum
ungehorsam, weil Gott gar keinen Gehorsam mehr von
ihnen fordert, weil sie bei Gott überhaupt keine Zukunft
mehr haben? Die Frage ist sicher schon in Kap. 10, 21
indirekt mit aller Entschiedenheit dahin beantwortet wor¬
den, daß das nicht in Betracht komme. Aber eben das soll
164
nun im elften Kapitel auch noch direkt und ausdrücklich
gesagt und begründet werden.
Paulus antwortet zunächst mit dem Hinweis auf sich
selber: „Auch ich bin ein Israelit, aus dem Samen Abrahams,
vom Stamme Benjamin“ — also wie Jeremia gerade von
diesem nach Rieht. 20 — 21 einst beinahe der Vernichtung
verfallenen und dann doch davor bewahrten Stamme: dem
Stamme des von Gott verworfenen Königs Saul — gerade
er, der sich als Verfolger der Gemeinde an der Kreuzigung
Christi nachträglich bewußt und in eigener Person mit¬
schuldig gemacht hatte — gerade er, der an dem in Kap. 10
beschriebenen Ungehorsam Israels vollsten Anteil hatte:
gerade er erwies sich, berufen durch den auferstandenen
Jesus Christus selber, nun dennoch als erwählt: als erwählt
zum Träger des Apostelamtes, zum Heidenapostel. Wie
könnte er zugeben, daß Gott sein Volk Israel verstoßen
habe? Ist er nicht der lebendige Gegenbeweis, der Beweis
für die Treue des göttlichen Erbarmens diesem Volke ge¬
genüber? Ist er nicht selber eine Erfüllung des Wortes in
Ps. 94, 14: „Gott hat sein Volk nicht verstoßen“? Wie
sollte gerade er die Erfüllung dieses Wortes nicht auch
im Blick auf die anderen Ungehorsamen dieses Volkes
allen Ernstes erwarten? Oder sollte die Existenz eines Ein¬
zelnen für das Ganze dieses Volkes nicht beweisend sein?
Auf diese Frage wird offenbar in Vers 2b — 4 geantwortet
mit der Erinnerung an Elia, den Propheten des abgefalle¬
nen nördlichen Israel in den schlimmsten Tagen (den Ta¬
gen des Ahab und der Isebeel!) — an die Klage, mit der
jener Einsame (ganz ähnlich wie der in Kap. 10, 16 er¬
wähnte Prophet) sich an Gott wandte, aber auch an den
Gottesspruch, der ihm zur Antwort wurde, der die Klage
und Anklage des Propheten wohl bestätigte und der ihm
nun dodi auf die 7000 Nicht-Gleichgeschalteten aufmerk¬
sam machte, welche keine irrevelante Minderheit, sondern
165
gerade im Gegensatz zu der Mehrheit des damaligen
Israel in Gottes Augen das ganze Israel, Israel als solches
waren: von Gott für sich selbst bewahrt, inmitten des all¬
gemeinen Abfalls. Wie dort Elia keine die Regel bestä¬
tigende Ausnahme ist, keine Schwalbe, die noch keinen
Sommer macht, so ist es auch Paulus nicht! So ist auch
jetzt ein durch die Wahl der Gnade ausgesonderter Rest
vorhanden: „Wenn aber durch Gnade, dann nicht auf
Grund der Werke, sonst wäre ja die Gnade nicht Gnade“
(v. 5 — 6). Das ist die Anwendung des Gottesspruches auf
die Gegenwart: Paulus denkt an die mit ihm aus Israel
hervorgegangenen anderen Apostel, an die 3000 vom
Pfingsttag in Jerusalem und an die Tausende, die später
mit ihnen zum Glauben kamen. Er denkt an alle die aus
den Synagogen der anderen Mittelmeerländer, denen er
selbst das Evangelium nicht umsonst verkündigt hatte.
Die Worte, in denen Paulus diese Anwendung vollzieht,
unterstreichen nun aber in jenem Gottesspruch dies, daß
es sich bei jenen 7000 nicht um ein löbliches Fähnlein
der 7 Aufrechten, sondern um Gottes Erwählte, um die
von Gott für sich übrig Behaltenen und so um das ganze
Israel gehandelt habe. Indem ganz Israel als solches durch
Gottes freie Gnade erwählt war und in Bestätigung die¬
ser ewigen Grundbestimmung Israels kam und kommt es
nun auch in der Zeit, nun auch innerhalb Israels immer
wieder zu solcher freien Gnadenwahl: ihr Werk ist die
Existenz der 7000 Aufrechten, an denen es in diesem
Volke auch in seinem tiefsten Abfall und unter den
schwersten Gottesgerichten, die es deshalb trafen, nie ge¬
fehlt hat und in denen, um derentwillen ganz Israel als
das erwählte Volk trotz allem weiter leben durfte. Nicht
ihre Standfestigkeit und Wehrhaftigkeit macht sie der
Gnadenwahl Gottes würdig, sondern Gottes Gnadenwahl
macht sie dessen würdig, standfest und wehrhaft, das er¬
wählte Israel in seiner Gesamtheit darzustellen. So erwidert
166
Gott nicht Gunst mit Gunst, indem er sie für sich übrig
behält, sondern er handelt an ihnen wie einst an Abra¬
ham. Und das eben ist das Köstliche, dessen sie, dessen
der „Rest“ — und dessen im Blick auf ihn alle Israeli¬
ten sich rühmen dürfen: der Rest als solcher ist der Beweis
dafür, daß Gott nicht aufgehört hat, so an Israel zu han¬
deln, wie er es von Anfang an getan hat: auf Grund und
nach Maßgabe seines Erbarmens und nicht im Blick auf
die menschlichen Werke — auf Grund seiner ganz freien
und eben darum ganz mächtigen Gnade. Indem Gott im¬
mer wieder so an ihm handelt, ist Jesus Christus als der,
für den das ganze Israel bestimmt ist, dem ganzen Israel
immer wieder gegenwärtig und sichtbar. Indem Gott so an
Israel handelt, gibt es immer — gab es damals und gibt
es heute — Kirche auch aus und in Israel und eben in
ihr lebte heimlich immer — lebte damals und lebt heute
— das ganze Israel. Der durch Gnadenwahl bewahrte
Rest Israels ist vor Gott als solcher, wie groß oder klein
er sein möge, das ganze Israel. Indem die Eliageschichte
wie die Geschichte des Paulus selbst diese göttliche Gna¬
denwahl bezeugen, bezeugen sie die Beständigkeit Gottes
in der Erwählung seines Volkes, sind sie die Widerlegung
der antisemitischen Frage von Vers 1: Sollte Gott sein
Volk verstoßen haben? Die Frage „Was nun?“ in Vers 7
bedeutet: Was ist der Gehalt des eben Gesagten und die
daraus zu ziehende Folgerung? Die Antwort lautet zu¬
nächst (v. 7a): „Was Israel sucht, hat es nicht erreicht,
die Wahl aber hat es erreicht“. Israel sucht nach Kap.
9, 31 und 10, 3 durch Erfüllung des Gesetzes seine eigene
Gerechtigkeit zu erlangen, aus und durch sich selbst seine
Bestimmung zu erfüllen, Israel, der Gotteskämpfer zu
sein. Das erreicht es, wie in Kap. 10 gezeigt wurde, und
nun nicht mehr zu zeigen ist, nicht, sondern es erreicht
das Gegenteil. Aber wie es in Kap. 9, 30 hieß, daß die
Heiden die Gerechtigkeit, der sie nicht nachgejagt, fak-
167
tisch empfingen und in Kap. 10, 20: daß Gott sich fin¬
den ließ von denen, die ihn nicht suchten, so kann nun
auch das in Vers 7a von Israel Gesagte das letzte Wort
nicht sein. Was Israel im allgemeinen nicht erreichte, das
hat „die Wahl“, d. h. das haben die 7000, das hat jener
durch Gottes Gnadenwahl begründete Rest in alter und
neuer Zeit — das hat Gott selbst als der nach seiner
Gnade Erwählende tatsächlich erreicht: die 7000 erreich¬
ten, indem Gott sie suchte und fand wie jene Heiden,
die Gerechtigkeit vor Gott, d. h. aber den Stand vor Gott,
der Israels Bestimmung zum Gotteskämpfer entspricht
und Genüge tut. In ihnen wird sichtbar, daß Gott Israel
liebte und zu lieben nicht aufgehört hat, daß jene Be¬
rufung der Heiden nur als Offenbarung der Tiefe und
Weite der Berufung gerade Israels zu verstehen ist. Israel
bekommt Recht in diesen 7000: wohlgemerkt, gerade
Israel genau so und nicht anders wie jene Heiden — als
das Volk, dem Gott offenbar geworden, ohne daß es nach
ihm gefragt hätte, als das Volk der göttlichen Gnaden¬
wahl. Weil Paulus eben daran alles liegt — weil eben
das allein die Hoffnung für ganz Israel ist! — darum
fährt er jetzt in scharfem Kontrast fort: „Die Übrigen
aber wurden verstockt“ (v. 7b). Nach Vers 11 und
allem, was dort folgt, kann das bestimmt nicht heißen:
die Übrigen wurden von Gott fallengelassen. Es heißt
allerdings, daß es in und unter der Geschichte Israels, die
als solche eine Heilsgeschichte ist, auch immer eine Un¬
heilsgeschichte gab und noch gibt: ein göttliches Ver¬
schließen der Menschen für Gottes Verheißungen und
Wohltaten. Wie Gott es dem ganzen Israel nicht schuldig
war, gerade es zu erwählen, so ist er es auch keinem
Israeliten schuldig, ihn zu den 7000 zu rufen und zu
versammeln. Kein einziger Israelit hat das verdient. In¬
dem Gott die 7000 ruft und sammelt, beweist er seine
Gnade und eben damit den Grund und die letzte Ge-
168
wißheit der Erwählung Israels, zu dem auch die gehören,
die nicht unter den 7000 sind, eben damit auch ihre Hoff¬
nung. Er beweist es aber eben damit, daß es Unzählige
gibt, die nicht unter den 7000 sind, an denen er die Frei¬
heit seiner Gnade damit offenbart, daß er sie zu jenem
besonderen Zeugnis nicht beruft. Das ist das „Verstocken“,
von dem in Vers 7b die Rede ist. Die drei in Vers 8 — 10
angeführten Worte des Jesaia, des Mose und des David
sollen nun dazu dienen, deutlich zu machen, wie Paulus
diesen letzten Satz von Vers 7 versteht und verstanden
wissen will: „so wie geschrieben steht“, so und nicht
anders! Im Licht der Schrift, die in allen ihren Aussagen
Weissagung auf Jesus Christus ist, kann der Satz von
dem göttlichen Verstocken dem in Vers 2 angeführten
Psalmwort offenbar nicht widersprechen, beweist vielmehr
auch er, daß Gott sein Volk nicht verstoßen hat und be¬
weist er das auch zu Gunsten der Übrigen in diesem
Volk, der Verstockten, der disqualifizierten Mehrheit der
Israeliten. Denn eben das sagen doch jene alttestament-
lichen Worte so nachdrücklich, daß Gott, der Gott Is¬
raels, auch an diesen Verstockten handelt — sei es denn
so, sei es denn, indem er ihnen einen „Geist des Tief¬
schlafs“ gibt — und daß er als dieser Gott auch an ihnen
zu handeln nicht aufhört. Gottes Tisch (der Inbegriff aller
göttlichen Wohltaten!) ist und bleibt — sei es denn, wie
jener Felsen in Zion Kap. 95 33 ihnen zum Verderben —
auch in ihrer Mitte aufgerichtet. Gerade davon steht in
Vers 7 — 10 nichts zu lesen, daß Gott, indem er hart mit
diesen Übrigen umgeht, aufhören würde, jedenfalls auch
mit ihnen umzugehen! Daß Gott verstocken kann und
tatsächlich verstockt, das sagen freilich alle jene alttesta-
mentlichen Texte. Man muß sie aber nur in den Zu¬
sammenhängen lesen, denen sie hier entnommen sind, um
sich zu überzeugen: sie sagen es alle so, daß wie der
Ernst so auch die Grenzen, so auch das Ende jener Un-
169
heilsgeschichte sichtbar wird. Kein aufmerksamer Leser
des Alten Testamentes — und an solche wendete sich
Paulus — konnte gerade bei diesen alttestamentlichen
Sprüchen im Zweifel darüber sein, daß das letzte Wort
über die von Gott Verstockten damit, daß sie Verstockte
sind, noch nicht gesagt ist.
Eben das wird ja nun mit der Frage in Vers 11a: „Sind
sie dazu gestrauchelt, damit sie zu Falle kämen?“ — um von
Gott fallengelassen zu werden? — und mit dem Nein!, mit
dem Paulus darauf antwortet, unzweideutig ausgesprochen.
Hat Paulus in Vers 7 von den Übrigen gesagt, daß sie ver¬
stockt wurden, so hat er das eben so gesagt, „wie geschrieben
steht“, wie die Schrift es sagt. Er will damit, das erklärt
er jetzt, unter keinen Umständen gesagt haben, daß Gott
auch nur diese „Übrigen“ seines Volkes verstoßen hat.
Was wollte und was will er mit ihnen? Es sollte (v. 11b)
durch ihre Verfehlung das Heil zu den Heiden kommen.
Nicht die 7000 Erwählten, sondern gerade die Überzahl
der Verworfenen in Israel haben ja, indem sie Jesus
Christus den Heiden auslieferten zur Kreuzigung, die
Türe zu den Heiden aufgestoßen, die Solidarität der Sün¬
de aber auch die der Gnade hergestellt zwischen Israel
und der Heidenwelt. Wie denn auch Paulus selbst regel¬
mäßig durch seine Abweisung seitens der Synagoge zu
den Heiden geführt wurde. So gehört die Unheilsgeschichte
dieser Ungehorsamen in einer gerade für die Heiden ent¬
scheidenden Weise hinein in die Heilsgeschichte. Was aber
soll mit diesen Ungehorsamen selbst geschehen? Paulus
antwortet: Sie sollen eben damit, daß das Heil zu den
Heiden kommt, zur Eifersucht gereizt werden, d. h. sie
sollen an Gottes eben den Unwissenden und Verlorenen
da daraußen erwiesenem Erbarmen erkennen lernen, wer
ihr eigener Gott und was er auch und zuerst gerade für
sie ist. So hat Gott es, indem er sie verstockte, zuletzt
gerade auf sie abgesehen!
170
Man lese die nun folgenden Verse, um sie zu verstehen,
in der Reihenfolge: Vers 13, 14, 12, 15! Die Christen in
Rom kennen Paulus als den Heidenapostel und er bekennt
sich gerade hier ausdrücklich zu diesem seinem besonderen
Auftrag. Aber gerade als Heidenapostel kann er „sein
Fleisch<c (d. h. seine Verwandten nach dem Fleisch Kap. 9, 3),
jene Überzahl der dem Evangelium Widerstehenden in Is¬
rael, unmöglich links liegen lassen. Gerade die Herrlichkeit
seines Amtes als Heidenapostel besteht vielmehr darin,
seine Mitjuden zur Buße zu rufen. Muß er das Heil zunächst
von jenen weg und zu den Heiden tragen, so kann doch
eben das letztlich nur bedeuten, daß er es den Juden
erst recht entgegenträgt. Der von ihm als Heiland der
Welt Verkündigte ist ja als solcher nur der offenbarte
Messias Israels. Dieser Offenbarung und also Israel dient
die Heidenmission (v. 13 — 14). So sind die Heiden in der
Kirche bloß Mittel zu diesem Zweck? Nein, das auch
nicht! Denn die ganze Kirche Jesu Christi braucht ja
umgekehrt die Juden; sie braucht ihren Fehltritt: eben
er ist zum Reichtum für die Welt geworden; sie braucht
ihr Fernbleiben: eben es hat die Heiden reich gemacht
(v. 12), sie braucht ihre Verwerfung: eben sie war das
Mittel zur Versöhnung der Welt (v. 15) — sie braucht
aber noch viel mehr ihr vollzähliges Eingehen zum
Glauben an ihren Messias (v. 12), ihre Hinzunahme zu
den jetzt schon an ihn glaubenden Heiden und Juden
(v. 15). Denn dann, wenn es dazu kommt, wird das
jetzt auch der Kirche noch Verborgene offenbar, wird
der ihr jetzt erst verheißene größere Reichtum in
ihre Hände gelegt werden: Dann werden die Toten
auferstehen (v. 15), dann wird es sichtbar und greif¬
bar werden, daß im Tod und in der Auferstehung Jesu
Christi das Ende und der Neuanfang aller Dinge schon
stattgefunden hat, das Reich Gottes auf einer neuen
Erde und unter einem neuen Himmel heimlich schon an-
171
gebrochen ist. Was Israel nach Hesek. 37 verheißen ist,
das wird dann an der Kirche, ja an der ganzen Welt
in Erfüllung gehen. Aber eben: was Israel verheißen ist
— und darum nicht ohne Israel selbst, nicht ohne sein „voll¬
zähliges Eingehen“ (v. 12), nicht ohne die Hinzunahme
der jetzt Ungehorsamen (v. 15). Auf dieses Dann wartet
also die ganze Kirche und kann darum nicht unwillig
sein, ihrerseits ganz und gar dazu dienen zu müssen: die
Juden „eifersüchtig“ zu machen, nicht unwillig, in ihrer
Existenz ein einziger Akt von Judenmission zu sein. Ihre
eigene Hoffnung steht und fällt mit der Hoffnung auf
ganz Israel. Wie sollte sie da jener Meinung (v. 11) sein
können, daß Gott die Mehrzahl der Juden dazu verstockt
habe, um sie fallen zu lassen?
Gegen dieselbe Meinung wird nun in Vers 16 — 18 der
zweite Grund geltend gemacht: auch diese Juden gehören
nun einmal zu dem ursprünglichen Werk und Eigentum
Gottes, aus dem die ganze Kirche hervorgegangen ist, ohne
das es auch keine Heiden in der Kirche, ohne das es über¬
haupt keine Kirche gäbe. „Da die Wurzel heilig ist, sind es
auch die Zweige“ (v. 16) — auch diese Zweige! „Wenn du
dich rühmen willst, so bedenke, daß du nicht die Wurzel
trägst, sondern die Wurzel dich!“ (v. 18). Die Wurzel
(das Erstlingsbrot v. 16) ist die dem Abraham gegebene
Verheißung eines Nachkommen, durch den alle Völker
gesegnet werden sollen und die in Jesus Christus ge¬
schehene Erfüllung dieser Verheißung. Als Vorfahren
oder Verwandte dieses Samens Abrahams sind nun alle
Juden als solche Zweige aus dieser Wurzel und dar¬
um heilig, zum Dienste Gottes bestimmt wie diese Wur¬
zel selber: alle, auch die verstockten, auch die ungläu¬
bigen Juden! So überhebe sich der Heidenchrist auf kei¬
nen Fall seiner Zugehörigkeit zur Kirche zu Ungunsten
auch nur Eines von denen, die zu Israel gehören, und
wenn dieser Eine Judas Ischarioth hieße! Denn immer
172
und trotz allem ist und bleibt jeder Jude als solcher, ist
auch Judas Ischarioth der Heiligkeit teilhaftig, die die
keines anderen Volkes sein kann: der Heiligkeit der na¬
türlichen Wurzel, aus der Jesus Christus und mit ihm
die Kirche hervorgegangen ist. Wohl gibt es (v. 17) abge¬
hauene Zweige aus jener Wurzel, die an ihrem Leben
keinen Anteil mehr haben: das sind eben jene vielen
Verstockten aus Israel — und gibt es andererseits lebende
Zweige, die, einst an einem wilden Ölbaum wachsend,
dem edlen Ölbaum Israel jetzt auf gepfropft wurden: ein
unmögliches Gleichnis für den in der Tat unbegreiflichen
Vorgang, daß jetzt Heiden an die Stelle jener Ungehor¬
samen, in den vollen Besitz des gerade Israel zugedachten
Heils getreten sind. Unbegreiflich ist beides: die Entfer¬
nung jener heiligen und die Einpflanzung dieser unheili¬
gen und nun durch diese Einpflanzung geheiligten Zwei¬
ge. Was haben die gläubigen Heiden vor den ungläubi¬
gen Juden voraus? Nur dies, daß die heilige Wurzel nun
eben sie trägt. Sie ist und bleibt aber die Wurzel Israels.
Wie könnten die Heidenchristen gerade das haben und
vor den ungläubigen Juden voraus haben, ohne die Hei¬
ligkeit der sie tragenden Wurzel auch in jenen wieder zu
erkennen, wie David auch in Saul den Erwählten und
Gesalbten des Herrn zu erkennen und zu ehren nicht
aufgehört hat? Wer Jesus im Glauben hat, der kann die
Juden nicht nicht haben wollen. Sonst kann er auch den
Juden Jesus nicht haben!
Und nun wird die Feststellung dieses zweiten Grun¬
des gegen alle Überhebung der Gehorsamen über die
Ungehorsamen (v. 19 — 22) ganz von selbst zur Mah¬
nung an die Gehorsamen, an die der großen Menge
Israels jetzt so wunderbar vorgezogenen Heiden in der
Kirche. Was meint ihr eigentlich? „Jene Zweige wurden
abgehauen, damit ich eingepfropft werde“ (v. 19), so
redet der christliche Antisemitismus bis auf diesen Tag:
173
die Juden haben Christus gekreuzigt; so sind sie nun
Gottes Volk nicht mehr; so sind nun wir Christen an
ihre Stelle getreten. „Sehr schön!“ antwortet Paulus
in Vers 20. Er hat ja in Vers 17 scheinbar ganz das¬
selbe gesagt. Aber gerade antisemitisch kann das unmög¬
lich gesagt werden. Denn eingepflanzt werden zur Le¬
bensgemeinschaft mit jener heiligen Wurzel heißt glau¬
ben und glauben heißt an den auferstandenen Jesus
Christus glauben, in welchem sich Gott gegen Israel ge¬
rade zu Israel bekannt hat. Daran scheitern die Ungehor¬
samen, die Juden, daß sie nicht glauben. Daran müßten
aber sofort und erst recht auch die Gehorsamen, auch die
Christen, scheitern, wenn sie etwa nicht mehr glauben,
an den auferstandenen Jesus Christus glauben würden.
In der Auferstehung Jesu Christi hat Gott nun einmal
wie mit der Verwerfung Jesu Christi durch die Juden, so
auch mit seiner Verwerfung der Juden Schluß gemacht.
Er hat dort mit der jüdischen, aber eben damit mit aller,
auch mit jeder christlidien Überheblichkeit zum vornher¬
ein aufgeräumt. Wer glaubt, der fürchtet Gott und fügt
sich seiner Entscheidung (v. 21). Wollten die Heiden¬
christen sich dem ewigen Juden gegenüber „versteigen in
ihren Gedanken“, dann würden sie seinem Schicksal sofort
selber verfallen. Sie wären dann schlimmer dran als er,
weil sie, wenn sie nicht glauben und also wieder ab¬
gehauen würden, im Unterschied zu den Juden sofort
alles und jedes verlieren würden. Und (v. 22) Gott hat
dort — in der Auferstehung Jesu Christi — mit seiner
Strenge ja zugleich seine Güte offenbart und Menschen
aus den Heiden haben sie sehen, erkennen, glauben dür¬
fen vor den Meisten aus Israel. Gottes Güte: die Güte
des Gottes Israels! Was folgt daraus? Was ist damit eben
von ihnen verlangtPDaß sie bei der ihnen offenbarten Güte
Gottes bleiben. Das ist ihr Glaube. Wie sollten sie in
diesem Glauben und von ihm aus zu dem Urteil kom-
174
men, daß Gott sein Volk Israel verstoßen und fallen ge¬
lassen habe? Sie müßten den Glauben verloren haben.
Sie müßten selbst wieder abgehauen worden sein, wenn
dieses Urteil das ihrige wäre. Antisemitismus ist die Sün¬
de gegen den Heiligen Geist: das ist es, was Paulus in
Vers 19 — 22 faktisch gesagt hat. Die Gehorsamen mögen
Zusehen, daß sie sidi nicht dieser potenziertesten Gestalt
dieses Ungehorsams schuldig machen!
Und nun fängt (v. 23) mitten in der fortgesetzten An¬
wendung des Gleichnisses vom Ölbaum und seinen Zweigen
und mitten in der fortgehenden Mahnung an die Christen
insofern ein neuer und letzter Gedankengang an, als Paulus
jetzt zum erstenmal positiv ausspricht, was offenbar durch
dieses ganze Kapitel hindurch das Ziel seiner Aussagen
war: „Auch jene, (die Übrigen in Israel, die von Gott
Verstockten) werden, wenn sie nicht im Unglauben ver¬
harren, wieder eingepropft werdend Wie die Güte Gottes
den Vorbehalt bedeutet gegenüber den Gehorsamen, so
bedeutet sie die Verheißung den Ungehorsamen gegen¬
über: sie hat die Macht, auch sie zu öffnen, wie sie sie
verschlossen hat. Es vermag der Ungehorsam des Men¬
schen nicht, Gott gegenüber ein ewiges Faktum zu schaf¬
fen. Gott bleibt den Ungehorsamen gegenüber frei, wie
er auch den Gehorsamen gegenüber frei bleibt. Indem
Paulus denkt an das, was den jetzt zur Kirche versam¬
melten Heiden widerfahren ist, ist es ihm unmöglich ge¬
macht, an eine ewige Beharrungskraft des jüdischen Un¬
glaubens zu glauben. Wider die Natur des wilden und
des edlen Ölbaumes ist es (v. 24) dazu gekommen, daß
Heiden ihrer hoffnungslosen Entfremdung dem wahren
Gott gegenüber entrissen und zum Glauben an ihn, den
Gott Israels, berufen wurden. Schöpfung hat da statt¬
gefunden. Gnade hat da gewaltet. Indem Paulus Zeuge
dieses größeren Wunders ist, ist ihm das kleinere selbst¬
verständlich: daß auch das von Natur dorthin gehörige
175
Israel dorthin kommen wird. Man vergesse nicht, daß
Paulus dabei in der Gestalt des Synagogen-Juden den
wirklich sündigen und verlorenen Menschen vor Augen
hat, und daß ihm nur im Glauben an die in der Auf¬
erstehung Jesu Christi offenbar gewordene allmächtige
Güte des Gottes Israels solches selbstverständlich ist im
Blick auf diese Menschen. In diesem Glauben ist es ihm
nun allerdings selbstverständlich und will er es auch der
auf ihn hörenden Kirche selbstverständlich machen. Das
„Geheimnis<c, von dem Paulus in Vers 25 redet, besteht
nach der klaren Aussage dieses Verses nicht darin, daß
dieses Selbstverständliche einmal geschehen wird, sondern
darin, daß es noch nicht geschehen ist, daß Paulus und
mit ihm die Kirche noch immer mit dem Rätsel zu ringen
hat, daß es dem Evangelium gegenüber auch Ungehor¬
sam gibt, daß gerade der potenzierte Ungehorsam der
Juden immer noch Wirklichkeit ist. Diesem Geheimnis ge¬
genüber sollen sich die Christen nicht für weise halten,
indem sie das allzu nahe liegende Urteil wagen, daß das
ungehorsame Israel von Gott verstoßen sei. Was sie vor
Augen haben: die Verstockung eines großen Teils von
Israel ist über diesen gekommen, weil zuerst , vor diesen
Israeliten, die Fülle der in Jesus Christus erwählten, zu
Gliedern an seinem Leib bestimmten Heiden „eingehen“,
d. h. zum Glauben und in die Kirche berufen werden
und kommen, weil die Letzten die Ersten, die Ersten die
Letzten sein sollten. Was sie vor Augen haben, ist also
kein skandalöser Zufall, sondern Gottes Ordnung. „So
(auf diesem Wege) wird ganz Israel gerettet werden“
(v. 26a), weil diese Errettung so und nur so als Akt des
göttlichen Erbarmens stattfinden kann, durch den die
Niedrigen erhöht und die Hohen erniedrigt werden. Dies,
sagt Vers 27 nach Jer. 31, ist seine (Gottes) letztwillige
Verfügung über sie (Gottes Volk), die bei der Vergebung
der Sünden in Anwendung kommt — dies nämlich
176
(v. 26b): „Es wird aus Zion ein Erretter kommen und
wird die Gottlosigkeiten von Jakob wegnehmen“. Die
Letzten werden die Ersten sein, weil der Erretter sich
gerade der Verlorenen annehmen wird. Die Ersten wer¬
den die Letzten sein, weil eben das, was der Erretter tut,
alle die, an denen er es tut, als Verlorene kennzeichnet.
Das ist in Jesus Christus Gottes Vorgehen gegenüber dem
ganzen (aus Juden und Heiden versammelten) Israel:
darum müssen die Heiden nach dieser Ordnung voran¬
gehen, die Juden nachfolgen. Gottes Erbarmen muß und
will an ganz Israel offenbart werden. Darum ist das Ge¬
heimnis, das dem Christen jetzt vor Augen steht, die
Existenz der Ungehorsamen, der Stillstand, das Aufgehal¬
tensein der Synagoge, ein göttliches, ein anbetungswürdiges
und nicht ein skandalöses Geheimnis. Von demselben Er¬
barmen, das hier die Verworfenen als Gottes Erwählte
offenbarte, leben dort die Erwählten, deren Erwählung
jetzt noch unter ihrer Verwerfung verborgen ist. Es bleibt
bei ihrer Erwählung (v. 28), „denn unbereubar (also un¬
widerruflich) sind die Gnadengaben und ist die Berufung
Gottes“ (v. 29). Wir denken bei diesem Satz an Kap. 9, 6:
„Das Wort Gottes kann nicht hinfällig werden“. Gottes
Wort, das an Israel ergangen ist, hat Anteil an Gottes
Unveränderlichkeit. Und so sind Gottes Gerichtsentschei¬
dungen und Gnadenmaßnahmen wohl unerforschlich und
unbegreiflich (v. 33), weil Gott in seinem Erbarmen kei¬
nen Ratgeber neben sich und keinen Richter über sich hat
(v. 34), weil mit ihm niemand auf Geben und Nehmen
verkehren kann (v. 35), weil alles, was geschieht, aus
ihm, durch ihn, zu ihm hin geschieht (v. 36). Aber was
dieser Lobpreis der göttlichen Souveränität bedeutet, das
wird in Vers 30 — 32 eindeutig erklärt. Eben Gottes Er¬
barmen ist das Souveräne, das Unerforschliche und Un¬
begreifliche in Gott, dem der Mensch, drehe er sich, wie
er wolle, zuletzt unterworfen ist. Untreue und Unzuver-
177
lässigkeit ist also nicht in Gott und so auch nicht in seinem
Wort, nicht in der in Jesus Christus vollzogenen Ver¬
söhnung und Offenbarung. Wer sich aber zu diesem sei¬
nem Wort bekennt, wie es die Christen tun, der bekennt
sich eben damit notwendig zu Gottes Treue gegenüber
seinem Volk Israel. Und wer auf dieses Wort seine Hoff¬
nung setzt, dessen Hoffnung ist eben damit Hoffnung für
die Zukunft des Volkes Israel. Kann Gott an sich selbst
irre werden? Oder die Kirche an seinem Wort? Wenn sie
das nicht kann, dann auch nicht an der Hoffnung für
Israel. Damit ist begründet (v. 28b): die Christen haben
in den ungläubigen Juden, in diesen abgeschnittenen, aber
heiligen Zweigen aus der heiligen Wurzel, Gottes Ge¬
liebte — um dieser Wurzel, um der den Vätern wider¬
fahrenen Erwählung und Berufung willen von Gott Ge¬
liebte zu sehen. Das ist das letzte Wort über sie, während
das andere, das sie in ihrem Verhältnis zum Evangelium
— nach Vers 11 — 22 ja gerade „um euretwillen“! —
Feinde, Gott Verhaßte, sind, nur ein vorletztes Wort sein
kann, auf das die Christen weder sich selbst noch die Ju¬
den festlegen sollten. Es sind miteinander (v. 30 — 32) die
Kirche und die Synagoge, die Gehorsamen und die Un¬
gehorsamen, auf denselben Trost angewiesen. Am Anfang
steht überall der menschliche Ungehorsam. Nicht ihrem
Gehorsam verdanken die Heidenchristen (v. 30a) ihren
Vorsprung. Was hinter ihnen liegt, ist vielmehr grauen¬
hafter, durch keine Verheißung und kein Gesetz gebän¬
digter natürlicher Ungehorsam. Und nun heißt es auch
nicht, daß sie dann gehorsam geworden seien, sondern
daß sie dann Erbarmen gefunden hätten. Nicht sie ka¬
men nach Zion, sondern der Erretter aus Zion (v. 26)
kam zu ihnen, und zwar durch den Ungehorsam der Ju¬
den, ohne den sie nicht wären, was sie sind. Wie sollten
sie nun von anderswoher als von da aus in ihre eigene
Zukunft und in die der Juden blicken? In der Tat: vom
178
Ungehorsam kommen auch diese her (v. 31) und in dem
grauenhaften unnatürlichen Ungehorsam der bundesbrü¬
chigen Bundesgenossen Gottes stehen sie noch heute. Aber
wohin kann sie das gerade nach dem Urteil der Heiden¬
christen allein führen als dazu, „daß auch sie Erbarmen
finden“, daß auch sie des Heils, das durch sie zu den
Heiden gekommen ist, selber teilhaftig werden dürfen.
Und nun muß und wird auch hier ein Werkzeug zur
Anwendung kommen. Wieder ist aber nicht vom Gehor¬
sam der Heidenchristen, sondern von dem ihnen wider¬
fahrenen Erbarmen Gottes die Rede. Indem die Heiden¬
christen da sind als solche, deren Gott sich erbarmt hat,
ist auch die Aktion des Erbarmens Gottes den Juden ge¬
genüber schon eröffnet und in Gang gebracht. Die zweite
Satzhälfte von Vers 31 lautet nämlich: „. . . damit in Folge
der Barmherzigkeit gegen euch jetzt auch sie Barmherzig¬
keit erlangen“ und das bedeutet, daß es den Christen
nicht etwa erlaubt ist, ihre dementsprechende Stellung
zur Judenfrage auf den Jüngsten Tag zu verschieben, son¬
dern daß sie heute, jetzt dafür verantwortlich sind, daß
durch die ihnen widerfahrene Barmherzigkeit auch jene,
die Juden, Barmherzigkeit erlangen. Es sind (v. 32) Jesus
Christus gegenüber alle beieinander, verschlossen unter
den Ungehorsam; unter einen natürlichen Ungehorsam die
Heiden, unter einen unnatürlichen die Juden — alle von
Gott in dasselbe verdiente Gefängnis verschlossen. Und
wieder in Jesus Christus hat Gott alle dazu bestimmt,
seines Erbarmens teilhaftig und also frei zu sein. Das ist
die Erkenntnis, in der die heute Gehorsamen zu den
heute Ungehorsamen hinüberblicken, in der sie an ihre
Zukunft denken sollen. So antwortet das Evangelium
selbst seinen Verächtern, denn so antwortet Jesus Chri¬
stus denen, die ihn verworfen haben. Jede andere Ant¬
wort könnte nur eine unevangelische, eine unchristliche
Antwort sein.
179
12, 1 — 15, 13
Das Evangelium unter den Christen"')
„Das Evangelium in der Kirche“, so könnten wir diesen
letzten sachlichen Hauptteil des Römerbriefes auch über¬
schreiben, oder im Rückblick auf den Inhalt der voran¬
gehenden Kap. 9 — 11: „Das Evangelium und die ihm
Gehorsamen“.
„Ich ermahne euch“, so fängt Paulus sofort in Vers 1
an. Man bemerke den Unterschied: Wenn er seinen Blick
auf die dem Evangelium Ungehorsamen richtet, dann
verschwindet alle Anrede an diese Menschen fast gänz¬
lich hinter dem Lob und Preis des Weges und Werkes
Gottes. Blickt er aber zurück auf die Kirche, denkt er
an die Christen als die dem Evangelium Gehorsamen,
dann tritt umgekehrt — wir haben das bereits in Kap.
11, 16 f. vorübergehend feststellen können — sofort
die Anrede, die Mahnung an diese Menschen schlechter¬
dings in den Vordergrund. Weil der Gehorsam gegen das
Evangelium nach Kap. 8, 28 f. und nach allem, was in
Kap. 9 — 11 gesagt wurde, auf der freien erwählenden
Gnade Gottes beruht, darum sind gerade die dem Evan¬
gelium Gehorsamen der Ermahnung bedürftig. Sie haben
ihren Gehosam offenbar nicht in der Tasche, sondern er
muß immer wieder geleistet und vollzogen werden. Sie
dürfen und müssen von und mit der Gnade Gottes leben.
Im Blick darauf ist das Evangelium — oder vielmehr die
unmittelbare Konsequenz des Evangeliums immer auch
*) Vgl. zu diesen Kapiteln KD II, 2, S. 794 f, 802 f, 814 f.
180
Mahnung: nicht an die Ungehorsamen, sondern gerade an
die Gehorsamen gerichtet. Die Gnade selbst und als solche
ist für die, denen sie durch das Evangelium offenbar
und zuteil geworden, die unüberhörbare Mahnung, daß
sie von ihr nicht weichen, daß sie sie jederzeit und
überall und in jeder Hinsicht als die ihr Leben beherr¬
schende Macht gelten lassen sollen. Im Hören dieser
Mahnung existiert die ganze Kirche. Im Hören dieser
Mahnung konstituiert sich auch im Einzelnen das, was
wir das christliche Leben nennen. So ist das christliche
Leben, über dessen Gestalt Paulus in Kap. 12—15 der
römischen Gemeinde Einiges geschrieben hat, nicht eine
zweite Sache neben dem christlichen Glauben, neben dem
Gehorsam gegen das Evangelium, sondern schlicht dessen
Vollzug durch den Menschen, schlicht die fortlaufende
menschliche Bestätigung und Anzeige, daß er nicht nur
einmal, sondern wieder und wieder glaubt, nicht nur mit
einem seiner Gedanken, sondern mit allen, nicht nur mit
seinen Gedanken, sondern mit seiner ganzen Person, nicht
nur in dieser und jener, sondern in jeder Beziehung sei¬
ner Existenz. Im christlichen Leben wird es fortlaufend
wahr, daß er, der Mensch , durch Gottes Gnade glauben
und damit dem Evangelium gehorsam sein darf. Wie
würde er christlich glauben, wenn er nicht christlich
leben würde? Daß das nicht möglich ist, das sagt die
apostolische Mahnung. Sie sagt dem Gehorsamen, daß er
sich mit seinem Gehorsam an den Ort begeben hat, wo
er nicht anders kann, als wieder und wieder gehorsam
sein.
Der griechische Ausdruck für „mahnen“ ist reicher, als
es in diesem deutschen Wort zum Ausdruck kommt. Er
sagt zugleich: „trösten“. Damit tröstet Paulus die Chri¬
sten in ihrem Leben in der Zeit und in der Welt, daß er
sie mahnt , d. h. daß er sie im Glauben bestärkt, zu neu¬
em Glauben, zum Leben im Glauben sie aufruft. Und
181
damit ermahnt er sie, daß er sie tröstet. „Durch die
Barmherzigkeit (wörtlich durch die Erbarmungen) Got¬
tes“ — dieser Zusatz weist uns in dieselbe Richtung des
Verständnisses: nicht an die Vernunft, Einsicht, Güte und
Freiheit des Menschen wird mit dieser Mahnung apelliert;
auch nicht eine Art menschlicher Vergeltung der gött¬
lichen Wohltaten wird mit ihr gefordert, sondern schlicht
dies: daß sie die Mensdien seien, denen Gottes Erbar¬
men widerfahren ist. Von dorther sind sie ermahnt, von
dorther will Paulus auch sein apostolisches Ermahnen ge¬
hört und verstanden wissen. Man beachte, wie damit der
letzte starke Ton von Kap. 11 (v. 30 f.) neu aufgenom¬
men wird: das christliche Leben als das Leben des christ¬
lichen Glaubens ist das Leben derer, die von einer Vier¬
telstunde zur anderen durch Gottes Barmherzigkeit und
sonst durch nichts gehalten sind.
Aus diesem Ursprung der Mahnung ergibt sich nun so¬
fort die erste Zusammenfassung ihres Inhaltes. Die Christen
sind durch Gottes Barmherzigkeit, von der sie allein leben,
gemahnt, ihre Leiber — ihre ganze Person ohne Vorbehalt
irgend eines ihrer Elemente, irgend einer ihrer Funktionen
— zu einem lebendigen, heiligen, gottwohlgefälligen Opfer
darzubieten, d. h. nicht mehr, aber auch nicht weniger als
sich selbst — ungefragt, wer oder was sie seien — dem
zur Verfügung zu stellen, der sie in seinem Erbarmen
für dessen würdig hält, ihm zu gehören, dessen Wohl¬
gefallen es ist, sie für sich in Anspruch zu nehmen und
sie, ihre ganze Person, als Gabe an ihn entgegenzuneh¬
men. Man merke: daß dies geschehen darf , daß Gott von
sich aus etwas findet an diesen Menschen, daß er bereit
ist, sie für sich zu haben — diese Güte Gottes ist die
Kraft der Forderung, die hier in seinem Namen erhoben
wird. Darum wird die Erfüllung dieser Forderung durch
die Christen als „euer vernunftgemäßer (wörtlich: logi¬
scher) Gottesdienst“ bezeichnet. Es ist nichts als logisch,
182
nichts als folgerichtig: das Leben dessen, dem Gottes
Barmherzigkeit widerfahren ist, ist als solches ein zur Da¬
hingabe an ihn bestimmtes Leben. Und daß diese Bestim¬
mung vollzogen wird, das ist nichts als euer gelebter
Glaube, das ist euer, der Christen selbstverständlicher
Gottesdienst. Aber das Wort von der Vernunftgemäßheit
oder Logik dieses Gottesdienstes weist bestimmt noch in
eine andere Richtung: Christen sind ja solche, die im
Opfertode Jesu Christi der Barmherzigkeit Gottes teil¬
haftig geworden sind. So ist ihr Leben bestimmt zu einem
Zeugnis von diesem seinem Opfertod und so selber zu
einem Gott darzubringenden Lebensopfer, das freilich als
solches zu ihrer in Jesus Christus geschehenen Versöh¬
nung nichts beitragen und hinzufügen kann, das aber
als bestätigende Nachbildung, als dankbare Anerkennung
eben dessen, was ihnen in Jesus Christus widerfahren
ist, unmöglich ausbleiben kann.
Von da aus versteht man Vers 2: Die Christen leben zwar
in der Welt und in der Zeit, aber durch Gottes Barmherzig¬
keit ist es ihnen unmöglich gemacht, sich deren Gestalt und
Charakter anzupassen und anzugleichen, ihrem Leben aufs
neue die Gestalt und den Charakter dieser Welt zu geben.
Das ist ihnen damit unmöglich gemacht, daß sie diese Welt
kraft ihres Anteils an der Auferstehung Jesu Christi
schon hinter sich gelassen haben. Ihr Anteil an der Auf¬
erstehung Jesu Christi besteht ja in einer ihnen wider¬
fahrenen Verwandlung: in einer Erneuerung ihres Den¬
kens nämlich, die sie nötigt und auch befähigt, mitten
im Weltlauf, dem auch sie verfallen sind, zwischen dem
Gesetz dieses Weltlaufs und dem Willen Gottes, zwischen
dem göttlich und damit wahrhaft Guten, Wohlgefälligen
und Vollkommenen und den natürlichen Ergebnissen des
Weltprozesses zu unterscheiden und als die, die Gott ge¬
opfert und gehörig sind, in ihrem Leben nicht eine Wieder¬
holung der Gestalt und des Charakters dieser Welt dar-
183
zustellen, sondern ein Zeichen des Willens Gottes, ein
Zeichen der Ordnung seiner kommenden neuen Welt auf¬
zurichten. Das ist der Weg, auf den sie durch die Barm¬
herzigkeit Gottes, als die um Jesu Christi willen Gott
zum Opfer Dargebrachten gestellt sind, daß sie diesen
Weg gehen sollen — darum sollen, weil sie es dürfen — ,
das ist die Mahnung, die nun im Folgenden in einigen
Punkten erläutert werden soll.
Von einem eigentlichen Gedankengang und also von
einer Disposition läßt sich in diesen Kapiteln im Ganzen
nicht reden. Sie unterscheiden sich darin von den elf ersten
Kapiteln des Briefes, daß der Weg der Untersuchung
und Abhandlung hier aufgegeben, daß an seine Stelle
hier so etwas wie eine Querfeldeinwanderung getreten
ist, bei der das Prinzip der Auswahl und der Reihenfolge
der besprochenen oder auch nur berührten Gegenstände
für uns nicht mehr auszumachen ist. Man kann wohl
teilweise (etwa bei der Stelle über die Staatsgewalt Kap.
13, 1 — 7) oder bei dem großen Schlußteil über die Star¬
ken und Schwachen im Glauben (Kap. 14, 1 — 15, 13)
annehmen, daß Paulus sich auf Nachrichten bezieht, die
er aus der römischen Gemeinde erhalten hat und die
ihm gerade diese besonderen Mahnungen nahelegten.
Alles übrige ist ihm wohl im Blick auf das christliche
Leben anderer Gemeinden in Griechenland und Klein¬
asien auch hier in die Feder gekommen. Eine systemati¬
sche Darlegung, so etwas wie eine christliche Ethik, darf
man also hier nicht einmal in den Umrissen zu finden er¬
warten. Haben wir es zuerst in Kap. 12, 3 — 8 dann
wieder in Kap. 13, 1 — 7, dann wieder in Kap. 13, 8 — 10
und Kap. 13, 11 — 14 und im Schlußteil in Kap. 14, 1 f .
mit in sich geschlossenen und gegliederten Einzelzusam¬
menhängen zu tun, so ist die Stelle Kap. 12, 9 — 21 eine
Reihe von Zurufen, die man nur künstlich auf den Nenner
eines beherrschenden Gedankens bringen könnte; und eben-
184
so steht es mit dem Ganzen dieser Kapitel: es ist wohl ein
lebensmäßiges, sicher und sichtbar von der Grundmah¬
nung in Kap. 12, 1 — 2 her beherrschtes, es ist aber nicht
ein von einem bestimmten Begriff her gegliedertes Ganzes.
Es redet, wie es bei einer wirklichen Mahnung der Fall
sein muß, je in seinen Einzelheiten, und so muß es auch —
immer von jenem Ansatzpunkt in Kap. 12, 1 — 2 her und
natürlich im Zusammenhang mit der ihm zugrundeliegen¬
den Verkündigung des Evangeliums — verstanden wer¬
den.
Die Mahnung richtet sich zuerst (Kap. 12, 3 — 8) an
den Christen als Glied der christlichen Gemeinde. Der
Wille Gottes, den er hier nach Vers 2 erkennen, dem er
sich hier im Unterschied zu der Gestalt dieser Welt unter¬
ordnen soll, besteht darin, daß er sein Leben in der Ge¬
meinde als einen Dienst verstehe und vollstrecke, der da¬
durch geordnet ist, daß die eine der Gemeinde als solche
zugewendete Gnade die Gestalt vieler, nicht getrennter
und konkurrierender, aber verschiedener und eben in ihrer
Verschiedenheit zusammengehöriger und zusammenklin¬
gender Gaben hat, wobei der Glaube, der die Gnade als
solche und als besondere Gabe ergreift, gleichzeitig (als
christlicher Glaube) jedem Einzelnen seine mit allen ande¬
ren gemeinsame Bestimmung und (als sein christlicher
Glaube) jedem Einzelnen seine Grenze anweist. Der Ge¬
stalt dieser Welt entsprechend müßte es auch in der Ge¬
meinde so zugehen, wie in Vers 3 warnend beschrieben
ist: es müßte und würde ein Jeder im Vertrauen auf
die Gewalt und das Recht seiner persönlichen Vitalität ins
Grenzenlose schweifen. Der Apostel aber, in Wahrneh¬
mung seines Amtes, das er selber durch die Gnade hat,
um eben die Gnade als die in der Gemeinde gültige Ge¬
walt und Rechtsordnung zu verkündigen, heißt einen
Jeden die geschehene Erneuerung seines Denkens darin
fruchtbar machen, daß er auf nichts anderes als genau
185
auf das sich ausrichte, was „sich geziemt“, daß er darauf
sinne, besonnen zu sein, was dann sofort damit erklärt
wird: daß er den ihm von Gott bestimmten Lauf seines
christlichen Glaubens antrete und vollende (v. 3). Damit
lebt er in der Gemeinde, in welcher jeder Einzelne als
Glied des einen Leibes damit in der Fülle des Ganzen
lebt, daß er seiner besonderen, nicht von ihm ausgesuch¬
ten und bestimmten, sondern ihm zugewiesenen Stellung
und Funktion getreu ist (v. 4 — 5). Die Gnade selbst ist
ungeteilt eine und dieselbe für alle; ihre Gaben aber sind
verschiedene: nicht nach der Verschiedenheit der mensch¬
lichen Anlagen, Temperamente und Tendenzen, sondern
nach der Verschiedenheit des Willens Gottes, dem ein Jeder
in seinem Glauben Gehorsam zu leisten, den ein Jeder
zu erfüllen, an den aber auch ein Jeder — gerade im
Gegensatz zu der gnadenlosen Grenzenlosigkeit der Vita¬
lität des natürlichen Menschen — sich zu halten hat, wenn
er der ihn allein haltenden göttlichen Barmherzigkeit
nicht verlustig gehen will. (v. 6) Innerhalb dieses Maßes
kann nun aber die Mahnung, wie der Schluß (v. 6 — 8)
zeigt, nur dahin lauten, daß ein Jeder gerade das, was
ihm durch den Willen Gottes gegeben und aufgetragen ist,
ausschöpfe, auslebe, auswirke, genau wie es ihm eben ge¬
geben und aufgetragen ist. Eben sein Gehorsam sei nun
auch rücksichtslos seine Freiheit! Eben die Fülle des
Ganzen sei nun auch seine persönliche Fülle! Die einzelne
Bezeichnung der Gnadengaben verhindert nämlich hier
wie 1. Kor. 12 zum vornherein den Mißbrauch, der an¬
gesichts dieser positiven Seite der Mahnung drohen könnte:
Es handelt sich ja nicht um individuelle Veranlagungen,
Neigungen und Lüste: es handelt sich um das propheti¬
sche Wort, um den Liebesdienst, um die Lehre, um die
Ermahnung, um das Schenken, um das Regieren, um
die Barmherzigkeit — um alles das, mit dem die Ge¬
meinde, mit dem also auch die Einzelnen in der Gemeinde
186
nicht sich selbst und nicht den Menschen in der Gemeinde
noch denen in der Welt, auch nicht der Gemeinde als
solcher, wohl aber Gott in der Gemeinde und so Gott in
der Welt zu dienen, mit dem sie sein Licht auf den
Leuchter zu stellen haben, damit es scheine in der Fin¬
sternis. Das sind die Gaben der Gnade. Und weil sie das
sind, kann die Mahnung nur dahin lauten, daß man sie
nehmen und brauchen soll. Die Besonnenheit, von der
zuerst die Rede war, kann da nicht verloren gehen, sie
muß und wird — im Gegensatz zu aller weltlich klugen
Zurückhaltung — eben da zu Ehren kommen, wo es dar¬
um geht, diese , die offenkundig zu diesem Zweck bestimm¬
ten Gaben (in der Einheit der Gnade, die sie alle dar¬
stellen) wirklich rücksichtslos auszuschöpfen, auszuleben,
auszuwirken. Es wäre Unbesonnenheit, wenn irgend je¬
mand das nicht tun würde!
Wir kommen nun zu jener Reihe loser aneinander ge¬
reihter einzelner Weisungen (Kap. 12, 9 — 21) — es han¬
delt sich im Griechischen von Vers 9 — 17 um eine fast
ununterbrochene Reihe von lauter Partizipialsätzen — , bei
denen sichtlich das Leben des einzelnen Christen als sol¬
chen in seinem Zusammenleben mit anderen einzelnen
Menschen zunächst innerhalb, dann aber auch außerhalb
der Gemeinde ins Auge gefaßt wird. Wie lebt man in
diesem Zusammenleben als ein Gott Geopferter (v. 1),
nach Maßgabe der geschehenen Erneuerung des Denkens,
in der Unterscheidung des Willens Gottes von der Gestalt
dieser Welt (v. 2)? Das ist die Frage, auf die auch hier
geantwortet wird. Daß es sich um Auslegungen jener
Grundmahnung handelt, wird man also auch hier zum
Verständnis jedes einzelnen dieser Worte nicht aus den
Augen lassen dürfen. Wir können sie nur streifen.
Christliche Liebe den anderen Menschen gegenüber, wie
sie zunächst innerhalb der Gemeinde zugleich erlaubt und
geboten ist, ist dann „ungeheuchelt“ und also aufrichtig,
187
wenn sie die Bezeugung unserer Erkenntnis ist, daß Gott
uns in dem Menschen Jesus zuerst geliebt hat. Sie kann
und muß diesen anderen Menschen gegenüber ebenso in
der Verneinung des Bösen wie in der Bejahung des Gu¬
ten, ebenso in Ablehnung wie in Zustimmung, sie muß
auf alle Fälle in unterscheidender Weisheit geschehen
(v. 9). Sie muß aber, da es ja in der Gemeinde um den
gemeinsamen Auftrag, um den Dienst an der gemein¬
samen Sache geht, in jener Innigkeit, d. h. in jenem Zu¬
getansein geschehen, in welchem man weder sich selbst
noch den Anderen, sondern in Brüderlichkeit mit dem
Anderen zusammen den gemeinsamen Herrn meint und
sucht und in dem man gerade darum die Ehre gerne
dem Anderen als dem stellvertretenden Darsteller dieses
Herrn lassen wird (v. 10). Der Eifer darf nicht nach-
lassen, das Feuer nicht erlöschen, der Dienst nidit ab¬
brechen, die Hoffnung nicht unfreudig, die Haltung in
der Bedrängnis nicht unbeständig, das Gebet nicht stok-
kend, die Bedürfnisse der Heiligen, d. h. des dem Dienst
des Herrn zugewendeten Lebens der Gemeinde, dürfen
nicht vernachlässigt werden (v. 11 — 13). So, mit dem
Allem, in Gestalt dieses völligen und pausenlosen Inan¬
spruchgenommenseins liebt man einander in der Ge¬
meinde. So ist man hier ein Gott Geopferter im Zusam¬
menleben mit den anderen Menschen. Diesen Sinn und
diese Kraft hat die Liebe als christliche Liebe. Sie hat
den Sinn und die Kraft, den Ernst und die Freiheit,
die Unendlichkeit und die Grenzen höchster Sachlichkeit.
Sie kann in Sentimentalität sicher nicht ausarten. Sie kann
aber auch nicht müde, nicht pervertiert werden in Gleich¬
gültigkeit, Abneigung und Zersplitterung. Sie nimmt alle
Leidenschaft in Anspruch und sie hat Dauer, Autorität
und Macht, weil sie selbst keine Leidenschaft ist. Was sie
bewegt und trägt, ist ja die Gnade und nicht die Natur,
der Auftrag der Gemeinde und nicht das persönliche Be-
188
diirfnis, die Furcht Gottes und nicht der Respekt vor den
Menschen — oder umgekehrt: die Natur, die durch die
Gnade gefangen genommen, das persönliche Bedürfnis,
das in den Dienst der Gemeinde gestellt, der Respekt vor
den Menschen, der durch die Furcht Gottes begründet
und bedingt ist. Paulus wird nachher (Kap. 13, 8 f.) noch
einmal auf diese Sache zurückkommen.
Aber nun lebt ja der Christ nidit nur innerhalb der Ge¬
meinde, sondern auch außerhalb, in der Welt: eben in jener
Welt, deren Gestalt er sich nicht mehr anpassen kann! Eben
in diese Welt hinein ist ja die Gemeinde gestellt; eben für
sie lebt sie ja ihr scheinbares Sonderleben. So wird alles dar¬
auf ankommen, daß sie es — indem sie ihren Protest gegen
ihre Gestalt erhebt und durchführt — wirklich für sie
und nicht gegen sie lebe. Daß sie also und daß jeder
einzelne Christ in ihr auf die ihr widerfahrende und ihn
persönlich treffende Verfolgung nicht mit Fluchen — als
stünde hier eine Partei gegen eine andere — , sondern mit
Segnen antworte! (v. 14). Dies ist es ja, was Jesus Chri¬
stus an jedem Christen „da wir noch Feinde waren“ (Kap.
5, 10) zuerst getan hat. Dieses ihm Widerfahrene ist es,
was er als Christ gerade denen, die ihm als Feinde be¬
gegnen, zu bezeugen hat. Er gehe gerade nicht seiner
Wege — das wäre nicht aus der Erneuerung seines Den¬
kens, das wäre allzu weltlich gedacht und gehandelt,
wenn er sich vor der Welt flüchten wollte. Wie könnte er
dann segnen? Stoischer Verzicht auf das Mitleben mit den
Menschen in der Welt ist nun einmal noch nie das dem
Christen befohlene Segnen gewesen. Segnen kann er nur,
indem er auf die ihm widerfahrende Verfolgung damit
antwortet, daß er erst recht mit den Menschen in der
Welt lebt, mit ihnen sich freut, mit ihnen weint, mit ihnen
ein Mensch ist (v. 15). Um nun doch eben als solcher in
Mitfreude und Mittrauer eine ganz bestimmte, nämlich
die durch die Einheit der Gemeinde und ihren Auftrag
189
bestimmte Linie verfolgen, welche darin bestehen wird,
daß er den eigentümlichen Zug und Trieb in die Höhe,
den Drang nach Gottähnlichkeit, der für die Welt, die
das Evangelium noch nicht gehört hat, charakteristisch ist,
nicht mitmacht, sondern immer da zu finden sein wird,
wo ihn selbst Gottes Gnade in Jesus Christus gefunden
hat, nämlich in der Niedrigkeit dessen, der seiner eige¬
nen Klugheit und Macht für Zeit und Ewigkeit nichts
zu verdanken sich bewußt ist, in der Niedrigkeit dessen,
der wo er auch stehe: in Freude oder in Trauer, in Er¬
folg oder in Mißerfolg, mit der Mehrheit oder mit der
Minderheit gehen, ein Angenommener, ein von Gott auf
seinen Weg und zu seinem Werk Zugelassener ist. Im¬
mer da wird der Christ zu finden sein, wo es zum Be¬
kenntnis der Menschlichkeit des Menschen im Gegensatz
zu aller Gottähnlichkeit kommt (v. 16). Er wird auf dieser
Linie bestimmt nicht Böses mit Bösem vergelten, sondern
vor den Augen aller Menschen — ob sie es sehen oder
nicht — für das göttlich Gute einstehen. Denn das gött¬
lich Gute ist immer (und ist auch nie umsonst) bei denen,
die Gott durch seinen Geist zu Armen, zu schlechterdings
Bedürftigen gemacht hat (v. 17). Eben in dieser seiner
echten Bedürftigkeit vor Gott wird der Christ dann auch
ein lebendiges, ein schlechterdings aufrichtiges Friedens¬
angebot an alle Menschen — der Träger des an sie ge¬
richteten göttlichen Friedensangebotes — sein (v. 18).
Wenn sie es aber nicht annehmen? Und sie werden es ja
gewiß trotz allem nicht alle annehmen! Nicht Alle? Wie¬
viele, wie wenige werden es annehmen? Soll er nun doch
als Partei gegen Partei wider sie Vorgehen? Gleiches mit
Gleichem vergelten? Mindestens damit, daß er sie nun
dennoch fallen läßt, daß er endlich und zuletzt, ein Bild
des göttlichen Zornes, doch von ihnen weg und seiner Wege
geht? Paulus sagt in Vers 19 — 21 in aller Deutlichkeit,
daß eine andere Vergeltung als die des Bösen mit dem
190
Guten, als die Verstärkung also jener Teilnahme, von
der in Vers 15 die Rede war, für den Christen nicht in
Betracht komme. Er müßte ja selbst die Gnade fahren
lassen, die ihm zuteil geworden, wenn er statt ihrer auf
einmal den Zorn und die Rache Gottes bezeugen wollte.
Den Zorn und die Rache Gottes zu bezeugen ist — mit
Vorbehalt des besonderen Auftrags, von dem nachher
die Rede sein wird — Gottes Sache ganz allein. Es ist
der Auftrag der Gemeinde und so der Auftrag jedes ein¬
zelnen Christen bestimmt der, Gleiches gerade mit Un¬
gleichem zu vergelten und also den Feind, den Menschen,
der das Friedensangebot nicht annimmt, damit zu be¬
kämpfen und zu überwinden, daß er ihn als Feind ein¬
fach nicht gelten läßt, daß er ihn seiner Feindschaft zum
Trotz erst recht nicht als Feind sich so weit ausleben
läßt, daß er ihm wiederum zum Feinde würde. Er wird
ihn vielmehr damit aus dem Felde schlagen, damit „feu¬
rige Kohlen auf seinen Kopf häufen“, daß er auch ihn
als einen Bedürftigen, als einen Hungernden und Dür¬
stenden behandelt und also speist und tränkt, statt ihn,
den Armen, als vermeintlicher Exekutor des göttlichen
Gerichtes etwa noch ärmer zu machen. Und das alles eben
— wie sehr hat hier Nietzsche die Konsequenz des Evan¬
geliums mißverstanden! — nicht etwa in Schwachheit,
sondern in Kraft, nicht aus Minderwertigkeitsgefühl, son¬
dern in königlicher Überlegenheit, nicht nachgiebig, son¬
dern gerade damit echten Widerstand leistend, eben damit
die siegreiche Schlacht schlagend: gerade damit beweisend,
daß er, der Christ, vom Bösen nicht überwunden, son¬
dern in der Lage ist, das Böse mit dem Guten zu über¬
winden.
Von dieser Grundregel des Verhältnisses des Christen
zur Welt machen nun auch die folgenden berühmten
Verse über die Staatsgewalt (Kap. 13, 1 — 7) keine Aus¬
nahme. Sie sagen einmal, daß niemand von der Befolgung
191
jener Regel die Entstehung eines allgemeinen Chaos zu
befürchten oder zu erhoffen hat. Wie Gott und indem Gott
die christliche Gemeinde mit jenem Auftrag, das Böse durch
das Gute zu überwinden und ganz allein mit der Gewalt
und dem Recht ihrer Bedürftigkeit, ihres Lebens von sei¬
nem Erbarmen, in die Welt hineingestiftet hat als sein Frie¬
densangebot an alle Menschen — so hat er in der Welt selbst
eine Ordnung aufgerichtet, durch deren Existenz und
Handhabung dafür gesorgt ist, daß auch sein Zorn und
seine Rache (Kap. 12, 19) allen Menschen gegenüber zur
Bezeugung komme, daß also das Böse und die Bösen auch
abgesehen von dem ihnen durch die Gemeinde übermittel¬
ten Friedensangebot, auch da, wo das Evangelium noch
nicht oder nicht mehr Gehorsam findet, in ihre Schran¬
ken gewiesen sind, ihren freien Lauf nicht nehmen kön¬
nen. Und diese Verse sagen zum anderen, daß die Chri¬
sten sich in diese Ordnung fügen und einordnen und
zwar von Gewissens wegen, also frei und von sich aus
fügen und einordnen sollen, daß ihr „vernünftiger Got¬
tesdienst“ (v. 2) auch diese Gestalt: die Gestalt des politi¬
schen Gottesdienstes (vgl. v. 4, 5, 6) haben muß. — Die
„Gewalten“, von denen in Kap. 13, 1 f. die Rede ist, sind
tatsächlich das, was wir die Staatsgewalt nennen. Die
Übersetzung „Obrigkeit“ hat darum viel Verwirrung an¬
gerichtet, weil man dabei allzu einseitig nur an die exe¬
kutiv regierende Staatsgewalt und zu wenig an die bei
dieser Sache so oder so unvermeidliche aktive Beteiligung
auch der jeweils Regierten gedacht hat. Das Wort ist das¬
selbe, das in Matth. 28, 18 gebraucht wird: „Mir ist
gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden“ — das¬
selbe Wort, das im Neuen Testament zur Bezeichnung
einer bestimmten Gruppe von Engelmächten verwendet
wird. Wir können schon daraus entnehmen, daß Paulus
von einer von der Gewalt Jesu Christi unabhängigen,
von einer „naturrechtlich“ begründeten Gewalt hier nicht
192
hat reden wollen. Kein Wort verrät uns, daß Paulus in
diesen Versen plötzlich nicht mehr „auf Grund der Barm¬
herzigkeit Gottesc< (v. 12, 1) ermahnen, daß er hier nicht
mehr die Christen als solche und also auf ihren Gehor¬
sam gegen Jesus Christus anreden würde. Indem Jesus
Christus das Haupt seines Leibes, der Gemeinde, ist, ist
er nach Kol. 1, 1 6 f . auch der, durch den und auf den
hin alles geschaffen ist: alle „Throne, Herrschaften,
Mächte und Gewalten“. Eben das gilt auch von der
Staatsgewalt. Sie gehört zwar nicht zur Kirche, wohl aber
mit der Kirche zum Reiche Christi. Eben darum hat sich
Jedermann — Jedermann gerade in der Gemeinde — der
Staatsgewalt zu fügen und einzuordnen (v. 1). Von Ein¬
ordnung ist die Rede und nicht von einer blinden Unter¬
werfung, einer Sache, die es in der Bibel — man kann
ruhig sagen: überhaupt nicht gibt. Wo solche Staatsgewalt
ist, da ist sie von Gott eingesetzt: in dem, worin sie
Staatsgewalt ist natürlich — nicht etwa in dem, worin sie
sich vielleicht als deren Gegenteil, als Revolution, als
Anarchie, gebärdet und ausweist — so daß wer sich ihr
entziehen, ihr sich entgegensetzen wollte, der Anordnung
Gottes selbst widerstehen würde (v. 2). Die im Namen
und in der Vollmacht solcher von Gott eingesetzter Staats¬
gewalt Regierenden können für die, die das Gute tun, für
die Christen also, kein Gegenstand der Furcht, keine
Fremden sein, denen gegenüber sie nur Distanz zu wah¬
ren hätten. Das sind sie für die Bösen: gerade für jene
also, denen die Christen bis jetzt scheinbar erfolglos ihr
Friedensangebot gemacht haben. Ihnen ist damit, daß es
eine Staatsgewalt gibt, gewehrt — sie sind durch sie ge¬
warnt, daß sie es allzu weit jedenfalls nicht treiben möch¬
ten auf ihrer bösen Linie. Wogegen sich der Christ als
Täter des Guten, als der Träger ihrer Botschaft vom Sieg
des Guten, vor ihr und vor den sie vertretenden Personen
bestimmt nicht zu fürchten, nicht zu distanzieren hat, in
193
deren Funktion er vielmehr geradezu die Erfüllung eines
Gottesdienstes dankbar anerkennen wird. Fürchten und
distanzieren müßte er sich in dieser Sache nur, wenn er
die ihn haltende Gnade loslassen, der Gestalt dieser Welt
sich anpassen und damit selber das Böse tun würde (v. 3
bis 4). Die Staatsgewalt ist nämlich tatsächlich Gewalt: sie
führt das Schwert und sie führt es nicht umsonst, nicht
zum Schein und da, wo sie von Gott eingesetzt ist, auch
nicht aufs geratewohl, sondern tatsächlich gegen die Bö¬
sen: sie ist also an sich wohl geeignet, Furcht zu erregen,
zu Fluchtgedanken anzuregen. Was sie zu bezeugen hat,
ist nicht mehr und nicht weniger als Gottes Zorngericht
über den, der das Böse tut: wie sollte also nicht Jeder¬
mann, auch der Christ, erschrecken können vor diesem
Zeugnis. Wollte und würde er das Böse tun — und
was sonst als Gottes Gnade hindert ihn daran? — so
würde auch er hier nur erschrecken können: erschrecken
als vor der Anzeige des ewigen Gerichtes in der Gestalt
des irdischen Richters (v. 4). Aber eben weil er durch
Gottes Gnade gehalten ist, kann und muß er sich hier
ohne Furcht fügen und einordnen: nicht nur aus jener
Furcht, wie es die Anderen tun, sondern gerade er um
des Gewissens, um der Erkenntnis Gottes und seiner
Herrschaft willen, weil er weiß und will, daß Gott auch
durch die Begründung und Aufrechterhaltung dieser Ord¬
nung gepriesen wird, daß er auch in den Vertretern dieser
Ordnung — gleichgültig ob sie glauben oder nicht — fak¬
tisch seine Diener hat, weil das Reich Christi und seine hei¬
ligende Gewalt außerhalb der Gemeinde auch diese Ge¬
stalt hat (v. 5). Sich fügen und einordnen heißt aber: aktiv
tun, was zur Aufrechterhaltung und Durchführung dieser
Ordnung nötig ist als Leistung an Steuer und Zoll, an
Respekt und Ehre (v. 6 — 7). Sich fügen und einordnen
heißt also: in praktischen Entscheidungen seine Verant¬
wortlichkeit auch in dieser Sache bewähren, heißt auch
194
in dieser Sache: drinnen und nicht draußen sein. Die
Christen sind hier unter der Ordnung Gottes — des
einen Gottes — wie sie es in der Gemeinde sind. Sie
sollen es als die Gott Geopferten an beiden Orten ganz
sein: anders hier als dort, aber an beiden Orten ganz
und auch hier darum, weil sie es dürfen, auch hier gerade
darum, weil sie von der Gnade Gottes gehalten und ge¬
tragen sind.
In dem Abschnitt Kap. 13, 8 — 10 kehrt Paulus mit
deutlicher Unterstreichung zu dem Thema und Gedan¬
ken von Kap. 12, 9 — 13 zurück. Der Satz in Vers 8 ist
nicht so einfach, wie er auf den ersten Blick aussieht.
Heißt es doch nicht: „Seid niemandem etwas schuldig, als
daß ihr ihn liebt !“ sondern: „Seid niemandem etwas
schuldig, außer dem, daß ihr euch unter einander liebt!“
Paulus sagt also: Dies sei der Inbegriff alles dessen, was
die Christen der Welt schuldig sind: daß sie sidi unter¬
einander liebten! Das wäre eine unerträgliche Aussage,
wenn der Begriff der christlichen Liebe (Kap. 12, 9 — 13)
nicht bereits dahin erklärt wäre, daß die Liebe der Chri¬
sten unter einander, ja in jenem gemeinsamen Einstehen
für die Sache der Gemeinde, die die Sache ihres Herrn
und so eine für die ganze Welt wichtige und heilsame Sache
ist, ihren Grund und ihre Kraft hat. Daß dieses gemein¬
same Einstehen Ereignis werde und bleibe, darauf kommt
hinsichtlich der Aufgabe des Christen der Welt gegen¬
über, hinsichtlich seines „Segnens“, seiner Mitfreude und
Mittrauer, seines Eintretens für das Gute unter allen
Umständen, seiner Beteiligung an der Staatsgewalt alles
an. Es hängt alles daran, daß die Kirche in dem allen
Kirche ist und bleibt. Sie ist und bleibt es aber, indem
jenes Lieben unter den Christen in seiner ganzen Tiefe
und Radikalität, mit seinem ganzen Wohl- und Wehtun,
in seiner ganzen leidenschaftslosen Leidenschaftlichkeit le¬
bendig ist. In dieser Liebe erbaut sich die Kirche. Mit
195
ihr leistet sie, was sie der Welt schuldig ist. Mit diesem
Lieben erfüllt sie das Gesetz in allen seinen Geboten;
denn mit diesem Lieben befindet sie sich in der Nachfolge
dessen, der das Gesetz ein für allemal erfüllt hat. In ihm
betätigt sie ihren Glauben, in ihm betätigt ihn jeder
einzelne Christ. Ist er nur ein Liebender in jener höch¬
sten Sachlichkeit, dann gibt er dem Nächsten, jedem Näch¬
sten, was er ihm schuldig ist; dann wird er ihm sicher
nichts Böses, sondern bestimmt alles Gute erweisen.
Der Abschnitt in Kap. 13, 11 — 14 ist gewissermaßen
die Wiederholung und Erklärung der grundsätzlichen
Worte in Kap. 12, 1 — 2. Die Christen müssen als solche
immer wieder und in jeder Hinsicht realisieren, daß die
Gestalt dieser Welt als ihre Gestalt nicht mehr in Be¬
tracht kommen kann. Sie kann das darum nicht, weil sie,
die Christen, „die Zeit verstehen“. Sie verstehen nämlich
mit jeder weiteren Stunde besser, daß sie in der Wende
der Zeit stehen und daß sie sich danach zu richten haben.
„Die Nacht ist vorgerückt, der Tag aber ist nahe herbei¬
gekommen“ (v. 12). Diese Wende der Zeit ist geschehen:
wie sollten sie das nicht wissen, indem sie gläubig ge¬
worden sind? Eben diese Wende geht nun aber auch un¬
aufhaltsam weiter; sie ist das Zeichen, unter das alle
menschliche Geschichte von dem Ereignis von Golgatha an
so gestellt ist, daß es immer sichbarer werden muß: wie
sollten wir das nicht beachten, indem wir heute wieder
glauben, was wir gestern geglaubt haben? Wie sollten
wir es heute nicht noch viel mehr als gestern beachten?
Wie sollten wir das anders als tätig beachten? Wie anders
als damit, daß wir vom Schlaf aufstehen, das Schlafge¬
wand (v. 13 beschrieben!) auszichen und für den kom¬
menden, immer näher kommenden Tag uns anziehen und
ausrüsten — mit den Waffen des Lichtes, mit dem Herrn
Jesus Christus selber? Daß die Christen die Wende der
Zeit, wie sie schon geschehen ist und noch geschieht, be-
196
achten — in der Tat beachten, das ist es, was aus der
ihnen widerfahrenen Erneuerung ihres Denkens mit Not¬
wendigkeit folgt, das die Mahnung, die gerade sie, die
Gehorsamen, nicht genug hören können.
Der Zusammenhang in Kap. 14, 1 — 15, 13, mit dem
die apostolische Mahnung an die Christen und damit die
sachliche Belehrung des Römberbriefes zum Abschluß
kommt, hebt sich von dem in Kap. 12 — 13 Vorangehenden
schon dadurch deutlich ab, daß jetzt die ausführliche Be¬
handlung einer bestimmten Lebensfrage an die Stelle der
vielen allgemeinen und einzelnen Weisungen tritt, die dort
das Bild beherrschen. Aber etwas Anderes ist noch wich¬
tiger: In Kap. 12 — 13 war vom Gehorsam gegen das Evan¬
gelium die Rede, sofern er unterschiedslos von der gan¬
zen Kirche, von jedem Christen als solchem zu erwarten
und gefordert ist: Ohne die Beteiligung am Dienst der
Gemeinde, ohne das Leben in der Liebe, in welchem diese
begründet ist und stetig erneuert wird, ohne ein Segen
zu sein inmitten der feindseligen Außenwelt, ohne die
Übernahme politischer Verantwortlichkeit, ohne das zu¬
nehmende Zurückbleiben und Abfallen der Bindungen
eines im Tod und in der Auferstehung Christi schon
entmächtigten Menschenwesens könnte und würde nie¬
mand ein Christ sein, so gewiß das alles aus der mit
dem Empfang des Evangeliums Ereignis gewordenen Sin¬
neserneuerung (Kap. 12, 2), mit dem in der Taufe voll¬
zogenen Anziehen des Herrn Jesus Christus (Kap. 13,
14) folgt: nicht nur folgen kann oder folgen muß, sondern
notwendig und tatsächlich folgt. Es folgt aber nach Kap.
14 — 15 aus jener Sinneserneuerung oder aus der Taufe
weder notwendig noch tatsächlich dies, daß dieser Gehor¬
sam aller Christen (der Gehorsam jedes Christen, ohne
den keiner ein Christ sein könnte und wäre) in allen
und jeden dieselbe menschlidie Gestalt hat. Wir hörten
in Kap. 12, 3 — 8 bereits von der Verschiedenheit der Ga-
197
ben der einen Gnade. Aber eben weil es sich dort um die
Gaben der Gnade handelte, konnte die Mahnung dort in
Kap. 12, 6f. dodi nur dahin lauten: es möge ein Jeder
von der nun gerade ihm gegebenen Gabe den vollen rück¬
sichtslosen Gebrauch machen, der ihrer Natur entspricht,
um eben damit das Leben eines Gliedes des einen heiligen
Leibes Jesu Christi zu leben — ein Jeder an seinem Ort
und auf seiner Bahn selber das Ganze und eben darum
und so sicher in Besonnenheit. Die Verschiedenheit, von
der in Kap. 14 — 15 die Rede ist, hat mit der Verschieden¬
heit der Gaben nichts zu tun. Hier handelt es sich viel¬
mehr um das verschiedene Empfangen der einen Gnade,
um die menschlich bedingte Verschiedenheit in der Ge¬
stalt des von Allen geforderten Gehorsams. Es gibt
„Schwache im Glauben“ (Kap. 14, 1), denen „Starke“
gegenüberstehen (Kap. 15, 1). Man bemerke, daß Paulus
nicht etwa eine Begründung und Rechtfertigung dieser
Verschiedenheit gibt, sondern daß er sich damit begnügt,
festzustellen, daß sie tatsächlich vorhanden ist. Er sagt
also nicht etwa, daß diese Verschiedenheit einen besonde¬
ren Reichtum der Gemeinde ausmache, daß man sich über
ihr Vorhandensein freuen dürfe oder wohl gar müsse als
über ein Zeichen von Leben oder dergleichen, sondern
er rechnet nur damit, daß sie da ist und gibt Anwei¬
sung, wie man sich dazu zu stellen habe. Und es ist auch
nicht einmal so, daß Paulus sich dieser Verschiedenheit
gegenüber neutral verhielte, daß er beide in gleicher Weise
gelten lassen würde, sondern er läßt keinen Zweifel dar¬
an übrig, daß er — und zwar nicht nur nach seinem
persönlichen Geschmack, sondern als Apostel des Evange¬
liums — die eine dieser Möglichkeiten, die der „Starken“
nämlich, für die bessere hält: nur daß er eben unter
dieser Voraussetzung gerade diese „Starken“ zum rechten
Verhalten den „Schwachen“ gegenüber mahnt und damit
offenbar auch die andere Voraussetzung sichtbar macht:
198
daß es auch solche „Schwache im Glauben“ nun einmal
gibt in der Gemeinde. Er sagt, daß die ganze Gemeinde in
dieser Verschiedenheit ihrer Gestalt und ihres Gehorsams,
sofern und solange sie nun einmal vorhanden ist, sich ge¬
genseitig — nicht als gleichberechtigt anerkennen, auch
nicht bloß dulden, wohl aber aufnehmen, tragen muß:
nicht darum, weil diese beiden verschiedenen Gestalten
gleich gut wären, aber darum, weil das Gute, das noch
besser ist als das Bessere von beiden, eben in diesem
Aufnehmen und Tragen besteht, weil das, was in der Ge¬
meinde „gut“ zu heißen verdient, endlich, letztlich und
entscheidend nur das Gute Jesu Christi sein kann, der
(Kap. 14, 9) der Herr der Toten wie der Lebendigen
ist, der (Kap. 15, 3) nicht sich selbst, sondern als Trä¬
ger der Schmach derer, die Gott schmähen, dem Näch¬
sten gedient hat, der (Kap. 15, 7 f.), indem er die Ver¬
heißung Israels erfüllte, auch die Heiden angenom¬
men hat. Das ist das Gute, das das Gesetz der ganzen
Gemeinde bildet. Im Blick auf dieses Gute hat sie
zu den menschlichen Verschiedenheiten der Gestalt des
christlichen Gehorsams, haben die Christen untereinan¬
der in diesen Verschiedenheiten Stellung zu nehmen. In
der Unterordnung unter dieses Gesetz wird ihr Gehorsam
auch in dieser Verschiedenheit einer sein. Es gibt eine
bessere Gestalt des christlichen Gehorsams. Aber auch sie
ist doch nur menschlich besser: es geht nicht darum, daß
die „Starken“ eine bessere Gnade empfangen hätten als
die Schwachen; es geht nur darum, daß sie sie tatsächlich
besser empfangen haben. Eben darum besteht die Gefahr,
daß gerade sie das Gesetz verletzen könnten, das über
ihnen wie über den Schwachen steht: daß sie sich gegen
die Gnade versündigen könnten, von der die ganze Ge¬
meinde lebt. Es könnte ihr Besseres der Feind des Guten
— eben jenes Guten Jesu Christi selber werden. Das ist es,
was nicht geschehen darf! Das für die ganze Gemeinde gül-
199
tige Gesetz, die eine Gnade, die Alle nötig haben und
die auch Allen gegeben ist, das Gute Jesu Christi muß
auch in der Art triumphieren, wie sie nun tatsächlich seine
besseren Empfänger sind. Würde das nicht geschehen, dann
wären sie nicht nur keine besseren, sondern überhaupt
keine Empfänger dieses Guten! M. e. W.: auch die bessere,
auch die beste Gestalt menschlichen Gehorsams gegen das
Evangelium ist schlechterdings daran gemessen, ist immer
wieder ganz und gar auf die Waage der Entscheidung
gelegt: ob es denn wirklich zum Gehorsam gegen das
Evangelium kommt gerade in dieser Gestalt? Ob sich nicht
etwa der Ungehorsam gegen das Evangelium nun gerade
unter der Gestalt des besseren und besten Gehorsams
ihm gegenüber verstecken und breit machen möchte? Ob
dieser Gehorsam bereit ist, sich als menschliche Gehor¬
samsgestalt in und trotz seiner menschlichen Güte wirk¬
lich vom Evangelium als dem von ihm anerkannten Ge¬
setz her richten und zurecht richten zu lassen?
Die Verschiedenheit der menschlichen Gestalt des christ¬
lichen Gehorsams entstand in der römischen Gemeinde
(wie Paulus offenbar in Korinth erfahren hat) an einer
Frage, die nach 1. Kor. 8, 1 f. ; 10, 23 f. auch die korin¬
thische Gemeinde beschäftigt hat — und die wohl grund¬
sätzlich genommen die Frage ist, an der die hier bespro¬
chene Verschiedenheit noch immer entstanden ist: Es gab
Christen, die es für nötig und richtig hielten, jener in Kap.
13, 11 — 14 von allen Christen mit so besonderem Nach¬
druck geforderten Befreiung von den Bindungen des in
Jesus Christus erledigten und entmächtigten Menschen¬
wesens damit gewissermaßen von sich aus nachzuhelfen,
vielmehr: sich selbst bei jenem „Ablegen der Werke der
Finsternis“ (Kap. 13, 12) damit Stütze und Halt zu ver¬
schaffen, daß sie zu gewissen, von ihnen selbst gewählten
Maßnahmen griffen, die ihnen die große Wendung vom
Alten zum Neuen im Einzelnen und Kleinen erleichtern
200
sollten. Sie errichteten sich so etwas wie ein Geländer,
dem folgend sie den den Christen befohlenen Weg sicherer
gehen zu können gedachten. Sie hielten sich an gewisse
Prinzipien, an denen sie sich auf diesem Weg jeweils
orientieren wollten. Sie erdachten gewisse Übungen, mit
Hilfe derer sie ihren Gang nach dem Worte Gottes regu¬
lieren wollten. Sie haben nach Kap. 14, 2 z. B. vegeta¬
risch gelebt. Sie waren nach Kap. 14, 21 wohl auch Alko¬
holabstinenten. Sie haben nach Kap. 14, 5 auch gewisse
Tage durch eine bestimmte Lebensweise vor anderen aus¬
gezeichnet. Zu anderen Zeiten und unter anderen Umstän¬
den sind zu demselben Zweck bekanntlich noch andere
derartige Maßnahmen vorgeschlagen und in die Tat um¬
gesetzt worden. Paulus setzt ausdrücklich voraus, daß sie
das im Glauben taten: also nicht etwa, um durch gute
Werke das Gesetz Gottes zu erfüllen. Mit Leuten, die
dies, die also einen Rückfall ins Judentum im Schilde führ¬
ten, hat Paulus ganz anders geredet, nämlich so, wie er
es im Galaterbrief getan hat. Die Leute, von denen hier
die Rede ist, wollen nicht durdi ihre Werke gerettet und
selig werden, sie wollen nur ihres Glaubens leben, wol¬
len aber, eben um das tun zu können, jene besonderen
Maßnahmen ergreifen: weil sie sie für unentbehrlich hal¬
ten, weil sie es sich nicht Zutrauen, ohne jenes Geländer,
jene Prinzipien, jene Übungen durchzukommen, weil sie
ohne diese kleine Selbsthilfe aus der Gnade zu fallen be¬
fürchten. Darum nennt sie Paulus — es liegt keine Be¬
schimpfung darin, sondern nur die Feststellung eines Tat¬
bestandes: „Schwadie im Glauben“ (Kap. 14, 1).
Und nun verlangt er (zunächst von der ganzen Gemeinde
als solcher, als deren besondere Vertreter er aber von An¬
fang an die „Starken“ anredet), daß man sie „annehme“.
Annehmen heißt nicht: sie bestätigen, ihnen recht geben.
Annehmen heißt aber auch nicht nur „dulden“, sondern
schlicht, wie das Wort sagt: auch sie sollen (ob nun ihr
201
Vorgehen gut oder weniger gut zu heißen sei) als solche, die
in ihrer Art den gemeinsamen Glauben haben und also
gehorsam sein wollen, ohne Anfechtung wegen dieser ihrer
besonderen Art zur Gemeinde gehören und entsprechend
dieser Zugehörigkeit behandelt werden. „Daß es über
ihren besonderen Meinungen in dieser Sache zu keiner
Scheidung in der Gemeinde komme!“ Es ist nun einmal
so (v. 2), daß die Einen (sie werden erst in Kap. 15, 1
ausdrücklich die „Starken“ genannt werden) im Glauben
von solchen Maßnahmen keinen Gebrauch machen müs¬
sen; die Anderen aber, eben die „Schwachen“ tun es. Erste
Regel (v. 3): es sollen Jene Diese nicht verachten, d. h.
sie sollen ihrem Glauben nicht absprechen, daß er tief
sei. Und es sollen diese Jene nicht „richten“, d. h. sie sollen
ihrem Glauben nicht absprechen, daß er ernst sei. Wer
nur den Weg des Glaubens geht (mit oder ohne Nach¬
hülfe und Geländer), der soll angesehen und behandelt
werden als Einer, den Gott angenommen hat. Christen
sind (v. 4) Knechte, die dem gemeinsamen Herrn ein Jeder
mit seinem eigenen Glauben zu dienen, die also in dem
gemeinsamen Herrn ein Jeder seinen eigenen Richter aber
auch seinen eigenen Erbarmer haben. Sie können einander
unter sich nicht richten um der verschiedenen mensch¬
lichen Gestalt ihres Gehorsams willen. „Richten“ heißt aus¬
schließen. Sie können nicht ausschließen, wo Gott schon
angenommen hat, wo Gott allein über die Treue oder Un¬
treue der von ihm Angenommenen nach seiner Barm¬
herzigkeit entscheiden wird. Audi das Verachten wäre ein
Richten (v. 13!), wie das Richten umgekehrt immer auch
ein Verachten ist. Beides ist gleich unmöglich.
Zweite Regel: es kommt (v. 5) für Alle alles darauf an,
daß ein Jeder auf seinem Weg (den Weg mit oder ohne
Geländer!) seiner Sache, nämlich der Gestalt seines christ¬
lichen Gehorsams völlig gewiß sei: dessen gewiß, daß er
diesen Weg wirklich im Glauben gehen muß und darf.
202
Sollte das Verachten und das Richten nicht in gleicher
Weise davon herkommen, daß die Verächter und die Rich¬
ter ihrer eigenen Sache nicht völlig gewiß sind? Sind sie es,
wie sollten sie dann das Verachten und das Richten nötig
haben? Wie aber kommt ein Jeder zu dieser Gewißheit?
Darauf wird in Vers 6 — 9 die umfassende Antwort ge¬
geben: es ist ein Jeder dann für sich auf dem rechten
Wege — gleichviel ob dieser an sich der bessere oder der
weniger gute ist — , wenn er das, was er tut oder nicht
tut, „für den Herrn“, für Jesus Christus, zur Bezeu¬
gung seiner Zugehörigkeit und Liebe zu ihm und also
— denn das muß der Grund solchen Zeugnisses sein —
aus Dank gegen Gott tut oder nicht tut. Was ein Werk
dieses Dankes ist, das ist als solches ein gutes Werk des
Glaubens: kein „Werk der Finsternis“ (Kap. 13, 12!), aber
auch kein Gesetzeswerk zur Umgehung und Verleugnung
der freien Gnade Gottes — gleichviel, ob es in Anwen¬
dung oder Nichtanwendung jenes Geländers, jener Prin¬
zipien und Übungen bestehe. Wir können weder mit der
einen noch mit der anderen Gestalt unseres Gehorsams
etwas für uns selbst wollen. Wir können uns ihrer auf
alle Fälle nur „für den Herrn“ zu jener Dankesbezeugung
bedienen wollen. Können wir doch weder für uns selbst
leben, noch für uns selbst sterben. Sind wir doch lebend
und sterbend des Herrn Eigentum. Hat er uns doch durch
sein Sterben und Leben zu seinem Eigentum erworben, un¬
ser Leben und Sterben unter seine Herrschaft und also in
seinen Dienst gestellt, unsere Existenz prädestiniert dazu,
daß sie auf alle Fälle, unter allen Umständen und auf der
ganzen Linie in jener Dankesbezeugung bestehen muß.
Was bleibt uns schon übrig, als daß jede menschliche Ge¬
stalt, die wir unserem Gehorsam geben können, jede Mög¬
lichkeit, in der wir unseren Glauben leben mögen — wel¬
ches unsere Wahl nun auch sei und wie auch das göttliche
und das menschlidie Urteil über diese unsere Wahl aus-
203
fallen möge — auf alle Fälle eine Gestalt und Möglich¬
keit jenes Dienstes und jener Dankesbezeugung sein wird.
Sind wir lebend und sterbend des Herrn — wie sollte
dann auch nicht hinsichtlich der Wahl, die wir unter jenen
Gestalten und Möglichkeiten unseres Glaubens zu treffen
haben, dies die Frage aller Fragen sein: daß wir diese
Wahl so oder so nur als die, die dem Herrn gehören und
nur in Bezeugung dieser unserer Hörigkeit treffen und
aufrechterhalten dürfen. Tut das ein Jeder — und das
ist’s, was ein Jeder zu tun, das ist’s aber auch, was ein
Jeder dem Anderen zuzutrauen und das ist es wieder¬
um, worin ein Jeder den Anderen zu bestärken hat —
dann darf und soll ein Jeder seiner Sache gewiß und
zwar völlig gewiß sein. Bist du deiner Sache völlig gewiß
(v. 10), was richtest, was verachtest du dann deinen Bru¬
der? Wie kommst du dann dazu, ausschließen zu wollen,
wo deine ganze Sorge nur darauf gerichtet sein könnte,
in der Gewißheit deines Glaubens, in deiner Dienstleistung,
deiner Dankesbezeugung nicht müde, an ihr nicht irre zu
werden, immer genauer sich an das zu halten, was dir
befohlen und anvertraut ist, damit du dem Richter ent¬
gegengehen könnest als dem, der dir seine Barmherzigkeit
zugesagt und in seiner Zusage schon erwiesen hat, um auf
Grund seines Urteils endlich und zuletzt selber einge¬
schlossen zu sein und zu bleiben? Hat sich (v. 11) das
Knie des Anderen vor mir oder habe ich das meinige vor
ihm zu beugen? Hat er mich (meine menschliche Gehor¬
samsgestalt) oder habe ihn ihn (die seinige) zu preisen?
Offenbar keines von beiden. Wir werden vielmehr gemein¬
sam ihm uns zu beugen haben, den preisen dürfen, dem
wir beide untertan sind, wenn wir nur — so oder so,
in besserer oder weniger guter Gestalt — ihm wirklich
gehorsam sind.
Also dritte Regel (v. 12): es ist die Verantwortung,
die ein Jeder zu tragen und zu leisten hat diejenige,
204
die ein Jeder für sich selbst und gerade dann und so
in wahrhafter Gemeinschaft mit dem Anderen tragen
und leisten soll. Aber das ist das letzte Wort noch nicht.
Für was sind wir verantwortlich? Ein Jeder für sich selbst,
für unsere Dienstleistungen und Dankesbezeugungen, hör¬
ten wir. Aber in was bestehen diese gerade angesichts der
Tatsache, daß ihre menschliche Gestalt so verschieden sein
kann?
Sie bestehen (4. Regel!) darin, daß wir in Voll¬
streckung der von uns getroffenen Wahl dem Bruder,
dem Anderen, der in seiner Weise mit uns glaubt,
nicht Anstoß geben, ihn nicht verführen, sondern nach
Vers 19 nach dem trachten, was zum Frieden, was zur
Erbauung untereinander dient. „Anstoß geben“ heißt
nicht einfach: befremden, auf regen, ärgern, verdrießen.
Es ist für den Schwachen sehr befremdend und vielleicht
sehr verdrießlich, daß es auch Starke gibt und umge¬
kehrt. Und daraus pflegt es dann zu dem gegenseitigen
Verachten und Richten allerdings zu kommen. Daß wir
einander dazu überhaupt keinen Anlaß bieten sollten, uns
zu richten oder zu verachten, das ist nicht, was von uns
verlangt ist. Das kann darum nicht von uns verlangt sein,
weil es ja dann jene besonderen Wege besonderen Lebens
im Glauben, jene verschiedenen Gestalten menschlichen Ge¬
horsams überhaupt nicht geben dürfte, was Paulus offen¬
bar — indem er die eine für besser hält als die andere
— nicht sagen will. Es ist aber von uns verlangt, daß wir
einander nicht richten, nicht ausschließen sollen. Und dies
ist es, was damit geschehen würde, wenn wir einander
„Anstoß und Verführung bereiten“, d. h. wenn wir einan¬
der darin irre machen würden, daß ein Jeder bestimmt
nur den Weg seines Glaubens und keinen anderen gehen
darf. Es könnten die Schwachen den Starken zur Ver¬
suchung werden, ihrerseits für unentbehrlich zu halten,
was ihnen in Wirklichkeit gar nicht unentbehrlich ist. Es
205
könnten aber auch umgekehrt — und daran ist Paulus
hier fast ausschließlich interessiert — die Starken den
Schwachen zur Versuchung werden, ihr Geländer, ihre
Prinzipien, ihre Übungen fahren zu lassen, wo sie sie
doch ihrem Glauben gemäß — wenn dieser echte Dienst¬
leistung und Dankesbezeugung sein soll — gar nicht
fahren lassen dürften. Paulus erklärt in Vers 14 a sehr
bestimmt, was er über jene Maßnahmen der Schwachen
denkt: „Ich weiß und bin im Herrn Jesus überzeugt, daß
nichts an und für sich unrein ist“. Alles ist rein“ (v. 20
— „den Reinen“ ist wohl späterer Zusatz!) M. e. W.: Es
gibt keine objektive Notwendigkeit für jene Schutz- und
Sicherheitsmaßnahmen. Man soll sie nicht für Gottes Ge¬
setz halten und ausgeben. Wer sie ergreift, der tut es
auf seine eigene Verantwortung. Es gibt aber nach Vers
14 b eine subjektive Notwendigkeit solcher Maßnahmen:
da, wo ein Christ mit dem Tun des an sich Reinen für
seine Person tatsächlich etwas tun würde, was für ihn
nicht Dienstleistung für den Herrn, nicht Dankesbezeu¬
gung gegen Gott wäre. Kann er es im Glauben nicht
tun, dann ist es für ihn unrein, Sünde (v. 23). Dies ist es,
was der Andere, der „Starke“ zu bedenken hat. Er darf
mit dem, was er tut, den Schwachen unter gar keinen
Umständen dazu veranlassen, seinerseits zu tun, was für
ihn Sünde ist. Die objektive Reinheit aller Dinge in
Ehren — in Ehren auch seine eigene Reinheit im Ge¬
brauch aller Dinge — er hat aber darüber hinaus nicht
die Vorurteile, nicht die Engstirnigkeit, nicht den Fana¬
tismus und dergleichen des Schwachen, wohl aber den
Schwachen selbst, nämlich seinen Glauben, in Ehren zu
halten; er hat die bedrohte Reinheit des Schwachen zu
bedenken und zu berücksichtigen. Er darf ihn nicht ver¬
anlassen, zu tun, was für ihn ein unreines, ein seinem
Glauben nicht entsprechendes Tun wäre. Der Zustand, in
den der Schwache dadurch versetzt würde, wird in Vers
206
15 „Betrübnis“ genannt. Gemeint ist die traurige Lage
dessen, der seinen einzigen möglichen Halt verloren hat.
Das kann geschehen, das geschieht sogar unvermeidlich,
wenn er sich nicht streng daran hält, seinen Weg so zu
gehen und einzurichten, wie er es nach seinem Glauben
an das Wort Gottes, als der Empfänger der Gnade, der er
nun einmal ist, tun muß. Veranlasse ich ihn dazu, so
heißt das — und wenn mein objektives Recht noch so
groß wäre — , daß ich ihn zum Ungehorsam veranlasse,
was dann für mich selbst sofort heißt, daß ich nicht gemäß
der Liebe wandle, daß ich für mich selbst jenes Lebens¬
elementes der Gemeinde entbehre, daß ich an meinem
Teil der Welt das schuldig bleibe (Kap. 13, 8), was idi
ihr als Christ unter keinen Umständen schuldig bleiben
dürfte: ich zerstöre dann die Gemeinde, die ich, damit sie
ein Licht für die Welt sei, bauen sollte. Ich bringe dann
den ins Verderben, für den Christus gestorben ist. Denn
das ist sein Verderben, wenn er aufhört, seines Glaubens
zu leben — auch dann, wenn es ein objektiv besseres
Leben im Glauben gibt als das seinige, auch dann, wenn
ich noch so gut in der Lage bin, es ihm vorzuleben. Ist
es nicht das seinige und kann es das nicht werden, so bin
ich sein Verführer und also ein Schädling der Kirche,
wenn ich ihm mein Besseres so oder so aufdränge. Ich
habe (v. 16) mit ihm gemeinsam ein „Gutes“ zu hüten,
vor Profanierung zu bewahren. Dieses Gute — das Gute
des Reiches Gottes, dessen Offenbarung die Christen ent¬
gegengehen — besteht aber (v. 17) nicht in den verschie¬
denen menschlichen Gestalten unseres Gehorsams als sol¬
chen, also gewiß nicht in seinem Vegetariertum oder in
seiner Abstinenz, aber ebenso gewiß auch nicht in meinem
unbeschwerten Essen oder Trinken, sondern jenseits dieser
Gegensätze in der Gerechtigkeit, dem Frieden und der Freu¬
de als den Gaben des Heiligen Geistes, aus und mit denen
ein Jeder auf seinem Weg leben darf, sofern er der Weg
207
seines Glaubens ist und sofern er ihm als solchen treu
bleibt. Wir können (v. 18 — 19) Christus nur darin dienen,
Gott nur darin wohlgefällig und auch unter den Men¬
schen nur darin brauchbar sein, daß wir einander gegen¬
seitig veranlassen und darin bestärken, eben diesen Weg
immer wieder zu suchen, dann aber auch zu gehen,
gleichviel, ob er der unsrige sei oder nicht. Das heißt Frie¬
den, das heißt gegenseitige Erbauung in der Gemeinde,
und daß es dazu komme, das ist der positive Sinn dieser
wichtigsten, der vierten Regel des Paulus. Ihre Anwen¬
dung kann aber nach Vers 20 — 21 für den Starken ge¬
radezu das bedeuten, daß er selbst — nicht um seines
Glaubens, aber um des Glaubens des Schwachen willen,
nicht in Verleugnung seines Glaubens, nicht etwa aus
Furcht vor dem Richten des Schwachen (wie Petrus in
Antiochien Gal. 2, 11 f.), sondern in der Furcht Gottes,
in der Furcht davor, den Schwachen in jenes Verderben
zu bringen — seinerseits unterlassen wird, was jenem,
wenn er ihn unter Verleugnung seines Glaubens nach¬
ahmen, wenn er etwa umgekehrt ihn fürchten sollte, zu
diesem Verderben gereichen würde. Es ist der Vorsprung
des Starken vor dem Schwachen, daß er diesem in solcher
Weise beispringen kann: wer ohne Geländer gehen kann,
kann es offenbar auch mit Geländer; wer keine Prinzi¬
pien braucht, kann sie offenbar auch gelten lassen; wer
nicht auf Übungen angewiesen ist, kann sie offenbar auch
einmal mitmachen. Wie sollte er der Stärkere sein, wenn
er das, was der Schwächere kann, etwa nicht könnte? Er
wird aber tatsächlich tun, was er auch kann, wenn es
darum geht, den Bruder nicht fallen zu lassen, das Werk
Gottes, das in der Gemeinde auch durch diesen Bruder ge¬
schehen soll, nicht zu zerstören. Gerade der Glaube, den
er selbst hat (v. 22a) und der ihm, ginge es nur um
seine Person, erlauben, ja gebieten würde, ganz und gar
geländerlos und unprinzipiell und ohne alle und jede be-
208
sondere Übung seinen Weg zu gehen — gerade dieser
Glaube kann ihm und wird ihm in diesem Fall, weil er
ihn nidit nur für sich selbst, sondern vor Gott hat, er¬
lauben und gebieten, Rücksicht zu nehmen. Es bleibt da¬
bei: er müßte sich selbst an sich nicht verurteilen, wenn
er täte, was er jetzt um des Andern willen unterläßt
(v. 22b). Er weiß aber auch (v. 23), daß er schon verurteilt
wäre, wenn er es zweifelnd, wenn er es nicht im Glau¬
ben, wenn er es nicht in voller Verantwortlichkeit, im
Vollzug der seinem Glauben entsprechenden Dienstleistung
und Dankesbezeugung, wenn er es bloß aus irgend einer
Lust des Zufalls täte. Er weiß, daß, was nicht aus Glau¬
ben geschieht, Sünde ist. Und sieht er nun den Schwa¬
chen eben in dieser Gefahr, dann wird er ihn in der
Anwendung jener Maßnahmen damit unterstützen, daß
auch er selber sich ihnen unterzieht, ohne daß er sie für
sich nötig hätte: lieber das, als daß er ihm Anlaß geben
würde, sich in eine Freiheit zu begeben, die für ihn, den
Schwachen, weil er nun einmal schwach ist, gerade keine
Freiheit wäre.
Man könnte sidi ohne allzu große Mühe eine ent¬
sprechende apostolische Ansprache und Mahnung an
die Schwachen vorstellen. Aber es entspricht wohl dem,
daß die ganze apostolische Mahnung sich an die Ge¬
horsamen und nicht an die Ungehorsamen richtet, wenn
sie nun in diesem Zusammenhang tatsächlich nur an die
Starken und nicht an die Schwachen ergeht. Was diesen zu
sagen wäre, könnte ja auch nur in der Bestätigung und
Erklärung bestehen, daß sie tatsächlidi die Schwachen
sind und in der Mahnung, daß sie sich doch ja nicht etwa
plötzlich, wie es manchmal vorkommt, als die Starken,
als die eigentlichen und besseren Christen ausspielen und
ausgeben sollen. Von einem Recht dazu kann gar keine
Rede sein. Aber Paulus hat ihnen das nicht anders als
eben mit ihrer Bezeichnung als „Sdiwache“ und mit der
209
schlichten Mahnung vorgehalten, daß sie ihrerseits nicht
richten sollten. Sein ganzes Interesse, die ganze Wucht sei¬
ner Mahnung gilt den Starken, die er jetzt (Kap. 15, 1)
auch ausdrücklich — und indem er sich selbst ausdrück¬
lich zu ihnen bekennt — darauf anredet, daß sie eben
als die Starken schuldig, verpflichtet sind, die Schwachheit
der Ungefestigten (das sind die Anderen!) zu tragen
und nicht sich selbst zu Gefallen zu leben. Sie sind inso¬
fern die Starken, als ein geiänder- und prinzipienloses,
auf besondere Übungen verzichtendes Leben dem Wesen
ihres Glaubens als Bezogenheit auf Jesus Christus ganz
allein zweifellos besser entspricht als ein solches unter
Zuhilfenahme von allerlei selbstgewählten menschlichen
Möglichkeiten, Geboten und Verboten. Aber eben: Dieses
Bessere kann und darf doch nicht der Feind des Guten
(v. 2 vgl. Kap. 14, 16) werden. Der Starke im Glauben,
der sich selbst zu Gefallen leben wollte, wäre ein hölzer¬
nes Eisen. Daß der Christ nicht sich selbst lebt und stirbt,
sondern dem Herrn (Kap. 14, 7), das bedeutet konkret:
er lebt seinem Nächsten zu Gefallen — nicht so wie es
seinem Nächsten gefällt, sondern so, daß seinem Näch¬
sten damit das zu Gefallen geschieht, was ihm zu Gefallen
geschehen muß — er lebt für das in der Erwartung der
Offenbarung des Reiches Gottes gemeinsam mit seinem
Nächsten zu hütende Gute; er lebt für die Auferbauung
der Gemeinde. Gerade weil der Glaube Bezogenheit auf
Jesus Christus ganz allein ist (v. 3), kann das nicht anders
sein. Denn eben Christus hat nicht sich selbst zu Gefallen
gelebt. Hätte er das getan, dann hätte er (Phil. 2, 6 f .) seine
göttliche Gestalt für eine gute Beute angesehen und für
sich behalten. Nun aber hat er sich ihrer entäußert, hat
Knechtsgestalt angenommen und ist den Menschen gleich
geworden: er hat die Schande derer, die Gott schänden,
auf sich selbst genommen und getragen. Um die Entspre¬
chung dieses seines Tuns handelt es sich im Glauben, ge-
210
rade indem dieser unsere Bezogenheit auf Jesus Christus
allein ist. Wie wäre da starker Glaube, wie wäre da
überhaupt Glaube, wo es zu dieser Entsprechung nicht
käme? Indem uns die ganze heilige Schrift des Mose und
der Propheten Christus als den bezeugt, der sich für uns
gedemütigt hat, wie eben nur der lebendige Gott sich de¬
mütigen kann in seiner allmächtigen Barmherzigkeit —
eben damit und nicht anders bezeugt sie den Glaubenden
die Hoffnung, die Beharrlichkeit, den Trost, von dem sie
als Glaubende leben dürfen, neben dem sie zu einem vor
Gott rechten Leben etwas Anderes tatsächlich nicht nötig
haben, in dem sie völliges Genügen haben, so daß alle
Selbsthilfe oder auch nur Nachhilfe objektiv unnötig ist.
Aber eben indem die Schrift dieses Christus und in Chri¬
stus diesen Gott bezeugt, kann es (V. 5 — 6) nicht anders
sein, als daß dieser Gott unter den an ihn Glaubenden
und durch ihn Lebenden die Einheit herstellt, die dem
Willen Jesu Christi, die seinem Bilde und insofern weder
dem Bilde der Schwachen noch dem der Starken ent¬
spricht, in der aber beide miteinander unter allen Um¬
ständen statt sich selber zu Gefallen zu leben, Gott prei¬
sen dürfen und werden in der Gemeinde und als Ge¬
meinde in der Welt. In dieser Einheit des Glaubens und
seiner Erfüllung im Lobpreis Gottes werden sie einander
(v. 7) annehmen, so wie sie selber alle miteinander ja
nur Angenommene sind, so wie sie selber außer diesem
Angenommensein als Christen gar keine Existenz, in die¬
sem Angenommensein ihr Ein und Alles haben. Was be¬
sagt demgegenüber die Verschiedenheit ihres eigenen An-
nehmcns, ihres besseren oder weniger guten Gehorsams¬
weges? Noch und noch einmal sollen sie (v. 8 — 12) schlicht
an Jesus Christus selber denken, der als Messias der
Juden die Treue und gerade darum als Heiland der Welt
die Barmherzigkeit Gottes offenbar und wirklich gemacht
hat auf Erden, um so aus dem einen Volk und den
211
vielen ein einziges zu machen. Das ist doch das große
Annehmen, auf Grund dessen es auch in Rom Kirche
Jesu Christi gibt. Was wären die dortigen Starken im
Glauben ohne dieses große Annehmen und Hineinneh¬
men der Heiden zu dem einen Volke Gottes? Und was
ist schon ihr Gegensatz zu den Schwachen neben dem
Gegensatz von Licht und Finsternis, den Jesus Christus
dort überwunden hat? Wir beachten, daß die Mahnung
hier (v. 13, wie schon v. 5 — 6) ins Gebet, in die Für¬
bitte übergeht. In Vers 13 sogar so, daß der besondere
Inhalt dieser Kapitel gar nicht mehr erwähnt wird. Es
bedarf nur dessen, daß dieses Gebet gebetet und erhört
werde, so wird auch das, wozu Paulus hier — und wozu
er von Kap. 12, 1 ab — „ermahnt“ hat, geschehen: „Der
Glaube der Hoffnung erfülle euch mit aller Freude und
allem Frieden, indem ihr glaubt, damit ihr reich werdet
in der Hoffnung durch die Macht des Heiligen Geistes!“
212
15, 14 — 16, 27
Der Apostel und die Gemeinde
Daß der Römerbrief ein wirklicher Brief ist, von einem
bestimmten Menschen in bestimmter Zeit und Lage an
bestimmte andere Menschen gerichtet, das wird uns in
diesem Schlußteil, wenn wir es etwa vergessen haben soll¬
ten, noch einmal bestimmt in Erinnerung gerufen. Es ist
zum Verständnis des Ganzen notwendig, daß man das vor
Augen habe. Gerade das Evangelium, dessen entscheiden¬
den Inhalt und dessen Begegnung mit dem Ungehorsam
und mit dem Gehorsam der Menschen Paulus in diesem
Brief umschrieben hat, darf niemals als eine gewisser¬
maßen im leeren Raum schwebende „Wahrheit“ — ge¬
rade das Evangelium kann nach dem biblischen Begriff
des Wortes Wahrheit nur als eine zwischen Mensch und
Mensch stattfindende Eröffnung des Geheimnisses Gottes
und also als ein geschichtliches Ereignis vorgestellt und
verstanden werden. Der im Evangelium Gott heißt, ist
ja Mensch geworden. Was im Evangelium Ewigkeit heißt,
hat ja die Zeit erfüllt. Was im Evangelium Geist heißt,
das wohnt ja in sterblichen Leibern (Kap. 8, 11). Das
Evangelium existiert nie und nirgends an sich und für
sich, sondern immer in bestimmten Zeiten mit ihren Um¬
ständen. Immer in den bestimmten Personen der Boten,
die es ausrichten und in den bestimmten Personen derer,
die die Botschaft empfangen. Es existiert auch im Römer¬
brief nicht anders. Das ist es, was diesen seinen Schluß
wichtig macht, in welchem wir zwar sachlich in der Haupt¬
sache keine weitere Belehrung mehr empfangen, in wel-
213
chem dafür eben dies wieder sichtbar wird: daß wir es
mit einem ums Jahr 58 von Korinth nach Rom geschrie¬
benen Brief, mit dem Apostel Paulus in einem besonde¬
ren Stadium seines Lebensweges und mit einer besonde¬
ren unter den Christengemeinden jener ersten Zeit zu tun
haben.
Was wir zunächst in Vers 14 — 21 zu lesen bekommen,
ist im Rückblick auf den ganzen Brief geschrieben. Pau¬
lus ist sich nach Vers 15 (vgl. auch v. 18) dessen be¬
wußt, den römischen Christen „teilweise etwas kühn“ ge¬
schrieben, ihnen gegenüber mit diesem Briefe etwas ge¬
wagt zu haben. Wir wissen nicht direkt, auf was sich
Paulus hier im besonderen bezogen hat: sicher nidit etwa
auf die Ausführlichkeit seiner Darlegungen und sicher
auch nicht nur auf die Mahnungen des vorangehenden
Kapitels, obwohl die Dringlichkeit, in der da eine nicht
von ihm gegründete und ihm sonst auch nur teilweise
bekannte Gemeinde angeredet wird, zu der erwähnten
„Kühnheit“ auch gehören mag. Es liegt doch, wenn man
den Eindruck offen reden läßt, den man von diesem gan¬
zen Apostelbrief von Anfang an noch heute hat, am näch¬
sten, vor allem eben an das Ganze dieser Darlegung zu
denken. Viel Ungewohntes und darum Überraschendes
haben auch wir seinen wenigen Blättern auf Schritt und
Tritt entnehmen müssen. Viel seltsame, bald unvermutet
rasch, bald unvermutet langsam vollzogene Schritte hatten
wir mitzumachen. Viel radikalen, aufregenden, in ihren
Konsequenzen scheinbar oder wirklich geradezu gefähr¬
lichen und anstößigen Sätzen sind wir begegnet. Welche
Rücksichtslosigkeit gegenüber allen sonst bekannten christ¬
lichen und nichtchristlichen Standpunkten und Anschau¬
ungsweisen! Welche Anforderungen an unsere Fähigkeit
und Willigkeit, aus allen Burgen und Zelten der Freiheit
und der Gebundenheit, der Bürgerlichkeit und der
Boheme, der Moral und der Amoral, der Gottes- und der
214
Weltkindlichkeit heraus — und bei dem hier zur Sprache
gebrachten Erkennen und Bekennen mitzukommen: im¬
mer um neue Kurven herum mitzukommen! Welcher
Ausleger empfände hier nicht das Bedürfnis sich zu ent¬
schuldigen mit dem Hinweis darauf, daß das Alles nicht
in ihm, sondern wirklich im Text dieses Briefes seine
Ursache hat? Der Tatbestand, der uns hier nodi heute
in die Augen springt, ist schon in der neutestamentlichen
Zeit selbst empfunden worden. Die am Anfang unserer
Vorlesung erwähnte Stelle in 2. Petr. 3, 15 — 16 mag jetzt
ausdrücklich zu Worte kommen: „Haltet die Langmut
unseres Herrn für euer Heil, wie auch unser geliebter
Bruder Paulus nach der ihm verliehenen Weisheit euch
geschrieben hat, wie auch in allen Briefen, wenn er in
ihnen hiervon redet: in denen sich einiges Schwerver¬
ständliche findet, was die Unwissenden und Ungefestigten
verdrehen — wie auch die übrigen Schriften — zu ihrem
eigenen Verderben“. Es ist die „Kühnheit“ des Paulus
(und zweifellos nicht zuletzt, sondern zuerst die Kühnheit
gerade des Römerbriefes), auf die mit diesen Worten
schonend aber deutlich hingewiesen wird. Sie war, wie
unsere Stelle zeigt, auch dem Paulus selbst bewußt. Was
hat er dazu zu sagen? Man muß hier vor allem Vers 14
beachten, wo er seinen Lesern das nach allem Voran¬
gehenden gewiß erstaunliche Zugeständnis madit, daß er
nicht nur von der Fülle ihrer guten Gesinnung, sondern
auch davon überzeugt sei, sie seien voll Erkenntnis und
fähig, sich selbst gegenseitig zu unterrichten. Wozu dann
der ganze Römerbrief in seiner ganzen Kühnheit? Nun,
sagt Vers 14, jedenfalls nicht dazu, um seinen Lesern
etwas Neues, etwas Anderes, etwas von dem, was sie als
Christen schon gehört haben und schon wissen, Verschie¬
denes zu sagen. Das Alte neu, ja, aber nichts Neues! Das
Eine anders, ja, aber nichts Anderes! Ein größerer Gegen¬
satz ist gar nicht denkbar als der zwischen einem Apostel
215
und einem genialen Stifter neuer Religion und Weltan¬
schauung. Als Zeuge des auferstandenen Jesus Christus
und also als Ausleger des Mose, der Propheten und der
Psalmen hat Paulus im Römerbrief geredet. Er hat also
tatsächlich nichts gesagt, was nicht grundsätzlich ebenso
gut irgend ein Christ dem anderen sagen könnte. Er hat
nur wiederholt, was die Christen, zur Kirche zusammen¬
gerufen, längst gemeinsam gehört haben. Er hat geschöpft
aus der Quelle der Erkenntnis, die auch in der Gemeinde
zu Rom offen und zugänglich ist. Er hat nichts Anderes
als ihr eigenes Bekenntnis ausgesprochen und erläutert.
Hat er nun nach Vers 15 doch „teilweise etwas kühn“
geschrieben, so geschah das, „um euch eine Erinnerung
zu geben“, also eben: um ihnen das ihnen schon Be¬
kannte zu wiederholen, neu und frisch vor Augen zu
stellen. Eben indem er das tut, kommt es zu jener
„Kühnheit“. Eben diese Repetition hat notwendig den
Charakter einer Revolution. Aber warum gerade dann,
wenn Paulus der Repetitor ist? Warum hat es in der
ganzen Kirchengeschichte noch immer Unruhe gegeben,
wenn gerade Paulus und gerade der Römerbrief wieder
aufmerksam gelesen und unerschrocken ausgelegt wurde?
Wenn Paulus nun sagt, daß er seinen Lesern diese Er¬
innerung gegeben hat, „kraft der ihm von Gott verliehe¬
nen Gnade, so verwahrt er sich damit offenbar gegen die
Vermutung, es könnte irgend eine Eigenart seiner Per¬
sönlichkeit, es könnte seine christliche Originalität oder
dergleichen sein, was bei dieser Erinnerung als „Kühn¬
heit“ wirksam werde. Die Sache liegt nach Vers 16 ganz
anders: Darum muß Paulus so reden und schreiben, wie
er es tut, weil sein Amt ein so ganz außerordentliches
ist. Was tut nämlich Paulus? Er verkündigt das Evan¬
gelium. Aber eben das ist eine Sache, die mit der Tätig¬
keit eines Redners oder Schriftstellers — obwohl es dabei
ohne viel Reden und Schreiben nicht abgeht — im Grund
216
nichts zu tun hat. Sie ist vielmehr in Wahrheit die Tätig¬
keit eines Opferdieners, eines Leviten, der das, was zu
opfern ist, für den das Opfer vollziehenden Priester zu¬
zubereiten hat. Der Priester ist Jesus Christus. Das Opfer
sind die Heiden. Und Alles, was Paulus tut mit seinem
Reden und Schreiben, ist nichts als das Zudienen, durch
das dieses Opfer für diesen Priester brauchbar, durch
das es zu einem Gott wohlgefälligen Opfer gemacht wird.
Es geht um die Heiligung der Heiden durch den Heiligen
Geist. Und es ist die Beteiligung des Paulus an diesem
Wunderwerk der göttlichen Erwählung und Berufung, bei
dem unbegreiflichen Aufgehen dieser Türe zwischen Israel
und den Völkern, die seinem Reden und Schreiben, die
auch seinem Brief an die Römer jene Kühnheit gegeben
hat. Es bildet (v. 17) dieses sein Amt — nicht kraft
seiner menschlichen Würdigkeit dafür, aber kraft dessen,
daß es ihm von Jesus Christus verliehen ist, als Amt des
Hilfsdienstes an dessen eigenem Dienst — seinen Ruhm,
seine Ehre und Rechtfertigung Gott gegenüber. Sein Amt
ist der Grund dessen, was seinen Hörern und Lesern als
kühn, als neu und sonderbar an ihm auffallen mag. Was
er auch wagen mag in seinem Reden und Schreiben (v.
18 — 19) — er wird bestimmt nichts Anderes sagen als eben
das, was Christus durch dieses sein Amt wirklich gemacht
hat. Er wird Christus bezeugen als den Priester, der im
Begriff steht, die verlorene Welt der Heiden als wohl¬
gefälliges Opfer Gott darzubringen. Paulus steht nun ein¬
mal selber als Erster überrascht und betroffen von der
Tatsache jenes Wunderwerkes, daß heute die Heiden zum
Gehorsam gerufen werden durch Gottes Worte und Taten,
durch die Kraft der von Gott gegebenen Zeichen und
Wunder, durch die Kraft des Geistes. Paulus steht vor der
Tatsache, daß er „das Evangelium von Christus von Jeru¬
salem im Bogen bis nach Illyrien fertig gemacht“ hat.
Die beiden Ortsbezeichnungen in diesem Ausdruck sind
217
nicht wörtlich, sondern als Bezeichnung der Endpunkte
des Gebietes zu verstehen, das Paulus auf seinem bis¬
herigen Weg durchlaufen hat. Und „fertig machen“ hat
mit dem zweifelhaften modernen Begriff „Durchevangeli-
sieren“ natürlich nichts zu tun, sondern will sagen: daß
diese ganzen Gebiete mit den darin wohnenden Völkern
von seiner Verkündigung erreicht wurden, daß das Licht
des Evangeliums in diesen ganzen Gebieten an genügend
vielen Orten angezündet worden ist, um die daselbst vor¬
her herrschende Finsternis zu brechen, um — ohne Rück¬
sicht auf die größere oder kleinere Zahl der da und dort
zum Glauben Gekommenen — die Feststellung zu er¬
lauben, daß dieser ganze Bereich, die ganze diesen Be¬
reich bevölkernde Menschheit den Namen Jesu Christi
vernommen hat. Und war (nach v. 20 — 21) der Grund¬
satz, dem Paulus auf diesem ganzen Weg treu geblieben
ist, der: auf alle Anknüpfung an frühere von Anderen
geleistete Missionsarbeit, auf alles „Bauen auf fremdem
Grund“ zu verzichten und sich an die und nur an die
Orte und Gegenden zu halten, wo Christus noch nicht
bekannt gewesen war und also Jes. 52, 15 in seiner
wörtlichen Wahrheit kennen zu lernen: „Die von ihm keine
Kunde bekommen hatten, die werden sehen, und die nicht
gehört haben, die werden verstehen“. Wir müssen hier
daran denken, in welchen Tönen eines völlig Überrasch¬
ten und Verwunderten Paulus schon früher, besonders in
Kap. 9 — 11, von diesem Ausbruch des Evangeliums aus
der Enge Israels in die Weite der Heidenwelt, aus seinem
natürlichen Wurzelboden hinein in jene gänzliche Fremde
geredet hat. Es ist so gar nicht selbstverständlich, sondern
es ist wirklich Gottes Wunderwerk, es ist anders als von
der Auferstehung Jesu Christi her tatsächlich nidit zu er¬
klären, was da geschehen ist. Von dieser Geschichte kommt
der Paulus her, der den Römerbrief geschrieben hat. Nicht
er hat diese Geschichte gemacht; aber in dieser Geschichte
218
ist er wirksam gewesen; als ihr Zeuge redet und schreibt
er und darum so kühn, darum so neu und sonderbar.
Er redet und schreibt als der Mann, dem darin, daß er
jenen Dienst tun durfte, das Erbarmen Gottes zu einer
immer unbegreiflicheren, aber auch immer handgreifliche¬
ren Tatsache geworden ist. Wer das nicht so sieht, dem mag
es erlaubt und möglich sein, weniger kühn zu reden und
zu schreiben, seinen Hörern und Lesern weniger Fragen
und Rätsel aufzugeben. Wen das Erbarmen Gottes, wen
die Versammlung der Heiden zu Israel weniger verwun¬
dert, der mag sich dann in seiner Darlegung des Evan¬
geliums auch weniger verwunderlich äußern als Paulus
es getan hat — der mag sich behüten vor der großen
Wunderlichkeit, in der sich Paulus über diese Sache ge¬
äußert hat. Aber wer kann sich hier eigentlich behüten
wollen? Wem müßte diese Sache im Grunde nicht ebenso
verwunderlich sein, wie sie es dem Paulus gewesen ist?
Wer kann im Grunde eine andere Rede von dieser Sache
zu hören begehren, als eben die wunderliche Paulusrede?
Ist nicht gerade das Außerordentliche des Römerbriefes
das, was in dieser Sache als das allein Ordentliche be¬
zeichnet werden muß? War es also nicht notwendig, daß
es gerade die Gestalt des Paulus war, die sich der Chri¬
stenheit von Anfang an, so befremdend sie ihr immer
wieder war, als die Gestalt des Apostels eingeprägt hat?
Und kommen wir darum herum, uns gerade mit ihm als
mit dem Apostel des Evangeliums auseinanderzusetzen
oder vielmehr zusammen zu tun — nicht trotz, sondern
gerade wegen der „Kühnheit“ seiner Rede? Es könnte
ja doch sein, daß man sich da vor dem Evangelium selbst
behütet, wo man sich vor der paulinischen Kühnheit durch¬
aus und endgültig behüten wollte!
Der Abschnitt Vers 22 — 33 redet von den Zukunfts¬
plänen des Paulus. Er wollte (v. 22, vgl. Kap. 1, 13)
die Gemeinde in Rom schon lange besucht haben. Vieles
219
— und offenbar auch sein besonderer Auftrag (im Sinne
von Vers 20 — 21) — hat ihn bis jetzt davon zurückgehal¬
ten. Nachdem er jetzt jenen Bogen (v. 19) vollendet hat,
möchte er nach Spanien reisen, unterwegs auch die römi¬
sche Gemeinde besuchen, sich, wie in Kap. 1, 11 f. bereits
beschrieben, mit ihr zusammen stärken und schließlich aus
ihrer Mitte ein Geleite für jenes weitere Unternehmen
empfangen dürfen. Aber noch steht ihm (v. 25 f.) eine
Reise in gerade umgekehrter Richtung bevor: nach
Jerusalem, um jene von den Gemeinden in Mazedonien
und Griechenland beschlossene und erhobene Kollekte für
die dortigen Armen persönlich abzuliefern, von der im
2. Korintherbrief so ausführlich die Rede ist. Man beachte
die in Vers 27 gegebene Motivierung dieser Kollekte: sie
ist die leiblich-materielle Anzeige der Dankbarkeit, die
den Heiden dem Volk Israel gegenüber selbstverständlich
ist. Indem sie jenen leiblich Armen beistehen, bezahlen
sie nicht, aber bezeugen sie die Schuld, in der sie, die
geistlich Armen, jenen als dem Volk des Messias, der
der Welt Heiland ist, gegenüberstehen. Es handelt sich
also nicht um eine Wohltätigkeitsaktion wie irgend eine
andere, sondern um die zur Begründung der einen Kirche
aus Juden und Heiden notwendige feierliche Besiegelung
der ganzen Arbeit des Paulus und eben darum um einen
Akt, den er selber persönlich vollziehen muß. Nachdem er
vollzogen ist, will er jene Reise nach Spanien, die ihn
auch nach Rom führen soll, antreten (v. 28 — 29). Er
mahnt die römische Gemeinde, zunächst seine Reise nach
Jerusalem mit ihrem Gebet zu begleiten. Er wird es nötig
haben, denn er wird ja dort erst recht auf jene „Ungehor¬
samen“ stoßen, auf die Hochburg der ungläubigen Syna¬
goge. Es scheint aber auch seine gute Aufnahme bei den
„Heiligen“, d. h. bei den Aposteln und den anderen Chri¬
sten der Urgemeinde von Jerusalem nicht so gesichert zu
sein, daß er jener Fürbitte nicht bedürfte. Wie Paulus nach
220
dem 2. Korintherbrief bei den Heidenchristen werben
mußte um den freudigen Vollzug jenes Aktes der Dank¬
barkeit, so bei den Judenchristen um ihr Wohlgefallen
an seinem Dienst als Heidenapostel und auch an diesem
besonderen Akte. Es verstand sich nicht von selbst, daß
sie das im Werk des Paulus offenbar gewordene Ver¬
hältnis zwischen Israel und der Kirche ihrerseits anerkann¬
ten und also auch dessen Besiegelung durch jene Kollekte
so aufnahmen, wie sie gemeint war.
In Kap. 16, 1 — 2 wird eine christliche Frau, Phöbe,
der römischen Gemeinde zu gutwilliger Aufnahme emp¬
fohlen. Es ist anzunehmen, daß sie den Brief von Korinth
nach Rom gebracht hat. In der Gemeinde von Kenchreä,
dem östlichen Hafenvorort von Korinth, hatte sie bis dahin
ein Amt versehen, über dessen Art und Umfang wir frei¬
lich nichts Näheres erfahren. Doch wird von ihr gesagt,
daß sie Vielen und so auch dem Paulus selbst ein Bei¬
stand gewesen sei und es wird den Christen in Rom
nahegelegt, ihr das zu vergelten durch Beistand, da, wo
sie selber dessen bedürfen sollte.
Es folgen nun in Kap. 16, 3 — 15 die persönlichen Grüße
des Paulus an eine ganze Reihe von ihm bekannten ein¬
zelnen Gliedern der römischen Gemeinde. Man hat sich
schon gefragt, wie es möglich war, daß Paulus so viele
Personen in dieser fernen Gemeinde kannte und hat auf
diese Frage und im Blick auf gewisse Einzelheiten die
am Anfang unserer Vorlesungen erwähnte Vermutung
begründet, wir könnten es in dieser Grußliste mit einem
Brief oder Briefstück zu tun haben, das ursprünglich an
eine andere, Paulus besser bekannte Gemeinde (man
denkt an Ephesus) gerichtet gewesen sei. Zieht man die
Tatsache in Betracht, daß damals in Rom tatsächlich
Menschen aus dem ganzen Mittelmeergebiet in großer
Zahl zuzureisen und sich niederzulassen pflegten, so ist
es doch nicht ausgeschlossen, daß Paulus es in der dorti-
221
gen Gemeinde tatsächlich mit vielen alten Bekannten aus
dem Osten zu tun hatte. Wie dem auch sei: es ist be¬
merkenswert, daß gerade der Römerbrief als der sach¬
lichste unter allen paulinischen Briefen mit dieser aus¬
führlichen Grußliste zugleich auch den Stempel des per¬
sönlichsten von allen erhalten hat. Die meisten der hier
erwähnten Personen sind uns sonst unbekannt. Wir wis¬
sen von dem in Vers 3 — 4 genannten Ehepaar Prisca
und Aquila, daß sie die Wege des Paulus mehr als ein¬
mal gekreuzt haben; wiederum ist uns nicht bekannt,
wo und wie sie sich für ihn in die in Vers 4 erwähnte
Lebensgefahr begeben haben. Man beachte den Nachdruck,
mit dem von ihnen gesagt wird, daß mit Paulus selbst
alle heidenchristlichen Gemeinden ihnen zu besonderem
Dank verpflichtet seien. Es könnte ferner der in Vers 13
genannte Rufus identisch sein mit dem in Mark. 15, 21
unter diesem Namen erwähnten zweiten Sohn des Simon
von Kyrene. Bei allen übrigen müssen wir uns mit dem
Wenigen und Allgemeinen begnügen, das hier angedeutet
wird. Die in diesen Versen vorkommenden Namen sind
auf Inschriften jener Zeit auch sonst nachweisbar und
zwar bezeichnenderweise fast alle als Sklavennamen: ein
wichtiger Hinweis auf die soziale Zusammensetzung die¬
ser und (nach 1. Kor. 1, 26 f.) sicher nicht nur dieser
Gemeinde. Aristobulus (v. 10) und Narcissus (v. 11),
deren „Leute“ gegrüßt werden, sind offenbar heidnische
Herren, bei denen diese Christen als Sklaven im Dienst
standen. Daß verhältnismäßig nicht wenige Frauennamen
Vorkommen, ist ebenso interessant wie daß sie immerhin
nicht die charakteristische Mehrzahl bilden. Eine von
ihnen, die Mutter des Rufus, (v. 13) hat Paulus „seine
und meine Mutter“ genannt. Indem Andronikus und
Junias (v. 7) und Herodion (v. 11) ausdrücklich als
Stammesgenossen des Paulus, also als geborene Juden
bezeichnet werden, ist anzunehmen, daß es sich bei allen
222
übrigen um geborene Heiden handelt. Man notiere: für
alle diese Leute und Leutlein ist der Römerbrief damals
bei aller „Kühnheit“ offenbar nicht „zu schwer“ gewesen!
Das sachlich Wichtigste ist doch wohl die Tatsache, daß
bei so vielen der Gegrüßten (wie schon bei Phöbe, Prisca
und Aquila) und auffallenderweise gerade bei einigen
Frauen dies hervorgehoben wird, daß sie „für euch“ oder
„im Herrn“ sich gemüht, gearbeitet haben (v. 6 und 12),
daß Urbanus in Vers 9 ein Mitarbeiter des Paulus und
Apelles in Vers 10 ein „in Christus Bewährter“ genannt
werden kann. Man kann diese Grußliste nicht lesen, ohne
den bestimmten Eindruck zu bekommen, daß alle diese
„Geliebten“, „Erwählten“ und „Heiligen“ nicht etwa nur
passiv, empfangend und genießend, erbaut, belehrt, ge¬
tröstet und ermahnt, sondern in eigener Verantwortlich¬
keit, Anstrengung und Opferbereitschaft am Evangelium
teilnahmen. Das Evangelium ist ihre Sache wie es die des
Apostels ist und daraufhin, als aktive Mitträger dieser
Sache werden sie von ihm gegrüßt und angeredet. Das
Persönliche geht nicht unter, sondern es kommt zu Ehren
in dem Gegenüber von Apostel und Gemeinde: aber eben
damit, daß es hier überall „im Herrn“, „in Christus“ seine
Wirklichkeit hat und daß damit wieder nicht bloß ein
Dabeisein, sondern ein allgemeines und besonderes Mit¬
tun bezeichnet ist. Wer etwa der Meinung sein sollte, daß
der Römerbrief zu viel Lehre und zu wenig Leben, zu
viel Worte und zu wenig Taten biete, der lese diese
Grußliste und mache sidi klar: hier, bei den Lesern des
Römerbriefes entschied sich damals und entscheidet sich
bis heute die Frage nach dem der Lehre entsprechenden
Leben und nach den den Worten entsprechenden Taten.
Wer diese Frage stellen will, der soll sie also zuerst und
vor allem an sich selbst richten. So positiv, wie es in dieser
Grußliste sichtbar wird, hat sie sich damals entschieden.
Leben will gelebt, Taten wollen getan sein. Wo das so
223
geschieht, wie es hier offenbar geschehen ist, da kann und
muß dann auch das Andere gelten: Lehre will gelehrt
und gelernt sein. Es dürfte aber auch die Umkehrung
gelten: eben da, wo Lehre gelehrt und gelernt wird, wie
es hier geschehen ist, da kann und wird dann das Leben,
das als solches nicht gut Inhalt eines Briefes sein kann,
wirklich gelebt werden.
In Vers 16 hat Paulus offenbar bereits angesetzt zu
den Grüßen, die er aus seiner Umgebung seinerseits zu
bestellen hat: „Es grüßen euch alle Gemeinden des Chri¬
stus“. Wo das Evangelium evangelisch, apostolisch ver¬
kündigt wird, da grüßt die ganze Kirche aller Zeiten und
aller Orte je die Kirche, die es dann im besonderen hören
darf.
Aber bevor Paulus mit diesem Grüßen fortfährt, unter¬
bricht er sich (v. 17 — 20) mit einer kurzen, leidenschaft¬
lichen Warnung vor einer die Gemeinde von Rom bedro¬
henden Verführung, zu deren Bezeichnung ihm am
Schluß (v. 20) auch der Name des Satan nicht zu hart
ist. Wir kennen den näheren Anlaß dieser Warnung und
die besondere Art der hier erwähnten Versuchung nicht.
Deutlich ist nur dies: es handelt sich um eine Ab¬
weichung eben von der „Lehre, die ihr gelernt habt“, und
um die Entzweiung und das Ärgernis, die durch solche
Abweichung angerichtet werden könnten, vielleicht tat¬
sächlich schon angerichtet sind — gefährlich darum, weil
ihre Urheber ihre Sache mit sdiönen Worten und Segens¬
sprüchen vorzutragen fähig sind. Wer würde da nicht
hören, wenn etwas in seiner Weise „schön“ und „geseg¬
net“ ist? Die Arglosen sind dann immer bereit, „schön“
mit „wahr“ und „gesegnet“ mit „christlich“ zu verwech¬
seln. Wenn Paulus in Vers 18 von denen, die die Ge¬
meinde in dieser andächtigen Weise bedrohen, sagt, daß
sie nicht unserem Herrn Jesus Christus, sondern ihrem
Bauche dienen, so muß man das grobe Wort sicher fein
224
und also dahin verstehen, daß zu dem, was hier „Bauch“
genannt wird, auch das Herz und der Kopf gehört, daß
der „Bauch“ also den sich selbst lebenden und ausleben¬
den Menschen bezeichnet. Daß ihm, dem Menschen und
nicht Christus gedient wird, das war und ist — vom
Römerbrief her gesehen — das falsche aller falschen,
d. h. nur angeblich christlichen Lehre zu allen Zeiten.
Daß die Lehre des Römerbriefs Christus dient, haben
wir gesehen. Alle Abweichung von seiner Lehre wird in
der Tat darin bestehen, daß sie dem Menschen dienen
will. Das also ist es, was nicht geduldet, nicht trotz der
Liebe, sondern gerade wegen der Liebe unter keinen Um¬
ständen geduldet werden kann. Paulus zweifelt nach Vers
19 nicht daran, daß die römischen Christen ihrem bisher
bewiesenen Gehorsam treu bleiben werden. Er ist nicht
besorgt um sie, er freut sich im Gedanken an sie. Er
wünscht ihnen aber die weise Offenheit, die ihnen zur Er¬
haltung im Gehorsam — und die einfältige Verschlossen¬
heit, die ihnen zur Abweisung alles möglichen Ungehor¬
sams nötig ist. Man beachte, daß es hier offenbar nicht um
Diskussionen und Auseinandersetzungen, sondern nur um
Entscheidungen und zwar um (v. 20) „in Bälde“ zu voll¬
ziehende Entscheidungen gehen kann — Entscheidungen,
die die Leser vollstrecken müssen und in denen sie doch
gar nicht zu wählen haben werden: es ist der Gott des
Friedens, es ist der Herr der Kirche, der sie vollstrecken
wird und ihr Vollstrecken wird nur darin bestehen, daß
sie sie als von ihm vollzogen zu anerkennen haben. Wo
das Ja des Römerbriefs einmal gesprochen ist, da kann
es hinsichtlich des Nein zu seinem Gegenteil offenbar kein
langes Fragen geben.
In Vers 21—23 kommen die Grüße aus der Umgebung
des Paulus, zu denen er in Vers 16 ansetzen wollte, zu
Wort: Timotheus, der bekannte Mitarbeiter des Paulus,
drei auch sonst bekannte judenchristliche Freunde, Ter-
225
tius, der den Brief geschrieben, Gajus, bei dem Paulus
wohnt und in dessen Haus sich die korinthische Gemeinde
versammelt, Erastus, der Schatzmeister der Stadt, ein offen¬
bar angesehenes Glied dieser Gemeinde und ein sonst un¬
bekannter Bruder Quartus.
Der in Vers 20 und 24 wiederholte Gruß „Die Gnade
unseres Herrn Jesus Christus sei mit euch Allen!“ faßt
hier wie in den anderen Briefen des Paulus das Ganze in
sich, was er seinen Gemeinden, was er als Apostel über¬
haupt zu sagen hat. Die Gnade unseres Herrn Jesus
Christus ist das Evangelium, das Paulus verkündigt hat
und neben dem es nach Gal. 1, 8 ein anderes nicht gibt.
Daß die Gnade unseres Herrn Jesus Christus mit ihnen
ist, das ist es, was die Christen zu Christen macht.
Hier endigt der Römerbrief des Paulus. Denn was in
Vers 25 — 27 noch zu lesen steht, ist nach äußeren und
inneren Gründen als ein späterer Zusatz von fremder
Hand anzusehen, dessen Inhalt zwar an sich beachtlich,
bedeutsam und lehrreich ist, auf dessen Erläuterung wir
aber schon darum verzichten dürfen, damit das letzte
Wort, das uns hier in den Ohren bleibt, das Wort des
Paulus selbst sei: das sehr einfache und sehr gute Wort
von der Gnade unseres Herrn Jesus Christus, von der er
seinen Lesern wünscht, daß sie mit ihnen allen sein möge!
KARL BARTH
Karl Barth zum Kirchenkampf
Beteiligung • Mahnung • Zuspruch
(Theologische Existenz heute, Nr. 49)
96 Seiten
Dieses Heft vereinigt eine Fülle von Äußerungen Barths. Besonders ein¬
dringlich sind die Briefe an seine ehemaligen Schüler in der Bekennenden
Kirche aus dem Jahre 1937, sein Gutachten zur Frage des „Treueides“ der
Pfarrer, nicht zuletzt der Brief vom Juli 1945 an die deutschen Theologen
in der Kriegsgefangenschaft. Das Heft ist keineswegs ein Erinnerungsstück,
sondern auch für die Kirche heute ein Aufruf zur Sache, zu der Sache, mit
der sie sich vor allem anderen und hauptsächlich zu befassen hat, nämlich
mit der reinen Verkündigung des Wortes Gottes. Das Neueste
Evangelium und Gesetz
(Theologische Existenz heute, Nr. 50)
32 Seiten
Außerhalb jeglichen Lehrgezänks oder politischen Streits steht diese mitten
im heißesten Kampf geschriebene Unterweisung. Sic ist ein leuchtendes
Kleinod. Barth zeigt sich hier als ein Erklärer und Künder göttlicher Gnade.
Ein regsamer Geist, eine eigentümliche, elastische Sprache zeichnet sein lite¬
rarisches Werk aus. Diese kleine Schrift ist nicht nur eine charakteristische
Kostprobe daraus, sie zeigt auch Barths zentrale Position als christlicher
Lehrer der Gegenwart. Neue Zürcher Zeitung
Die Ordnung der Gemeinde
Zur dogmatischen Grundlegung des Kirchenrechts
88 Seiten
Dieser Sonderdruck aus der Kirchlichen Dogmatik, Band IV/2, gehört zu
jenen Abschnitten aus Barths Dogmatik, die wirklich Eingang in die Ge¬
meinde finden müssen. Von dem Axiom her: „Jesus Christus, Haupt der
Gemeinde, von dem das Recht kommt“, entfaltet Karl Barth das Kirchen-
rccht 1. als Dienstrecht der Gemeinde, 2. versteht Barth das Kirchenrecht
als liturgisches Recht, 3. als lebendiges und 4. als vorbildliches Recht. Wol¬
len wir etwas zur Empfehlung dieses Heftes sagen, so müßten wir cs ab-
drucken, d. h., wir empfehlen cs dringend zum gründlichen Selbststudium.
Reformierte Kirchenzeitung
CHR. KAISER VERLAG MÜNCHEN